Über Bedingungen und Möglichkeiten der gegenwärtigen Filmkritik
Die prekäre Lage der Filmkritik besteht darin, dass sie offenbar Kunstkritik ist und sein soll, zugleich aber auch eine Menge mit Kommerz zu tun hat. Nicht um das Selbstverständnis der Filmkritik, sondern um ihre realen Arbeits- und Produktionsbedingungen, soll es daher im Folgenden gehen.
Der öffentliche Diskurs der Filmkultur
Die Bedingungen und Möglichkeiten der Filmkritik: zu kritisieren, bedeutet zunächst einmal, über ihren Rahmen nicht herumzureden, und damit über die Widersprüche im öffentlichen Diskurs der Filmkultur. Damit gemeint ist die filmische Öffentlichkeit als Ganze. Also die Macher, ihre Werke, ihr Publikum und ihre Vermittler – unter anderem Kritiker.
Die Schwächen im öffentlichen Diskurs unserer Filmkultur zeigen sich prägnant in den Vorwürfen, mit denen Filmkritik gern konfrontiert wird, nicht nur in besagtem, die neue Debatte auslösenden Text von Herrn Rohrbach. Diese Vorwürfe sind geprägt von einem grundsätzlichen Ressentiment gegenüber dem Intellektuellen, dem ästhetisch Anspruchsvollen, dem Ungewohnten, dem Komplexen, auch dem Spielerischen, kurz:
gegenüber dem Außergewöhnlichen. Stattdessen ist unsere Filmkultur geprägt von der Sehnsucht nach dem Einfachen, Klaren, Übersichtlichen, leicht Verständlichen. Die Vorwürfe gegenüber der Kritik gehen aber an den wirklich interessanten Fragen vorbei, und offenbaren nur Unsicherheit und Dünnhäutigkeit der Macher, die sich die Kritiker allzu oft lieber zu ihren Feinden zurecht erklären, als sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen – dann müsste man ihnen ja unter Umständen recht geben. Es offenbart sich dabei leider auch der schlechte Geschmack eines filmästhetisch allzu oft uninformierten, auch geistig trägen Publikums, das durch eigene wie fremde Schuld zu wenig kennt – etwa aus der Filmgeschichte, aber auch von dem, was aktuell gesehen werden könnte – und das meist nichts Neues kennen will.
Maskiert sind diese Unsicherheit und Ignoranz aber durch den Gestus des Bescheidwissers. Dem Theaterkritiker vertraut man noch, wie dem Automechaniker oder Wolfram Siebeck – der übrigens mal als Filmkritiker angefangen hat. Aber Filmkritik, glaubt man, kann jeder. Das alles heißt umgekehrt natürlich nicht, dass Kritiker immer Recht hätten. Oder dass mit der Filmkritik alles zum Besten stünde, dass Kritik der Kritik nicht dringend Not täte – ganz im Gegenteil! Filmisch ist das Resultat der erwähnten Sehnsucht nach dem Einfachen dann das, was wir allzu oft in den Kinos sehen müssen: Der typische Konsensfilm. Gehobener Mainstream. Konsequent beherrschen solche Filme das Terrain, während Neid und Ressentiment alles in irgendeiner Weise Außergewöhnliche treffen.
Die Machtergreifung der PR
PR bedeutet Public Relations. Klassische Public Relations könnte man am ehesten als Öffentlichkeitsarbeit oder Pressearbeit übersetzen. Damit gemeint war die Kommunikation etwa eines Unternehmens, seine Selbstdarstellung. Klassische PR-Definitionen ziehen eine scharfe Grenze zu Marketing und Werbung, die das Ziel hat, den Umsatz eines Unternehmens zu steigern. Diese scharfe Grenzziehung hat sich zunehmend aufgeweicht, so wie in der Gesellschaft die Grenzen zwischen Ökonomie und Politik. Heute sind PR und Marketing zunehmend ununterscheidbar geworden, und fallen tendenziell in eins. Dem Ziel, Umsatz zu machen, ist alle Öffentlichkeitsarbeit untergeordnet, jede Kommunikation ist zugleich Marketing und Promotion. Auch Kulturgüter wie Filme sind heute zu Marken geworden, die vermarktet werden, die Kinozuschauer werden umgekehrt als Kunden und Konsumenten betrachtet. Journalisten sind zwar Vermittler, die aber im Idealfall – aus Sicht der Vermarktungsagenten – schon aus dem Status der Neutralität befreit und gleichfalls in Kunden und Konsumenten besonderer Art verwandelt wurden. Die Explosion des Marketings wird begleitet von zunehmender Marktforschung. Auch Filmkritiker sind Objekt von Befragungen, die die Marktchancen eines Produkts (= des Films) ausloten sollen. PR durchdringt zunehmend alles, infiziert jede öffentliche Kommunikation. PR hat die Macht ergriffen. In diesem modernen Sinn soll nun von PR die Rede sein.
