Unsystematische Gedanken über und Erfahrungen mit Filmkritik im Fernsehen
von Achim Forst
Mitte der 70er Jahre, Freitagnachmittag in der Feuilletonredaktion der Lokalzeitung: Vorbesprechung und Verteilung der Kinostarts. Die freien Filmkritiker brausen los in die ersten Nachmittagsvorstellungen. Danach zurück in die Redaktion, ein Kasten mit 80 bis 100 Zeilen ist frei gehalten worden, Redaktionsschluss in einer Stunde. Mit dem Redakteur wird die benötigte oder angemessene Zeilenanzahl ausgehandelt: Schlechte Filme werden in acht bis fünfzehn Zeilen, frech und schnoddrig oder elegant niedergemacht, großartige Filme (Die amerikanische Nacht, Angst essen Seele auf) bekommen 30, 40 Zeilen oder mehr. So lernen wir, unsere Begeisterung und unseren Ärger schreibend auf den Punkt zu bringen. Die Kunst der pointierten Reduktion – Lernziel meiner Wuppertaler „Creative Writing School“ für Filmkritik. Später, bei den Berliner Stadtmagazinen und beim Schreiben für Filmzeitschriften, lernte und genoss ich, manchmal über große Themen und Filme mit langem Atem, großem Bogen und entsprechender Zeilenzahl schreiben zu können.
Bei den ersten Beiträgen für 3sat war dann auf einmal wieder alles anders: Die „Textstrecke“ der 35 Minuten meiner ersten Dokumentation (über einen lettischen Filmemacher) kam mir furchtbar knapp vor. Immer weiter musste ich den Kommentartext kürzen und hatte dabei das ungute Gefühl, viel zu viele meiner so wertvollen Zusatzinformationen und Reflexionen zu opfern. Doch zum Glück erkannte ich mit Hilfe der erfahrenen polnischen Cutterin den hohen Wert der Selbstbeschränkung. Denn das wollte ich doch: einen Film, in dem der Fluss der Bilder, die Protagonisten und das, was sie sagen, im Mittelpunkt steht, und nicht der Kommentartext. Wie oft hatte ich mich vor dem Fernseher schon über „zugetextete“ Beiträge geärgert, vor allem wenn eindrucksvolle Filmszenen durch den Kommentar kastriert, ihrer Kraft und Atmosphäre beraubt wurden. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass mich die Filmkritik im Fernsehen wieder zurück zu meinen Anfängen als Journalist gebracht hat – im Positiven wie im Negativen.
Filmkritik im Fernsehen: Das ist nicht die Kritik, die sich fiktionalen Fernsehereignissen wie TV-Filmen widmet, sondern – um ohne ästhetische Grundsatzdiskussion den anspruchsvollen Begriff Filmkritik zu präzisieren und zu relativieren – die journalistische Präsentation und Beurteilung von Kinofilmen, wenn auch bekanntlich die meisten deutschen Spielfilme vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen koproduziert werden. Also: Filmkritik im Fernsehen – ist das nicht eine ästhetische Tautologie? So als versuchte man, auf einer Ukulele durch Vorspielen einiger Passagen eines Gitarrenkonzertes die Pracht und Meisterschaft des Werkes vorzuführen? Oder ist im Gegenteil das Fernsehen als audiovisuelles Medium sogar am besten dafür geeignet, mit Bildern und Tönen über die Komposition von Bildern und Tönen zu reflektieren? – Auf diese Fragen kann ich wie der Rabbi in den klassischen jüdischen Witzen antworten. Beide Frager haben Recht: der erste nicht aus ästhetisch-theoretischen Gründen, sondern weil in der täglichen Praxis und Routine der Filmberichterstattung im Fernsehen und wegen der Forderungen nach Servicecharakter, Beitenwirkung und Konsumierbarkeit der Beiträge in der Regel nur Filmausschnitte mit Inhaltsangaben und Zusatzinformationen vorgeführt werden, und die Kritik meist auf der Strecke bleibt. Aber der zweite Frager hat auch Recht, weil einzelne Beiträge und Dokumentationen und die Reihe „Filmtip“ des WDR immer wieder zeigen, dass eine intensive Filmkritik, also eine intensive ästhetische Auseinandersetzung mit Filmen möglich ist. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Bei Sendeterminen spät in der Nacht und äußerst niedrigen Einschaltquoten (deren Ungenauigkeit wegen der kleinen Samples allerdings extrem hoch ist) muss man dann bereit sein, auf den „normalen“ Zuschauer zu verzichten, also auf die Kommunikation der Kritik an ein größeres Publikum.
