Der WDR-„Filmtip“ als Opposition gegen die große Komplizenschaft der Quotenjäger
von Helmut Merker
Eine Schlüsselszene: Später Nachmittag, nobel eingerichtetes Büro, innen, ein Hollwood-Produzent, jung, selbstbewußt, mitreißend, weist seine beiden Autoren zurecht, die ihm bisher lauter Unfug mit Spiegelfechtereien abgeliefert haben; er fragt: „Gehen Sie manchmal ins Kino?“ Der eine antwortet: „Selten.“ Darauf der Produzent: „Sie sitzen abends erschöpft im Büro“, mit der Geste des Erschöpften: „Das sind Sie jetzt“. Er bricht aus der Rolle des Erschöpften aus und deutet auf die Tür: „Eine Frau kommt herein, er beobachtet sie, sie sieht ihn nicht …“ Er läßt sie quer durch den Raum gehen, sie kniet vor dem Ofen, zieht ein Briefchen Steichhölzer und einige Cent-Münzen aus der Tasche, streift ihre schwarzen Handschuhe ab, hält sie an ein brennendes Streichholz. Plötzlich läutet das Telefon. Alle erstarren. Sie nimmt den Hörer ab, sie sagt: „Ich habe niemals schwarze Handschuhe besessen.“ Sie legt auf. Da sieht man, dass noch ein zweiter Mann im Raum ist, der jede Bewegung der Frau beobachtet … Eine halbe Minute wortlose Spannung; der Rollenspieler setzt sich hin, die anderen lösen sich von der Performance und fragen „Was passiert?“ Und der Held sagt: „Keine Ahnung, ich habe einfach Film gemacht.“
Eine Szene aus den 30er Jahren, in einem Film aus dem Jahre 1975. Ein Medium reflektiert sich selbst, und indem es die Technik vorführt, erhöht es seine Anziehungskraft. Aus dem Nichts erschafft da einer eine neue Welt. Wie die Kamera seinen Bewegungen folgt, wie der Schnitt zwischen dem Darsteller und seinen Zuschauern Distanz und Nähe herstellt. Wie Erstarrung zu Erlösung wird, wie Robert De Niro Träumer und Traumverkäufer ist – als The Last Tycoon (Regie: Elia Kazan). Wie er zwischen den einzelnen Rollen in der erdachten Szene und seiner Rolle des Films hin- und herwechselt, so montiert der Film in rasantem Wechsel Szenen von Film im Film und von der Realität Hollywoods. So hat er „einfach Film gemacht“ – und die Filmkritik sollte aufspüren, wie das geht. Sie kann von einer Szene den Blick aufs Ganze öffnen, aus einem einzelnen Bild aus der Nahtstelle zwischen Traumwelt und Wirklichkeit auf Mythos, Phantasien und Fiktionen des Kinos schließen; sie zeigt, wie Inszenierungskünste und handwerkliche Fähigkeiten funktionieren, um Emotion und Faszination herzustellen. Denn höhere Erkenntnis und tieferes Verständnis der filmischen Mittel sollen das intellektuelle, ästhetische und sinnliche Vergnügen ja nicht mindern, sondern im Gegenteil erhöhen.
Der romantischen Theorie zufolge stellt das Kunstwerk Fragen, und die Kritik kann da nicht mit objektiven Antworten kommen, sondern soll eine subjektive Haltung dazu entwickeln. Dazu gehört also kein fertiges Urteil, sondern die gründliche Auseinandersetzung, der genaue Blick, die Reflexion und die Fähigkeit zur sprachlichen und bildlichen Umsetzung. Im Sinne der Gebrüder Schlegel kommt der Kritik die ehrenvolle Aufgabe zu, in den Geist eines Kunstwerks einzudringen, ihn anderen zu vermitteln und so deren Phantasie zu befruchten, oder, wie André Bazin es fomuliert: „Die Wahrheit in der Kritik ist nicht durch irgendeine messbare und objektive Exaktheit bestimmt, sondern zuerst durch die intellektuelle Anregung, die sie dem Leser gibt. Die Funktion des Kritikers besteht nicht darin, auf einem silbernen Tablett eine Wahrheit zu servieren, die nicht existiert, sondern im Denken und Empfinden derer, die ihn lesen, soweit wie möglich den Schock des Kunstwerks zu verlängern.“
Dies scheint mir eine gute Basis für Filmkritik im Fernsehen zu sein; damit komme ich zu der Sendung „Filmtip“ – und zu einer persönlichen Wendung: ich bin Redakteur dieser Sendung. Von Anfang an (seit dem 4. Januar 1978 mit François Truffauts L’Homme qui aimait les femmes hat sie uns in der Beurteilung von Kollegen unterschiedliche Bewertungen eingebracht, die ich allesamt als ehrenvoll betrachte: „Schule des Sehens“ (Karlheinz Oplustil), „zu cineastisch“ (anonym), „Hochamt der Cinephilie“ (Helmut Merschmann), „zu wenig Service für den ‚normalen‘ Kinogänger“ (Kulturredateurskollegen).