Was macht PR? Sie befriedigt die erwähnte Sehnsucht nach dem Übersichtlichen, sorgt für Übersichtlichkeit. Sie führt dazu – so nennt sie das selber – Kampagnen. Kampagne ist ein Ausdruck aus der Kriegskunst. Er bedeutet Feldzug, und genau darum geht es auch. Eine Armee von Kombattanten „macht Meinung“, und auch hier gibt es Generäle, Soldaten, Flächenbombardements. Jeder Film-Journalist ist einem tagtäglichen PR-Tsunami ausgesetzt. Zehn Anrufe, 40 E-Mails und ein halbes Dutzend Postsendungen pro Tag von Presseagenturen sind keine Seltenheit; in manchen Fällen kann man die Zahlen getrost vervielfachen.
Gute PR aus Sicht eines Journalisten ist reine Vermittlungsleistung, eine logistische und inhaltliche Dienstleistung, die an der Sache orientiert ist. Das heißt: Pressevorführungen zu organisieren, möglichst viele sinnvolle objektive, vollständige Informationen bereit zu stellen. Dies kann manchmal auch bedeuten, Journalisten vor übereifrigen Auftraggebern zu schützen. Gute PR zeigt keinen Kadavergehorsam. Gute PR ist umso nötiger geworden, als das sich die Medien in einem Wandel befinden – und nicht zum Besseren. Wir könnten hier die Abschaffung ganzer Redaktionen anführen, die Ersetzung dreier Redakteursstellen durch eine, die Ersetzung einer Redakteursstelle durch den Praktikanten, die ersatzlose Streichung der Position des Film-Redakteurs – zum Beispiel bei der Frankfurter Rundschau, die sich ja als „Oualitätszeitung“ versteht -, die irrsinnige Bereitschaft zum faulen Kompromiss, teilweise zur Korruption.
Im Ergebnis ist PR von einem Angebotsmarkt zu einem Nachfragemarkt geworden. Das heißt: PR offeriert heute nicht mehr ihre Inhalte den Redaktionen, sondern die Redaktionen rufen an und fragen: „Was habt ihr?“ PR organisiert Reisen, Interviews – alles, was früher die Redaktionssekretärin gemacht hat. Zitat einer PR-Arbeiterin: „Ich ersetze redaktionelle Arbeit. Ich nehme das Brainstorming ab, das innerhalb der Redaktionen stattfinden sollte.“ Gute PR gibt es immer weniger. Dafür gibt es schlechte PR.
Schlechte PR ist eine Bewusstseinsindustrie, Fortsetzung des Spin-Doctoring mit anderen Mitteln; sie erklärt, wie Kritiker einen Film finden sollten. Dazu klopft sie Kritiker weich mit Film-Inhalten, die in der PR-Branche intern treffend „werbend wertend“ genannt werden. Dort steht dann „packendes Drama“ und ähnliches so Nichtssagendes wie tendenziöses Blabla. Und endlose Produktionsnotizen, in denen jeder Mitarbeiter von jedem schwärmt. Oder zum Beispiel im Fall des Films Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler ein langer Essay, in dem der sonst geschätzte Kritiker- Kollege Georg Seeßlen – natürlich vom Verleih bezahlt – erklärte, warum man über den Film und in diesem Fall über Hitler lachen darf. All das findet sich im Presseheft des Verleihs und soll nach Möglichkeit zitiert und direkt übernommen werden, es setzt Themen, suggeriert zumindest, worüber man denn schreiben könnte, außer über den Film selber, und in welche Richtung man einen Film diskutieren könnte.
PR fängt dort an, schlecht und unmoralisch zu werden, wo sie die Öffentlichkeit manipuliert, „Meinung macht“. Etwa indem man, wenn Filme bei der Kritik schlecht ankommen, einen Plan B zieht, irgendein Rand-Thema lanciert, damit man möglichst nicht über den Film redet, sondern eben über dieses Thema und so dann nebenbei den Film noch transportiert. Die Aufgabe dieser PR ist Manipulation. Das tun heute fast alle. Ich habe mit sechs PR-Leuten gesprochen, sie alle sagen sinngemäß oder wörtlich: „Mein Job bedeutet Manipulation.“ PR-Agenturen stricken heute Legenden, verbreiten Gerüchte, desinformieren, wo es Not tut. Sie behaupten, sie wüssten etwas nicht, obwohl sie es genau wissen. Sie lügen, wenn es nicht anders geht. Sie setzen Journalisten unter Druck, mal sanft, mit den Mitteln der Verführung und Korruption, aber auch mit aller Härte. Weitere Tätigkeitsbereiche dieser Meinungsmanipulateure und wahren Feinde des unabhängigen Journalismus sind gezielte Einladungen, gelenkte Infos, schwarze Listen missliebiger Kritiker, das Ausbooten bei Interviewplänen, mitunter durch Anschwärzen bei Redakteuren oder öffentlich – grob gesagt: die Gängelung der Kritik durch Angstmechanismen und Einschüchterung.