Bei längeren Dokumentationen, auch bei den Filmtips des WDR, hat der Autor die Möglichkeit, seine Filmausschnitte sorgfältig auszuwählen, zu montieren und mit seinem Kommentartext zu verbinden, Die aktuelle Berichterstattung im Zeitalter der „Electronic Presskits“ (Videokassetten mit technisch sendefähigem Material) aber sieht ganz anders aus: Seine „Filmkritik“ kann der Filmjournalist, wenn er skrupellos und das Presskit professionell produziert ist, aus fertigen Baukastenteilen schnell zusammenschneiden und mit einem Empfehlungskommentarsatz zur Abnahme bringen. Wenn er aber ernsthaft arbeitet, wird es schwerer: Die Szenen, die er verwenden möchte, enthält das Presskit bestimmt nicht, also muss er (wenigstens bei den großen Hollywoodfilmen) seinen Beitrag mit wenigen, manchmal erbärmlich schlecht ausgewählten und geschnittenen Filmszenen bebildern, die dann auch in jedem anderen Sender der Republik zu sehen sind. So versuchen die amerikanischen Majors und ihre deutschen Verleihfilialen die Arbeit der Filmkritiker im Fernsehen dem Berufsbild anzupassen, das sie den Filmjournalisten schon immer zugedacht haben, früher nur nicht durchsetzen konnten: die Herstellung von kostenloser On-Air-Promotion, die möglichst wenig durch eine eigene Meinung oder gar Kritik gestört wird. Dagegen sollen und müssen wir uns wehren, klar. Aber wie? – Indem wir Blockbuster, die auch ohne uns in allen TV- und Print-Magazinen sowieso zum Thema werden, einfach ignorieren?
Ich selbst muss diese Frage nicht beantworten, sondern kann mir in Absprache mit dem zuständigen Redakteur ab und zu einen Film aussuchen, der meiner Meinung nach eine kritische Empfehlung wert ist. So mache ich als Autor bei den 3sat-Kinotipps etwas Ähnliches wie vor Jahrzehnten als freier Mitarbeiter im Feuilleton der Lokalzeitung: Knapp, informativ und stilistisch pointiert versuche ich, Filmkritik im Fernsehen zu produzieren.
Ende 1980, Anfang 1981 veröffentlichte Michael Schwartze, ein brillanter junger Feuilletonredakteur der FAZ, der leider nur wenige Jahre danach starb, unter dem Titel „Wenn der MGM-Löwe brüllt“ (zitiert aus der Erinnerung) einen spitzen Kommentar über den „Ratschlag für Kinogänger“ des ZDF, eine Sendereihe, die unter dem Titel „Neu im Kino“ auch heute noch im ZDF-Programm ist. Jürgen Labenski, Redakteur und Schöpfer der Sendung, war damals empört. Schwartze hatte in seiner satirischen Polemik behauptet, bei der beliebten Sendung handele es sich nicht um Filmkritik, sondern um PR-Maßnahmen, die das ZDF als Dienstleister für die Filmindustrie bereitstelle. – Die Polemik ist noch heute aktuell und auch die Verärgerung der Macher über die Vorwürfe. Denn: Ist eine Auslese aus dem immer größer werdenden Angebot an neuen Kinofilmen nicht auch eine Art von Filmkritik? Die Auswahl eines Films für die Präsentation im Massenmedium Fernsehen beruht ja – zum Beispiel wenn die strategisch geplante Medienhype für einen Blockbuster bewusst ignoriert wird – zumindest auch auf filmkritischen Kriterien. Welcher Redakteur möchte für einen unbedeutenden, missglückten Film wertvolle Sendezeit zur Verfügung stellen, und welcher Zuschauer seine Frei- und Lebenszeit investieren, um zu erfahren, welchen Film er sich nun auf keinen Fall anschauen soll?