Unsere Sendung hat einige unverrückbare Prinzipien:
Es gibt keine Interviews, in denen Regisseure oder Darsteller ihr Werk noch einmal erklären.
Es ist eine Autorensendung, in der ein Kritiker im Sinne Bazins dem Zuschauer „den Schock des Kunstwerks“ vermittelt.
In jeder Sendung (5 bis 10 Minuten) geht es um die intensive Auseinandersetzung mit einem Film, nicht um die „Vorstellung“ aller Filmstarts.
Grundsätzlich wechseln Ausschnitte und Standphotos, und der Kommentar gehört nicht über Dialogszenen.
Der Blick wird auf filmische Elemente gelenkt: die einzelne Einstellung, der besondere Schnitt, die eine Geste, die Bewegung der Kamera, Licht und Schatten, die Entwicklung eines Schauspielers oder die Variation eines Genres.
Keine Nacherzählung der Handlung, sondern Reflexion darüber, warum ein Banküberfall von Kaurismäki gerade so und nicht anders gezeigt wird (Ariel), warum eine Liebesszene und die Spur eines Flugzeuges aneinandergeschnitten sind (One Night Stand von Mike Figgis), was die Röte des Rots von Almodóvar (Live Flesh), das Rot und Schwarz bei Rivette (Secret Défense) und das Rosa bei Sandrine Kiberlains magischem Musicalauftritt (in Love Me von Laetitia Masson) andeuten, wie die Kamera die Unruhe des Helden (in Daniel Burmans El abrazo partido) oder die meditative Langsamkeit (in Gus Van Sants Last Days) vermittelt.
So wie Literaturkritik wieder Literatur ist, jedenfalls etwas Geschriebenes, so halte ich einen Film für die optimale Form einer Filmkritik, jedenfalls ein Gebilde aus Bildern, Wörtern, Tönen. „Die einzig wahre Kritik eines Films kann nur ein anderer Film sein“ (Jacques Rivette). Und so wie man dem Rezensenten eines Romans keine Wörter oder Zitate verbieten oder vorschreiben kann, so ist es natürlich ausgeschlossen, einer Filmkritik im Fernsehen bestimmte Bilder oder Szenen aus dem Spielfilm vorzuenthalten oder ihr eine bestimmte Auswahl vorzuschreiben. Kurzum: Selbstverständlich muss uns der ganze Film zu Verfügung stehen, wir lassen uns nicht mit einem EPK (Eletronic Press Kit) der Werbeagenturen abspeisen.
Ob man es vielleicht auch ganz anders machen könnte? Ich weiß jedenfalls nicht, wie – und schaut man auf die anderen „Filmsendungen“ im Fernsehen, sieht man nur geballte Ladungen, wie man es nicht machen kann. Zwar gibt es nicht immer weniger Sendungen zum Kino, es gibt nur keine weiteren Filmsendungen (ohne Anführungsstriche). Weitgehend hat der Moderator, diese unselige Fernseh-Erfindung, den Autor abgelöst. Keiner weiß, was ein Moderator bei einer Filmkritik zu moderieren hätte, und er selbst weiß auch so recht nichts mit seiner Rolle anzufangen. So übt er sich einerseits als Schauspieler, der irgendwie den interessierten Zuschauer darstellen soll, und andererseits als Zwerg Allwissend, der in grandioser Selbstüberschätzung seine Zensuren verteilt. Der eine reckt tatsächlich mit Herrschergeste seinen Daumen in die Kamera, der andere hat nie einen der Filme gesehen, die er ansagt, plappert aber gern den Satz: „Dieser Film hatte am letzten Sonntag glanzvolle Premiere, und da durfte ‚Kino Kino‘ natürlich nicht fehlen.“ Die Krönung jedes Kurzberichts ist dann noch die erfolgreiche Jagd nach einem Statement der Hauptdarstellerin von 1 Minute 30.