Das Design der Wirklichkeit
Die andere Seite der PR ist das Design der Wirklichkeit, die Manipulation des Inhalts, den die PR vermarktet. Schauspieler werden von einem Heer von Consultants zu öffentlichen Personen aufgebaut; PR-Agenturen, nicht Interviewpartner und auch nicht immer Verleiher bestimmen zunehmend über Interviewpläne, sie, nicht die Veranstalter über die Besetzung eines Diskussionspodiums – bis zur Ausladung bereits eingeladener Teilnehmer. Hinzu kommen Phänomene wie – dies hat nicht direkt mit Filmkritik zu tun, aber ein bisschen eben leider auch – die zunehmende Boulevardisierung der Öffentlichkeit, die Ersetzung von Filmkritik durch den Boulevard, das heißt durch Starporträts, durch Gaga-Interviews, in denen dann die Schauspieler nur über ihr Privatleben reden, wenn überhaupt, oder wie schön es ist, in Berlin zu sein.
Die PR betreibt die Beeinflussung der Wirkung eines Films durch das Einbetten (und de facto-Neutralisieren) von Kritik in umfangreiche Vorberichterstattung und flankierende Interviews und Hintergrundberichte – die notgedrungen selten kritisch ausfallen, und eventuelle Negativurteile der eigentlichen Besprechung zwangsläufig relativieren.
Soviel ist sicher: An der Schaffung einer offenen Diskussion, an der Herstellung einer Öffentlichkeit, die gut – das heißt umfassend, auch über Nachteile – informiert ist, und die frei entscheidet, haben PR-Agenturen kein Interesse. Wie sollten sie auch? Sie wollen nicht, dass das Publikum frei entscheidet. Sie wollen, dass ein Film „gut rüberkommt“. Natürlich sind längst nicht alle PR-Agenten Zyniker. Aber ihr Stil, ihr Einfluss werden von den Medien selbst und der Öffentlichkeit noch weithin unterschätzt.
Längst frisst die PR-Gesellschaft ihre Kritiker. Im marktorientierten Kampf um Aufmerksamkeit wird das, was freie Öffentlichkeit sein sollte, zur Spielwiese für reines Marketing, und eine schlechte Inszenierung von Wirklichkeit – das so genannte Event, die Image-Arbeit. Ein Vertrauen in die Entscheidungskraft des ästhetischen Publikums existiert nicht, im Gegenteil: Man misstraut dem Publikum. Es bleibt der unberechenbare Rest. Umso wichtiger ist es für die PR, die Filmkritik möglichst berechenbar zu machen.
Kritik der Kritik: schleichende Korruption und offener Opportunismus
Nicht jeder, der sich Filmkritiker nennt, ist auch einer. Manche sind bloße Dienstleister oder Consumer Guides. Die Honorare von Freien stagnieren auf der Stufe der Mitte der 1990er Jahre.
Immer mehr Autoren halten sich am Tropf der Produzenten und Verleiher über Wasser: Viele schreiben Pressehefte und fertigen Electronic Press Kits (EPK), dolmetschen bei Interviews, sind Berater für Produktions- und PR-Firmen, oder wechseln gleich ganz die Seiten. Eine schleichende Korruption.
Im Einzelfall der persönlichen Existenznot ist das kaum jemandem zu verdenken, doch prinzipiell ist es schlichtweg unakzeptabel, und trägt zum Ruin des ganzen Berufstandes bei. Ein Extremfall ist der leitende Redakteur einer sowieso schon branchennahen, absolut unkritischen sogenannten Branchenzeitschrift, der – wie allgemein bekannt – seit Jahren pro Monat mehrere Pressehefte für Verleiher schreibt und über die Platzierung der gleichen Filme in seinem Heft entscheidet. Ein anderes der Fall eines Berliner „Kritikers“, der 2006 für einen Film das Presseheft verfertigte, bei den Regisseurs-Interviews für die Kollegen dolmetschte, um dann noch ein Interview im Radio und eine „Kritik“ in einem Monatsmagazin zu veröffentlichen …
Solche Vorgänge, deren Beispiele man leicht vervielfältigen könnte, haben ihre Ursache in dem augenblicklichen Erosionsprozess der Öffentlichkeit. Solange sich die Mehrzahl der Filmkritiker – insbesondere die Redakteure von meinungsbildenden Medien, die sich Anderes leicht leisten könnten – solche Verhaltensweisen gefallen lässt, und an der schleichenden Korrumpierung ganzer Arbeitssphären und der Kontaminierung öffentlicher Räume durch PR mitarbeitet – durch Verwandlung von Filmkritik in Service von Consumer Guides, durch das Schreiben von Presseheften, vor allem durch die Vermischung von allem – ist die Filmkritik natürlich selbst schuld.