So ist die Filmkritik im Fernsehen meist doch dem Guten und Schönen in der Welt des Kinos verpflichtet. Aber ist das wirklich schlimm? – Mir selbst haben Verrisse, auch wenn sie oft unterhaltsamer und brillanter gerieten als die positiven Kritiken, nie so viel Spaß gemacht wie die ausführlichen Texte, mit denen ich Leser für einen unbekanntes Meisterwerk oder einen Regisseur zu begeistern versuchte. Zeige ich damit – laut Günter Rohrbachs aktueller Polemik gegen die Filmkritik im „Spiegel“ – das typische Gefühlsmuster eines Autisten?
Die Geschichte der Filmkritik im deutschen Fernsehen erscheint als eine Art verborgener kultureller Guerillakrieg. Die Guerilla, das waren und sind nach dieser etwas gewagten Metapher die Leute, die dafür kämpfen – sagen wir bescheidener: sich dafür einsetzen – im öffentlich-rechtlichen Apparat Fernsehen zwischen der steigenden Zahl von Spielfilmen, Fernsehfilmen und TV-Serien eine Nische für die kritische Betrachtung des Kinos oder wenigstens für seine journalistische Begleitung zu erobern und zu verteidigen. Betrachtet man die vergangenen 15 Jahre, so erscheint diese Geschichte – wenn man keine rosarote Brille aufsetzt – vor allem von Rückzugsgefechten zu erzählen: Am Anfang, in den 60er und 70er Jahren, bewies ein einsamer Kämpfer, Peter W. Jansen, als Stammkritiker des ZDF-Kulturmagazins „Aspekte“ in seinen Beiträgen, dass Filmkritik im Fernsehen es an intellektueller Genauigkeit sehr wohl mit der Kritik in den etablierten Genres (Musik, Kunst, Theater) aufnehmen konnte, dabei nur meist unterhaltsamer als diese war. Mich und wahrscheinlich viele Kollegen hat Jansen mit seiner Begeisterung für gutes und anspruchsvolles Kino angesteckt und beeinflusst. Das war zu einer Zeit, als das Wort Filmwissenschaft noch in Anführungszeichen gesetzt wurde, weil es an den deutschen Universitäten diese Disziplin noch nicht gab. Zu einer Zeit, als Praktikanten und Hospitanten in den Zeitungsredaktionen von den eigentlichen Kunstgütern (s.o.: Musik, Kunst, Theater) abgelenkt wurden, indem man sie in die neuen Kinofilme schickte, wo sie nach Meinung vieler Redakteure mit ihrem Geschreibe keinen kulturellen Schaden anrichten konnten. (Kein gutes Beispiel, weil es heute nicht viel anders ist?) Dann, in der Zeit nach 68, als Willy Brandt empfahl, mehr Demokratie zu wagen, änderte sich was im deutschen Medienland: Während die Feuilletons der großen Tageszeitungen weiterhin eisern den Status quo der Werte verteidigten – nach dem Motto: Kino ist keine Kunst, sondern Unterhaltung, und Ausnahmen bestätigen die Regel – boten nun mehr Medien mehr Raum für Texte über Film: Der damals noch ausschließlich öffentlich-rechtliche Hörfunk sendete Filmkritiken und -Berichte in den Jugend- und Kulturmagazinen, bald auch in neu geschaffenen Filmsendungen (zum Beispiel „Film im Funk“ im West-Berliner SFB). Und die neuen Stadtmagazine in den großen Städten erschienen mit eigenen, teilweise umfangreichen Kinoteilen;. den größten und trotz vieler Boulevardstories anspruchsvollsten bot das West-Berliner „tip“-Magazin, mit dem ehemaligen Berlinale-Chef und „Zeit“-Filmredakteur Wolf Donner als Hausautor. Im Fernsehen etablierten sich „filmkundliche“ (so nannte man das damals) Sendereihen, vor allem im WDR und im ZDF. Die Reihe „Filmforum“, die dann in