Das Frühstücksfernsehen stellt uns in vier Minuten drei Filme vor und hat dafür die passenden Etiketten parat, den „Action-Streifen für Zuschauer mit starken Nerven“ oder das „Schmuse-Lustspiel für die ganze Familie“. Die wichtigen Nachrichtensendungen zeigen die wichtigen Gala-Events des deutschen Films, bei denen wichtige Vertreter von Politik und Gesellschaft sich als Film-Kurzkritiker beweisen können. Die nicht ganz so wichtigen Kultur-Magazine werden auf die Filme angesetzt, die ihre jeweiligen Sender mitproduziert haben und denen sie höchste Qualität bescheinigen. Bei der Berlinale wird dann jeder zum Filmkritiker, der Potsdamer Platz ist voll von Fernsehteams für die unübersehbaren Filmfestivalberichterstattungssendungen.
Diese „inflationäre“ Bilderflut vom Roten Teppich hat Helmut Merschmann als „große Komplizenschaft“ dargestellt. Dagegen hat sich Josef Nagel für seinen Sender ZDF tapfer in die Bresche geworfen – und nun wird es niedlich: Die ZDF-Sendung „Neu im Kino“ werde nämlich „ausschließlich mit Filmausschnitten hergestellt“. Das wird schon so sein – bloß wie oft das bloß die notorischen EPK-Ausschnitte sind, wird wohlweislich nicht verraten. So sieht man dann immer dieselben solcherart vorfabrizierten Szenen auf jedem Sender, und dazu passen dann auch die vorfabrizierten Sätze aus den Presseheften. Das mag seine Vorteile haben, daraus wird aber keine Filmkritik. Josef Nagels Frage, ob man denn Film immer als „Kultur“ verstehen müsse, ist längst beantwortet: So viele Anführungsstriche kann man der Kultur gar nicht umhängen, damit der Begriff für ein solches Filmverständnis noch zuträfe. Auf dieser Ebene ist Film längst zur Bühne für Werbetrommelei, Prominentengetue und Talk-Show-Runden über die Gefährdung der Jugend verkommen.
So steht der „Filmtip“ im bewußten Gegensatz zu all jenen „Filmtipps“, die in Morgen-, Mittags-, Boulevard- und Kulturmagazinen flott zusammengeschnipselt wuchern. Die dienen nicht der Kritik, nicht dem Zuschauer, nicht dem Film; der behauptete „Service“ ist nichts anderes als Liebedienerei und besinnungsloses Mitklappern bei aufwendigen Kinokampagnen.
Wieviel dazu auch der einzelne Film-Journalist beigetragen hat, ist fast unerheblich gegenüber dem Stand der Dinge im Fernsehen überhaupt. In die hysterische Quotenjagd passen weder ein kritisches Bewußtsein noch ästhetische Querulanten. Man schaue sich nur einmal an, wann die Filme, um die es geht, noch gesendet werden: am liebsten gar nicht – oder zwischen 25.00 und 27.00 Uhr. Da steht der „Filmtip“ noch ganz gut da (gegen 0.50 Uhr).
Wann immer sich jedenfalls eine Polemik der Branche gegen missliebige Kritiker richtet, gerät bezeichnenderweise nicht das Fernsehen, sondern die schreibende Zunft ins Visier. Wenn die teuren erfolgreichen (aber armseligen) Filme „niedergemacht“, die kostbaren kleinen aber, die im Kino niemand mehr sehen will (also die wertlosen), „hochgejubelt“ werden, dann zeige sich daran, wie falsch die Kritiker schreiben, wie machtlos sie sind. So die Argumentation der „Mächtigen“. (vgl. etwa zuletzt Günter Rohrbachs Aufsatz „Das Schmollen der Autisten“ in: „Der Spiegel“ vom 22. Januar 2007):
Damit können wir gut leben, die Macht des Wortes zeigt sich anderswo als in Zuschauerforschungen, Marktanteilsquotenuntersuchungen, Akzeptanzüberlegungen. Für die Filmkritik hat zu gelten, was Wlliam Shawn, der frühere Chefredakteur des „New Yorker“ formuliert hat: „Wir publizieren nicht für Leser. Wir denken nie ‚Wird das irgend jemandem gefallen oder wird das von wenigen oder von vielen Leuten gelesen?‘ Wir versuchen, das zu drucken, was uns selbst interessiert, worüber wir etwas lernen wollen, was wir amüsant finden. Ich weiß nicht, wer unsere Leser sind und will es auch nicht wissen. Wir denken, wir erweisen den Lesern den größten Respekt, wenn wir nicht versuchen, zwischen ihnen und uns zu unterscheiden.“
Helmut Merker
© VdFk 2007