den 80er Jahren im neuen Kulturfernsehprogramm 3sat mit „Kennwort Kino“ ein eigenes Format bekam, präsentierte Festivalberichte und Dokumentationen über große Regisseure, vergessene Meisterwerke, neu zu entdeckende Filmländer oder andere Filmthemen. In den 90er Jahren übernahm beim ZDF die ARTE-Spielfilmredaktion die „Filmforum“-Stafette: Es schien jedermann, vom einfachen Redakteur bis zum Intendanten, klar zu sein, dass Film eine Kunst ist und deshalb wie alle Kunstgattungen auch eine entsprechende ästhetisch-kritische Auseinandersetzung verdient. In 3sat wurden viele profilbildende Filmreihen mit begleitenden Filmdokumentationen ausgestrahlt, und die aktuelle TV-Berichterstattung über Kino erreichte in den öffentlich-rechtlichen Sendern ihren Höhepunkt. Das Magazin „Kino Kino“ des Bayerischen Rundfunks wurde immer erfolgreicher, in Hessen waren unter Filminteressierten die „Kinostarts“ mit Joachim Kritz populär, und in 3sat durfte „Kennwort Kino“ eine Zeit lang sogar regelmäßig und live mit Gästen im Studio über die aktuelle Filmszene berichten. Ab 1986 gab es auch in den privaten Kanälen Filmsendungen, die vor allem den Hollywood-Blockbustern mit PR den Weg ebneten und weder quantitativ noch qualitativ zu den bestehenden öffentlich-rechtlichen Angeboten aufschließen konnten und das wohl auch nicht ernsthaft versuchten. Große Ausnahme: das einige Jahre lang ausgestrahlte anspruchsvolle Kinomagazin auf „Premiere“.
Dann begann sich der Wind in den Medien zu drehen: Während die Münchner Kinosendung dank gutem Rückhalt in der Anstalt weiter erblühte, gerieten die „Kinostarts“ im HR unter Druck und wurden innerhalb kurzer Zeit ersatzlos eingestellt. Auch beim Kulturfernsehen wurde genauer als früher auf die Einschaltquoten geachtet, mochten sie sich auch nur um Zehntelprozentpunkte nach unten oder oben bewegen. Und deren Analyse führte immer zu demselben Ergebnis: dass ein Spielfilm, und mag er qualitativ noch so bescheiden sein, die Sendungen über Filme immer um Längen schlägt. Unter den Programmplanern von ARTE in Straßburg setzte sich deshalb schon vor Jahren schnell die Meinung durch, Kinosendungen würden auch die gebildeten Klientel des Kulturkanals nicht genug interessieren. So sendete und produzierte man stattdessen mehr Spielfilme – natürlich nicht untertitelt wie nach der Gründung von ARTE, sondern deutsch und französisch synchronisiert. Bei 3sat wurde „Kennwort Kino“ quantitativ eingeschränkt, dafür begann das neue tägliche Magazin „Kulturzeit“, ab und zu Filme vorzustellen. Außerdem gab und gibt es noch die „Kinotipps“ der Filmredaktion (zur Zeit 40 bis 50 pro Jahr).
Alles Rückzugsgefechte? – Bei ZDF/3sat hoffentlich nicht: Das „Kennwort Kino“-Format wurde im Rahmen einer großen internen Programmkritik für wichtig befunden und zur Weiterentwicklung empfohlen. Zur Zeit wird unter den 3sat-Partnern in Deutschland, Österreich und Schweiz darüber beraten, wie man die Filmsendungen (dazu gehören noch das anspruchsvolle monothematische „Kinomagazin“ des WDR und „Neues von österreichischen Film“) im Programm von 3sat besser sichtbar, also auffindbar machen könnte.
Im deutschen Fernsehen scheint für die Filmkritik also weiterhin Licht am Horizont. Aber um Filmkritik im Fernsehen offensiv zu verteidigen, brauchen wir alle, Redakteure wie Autoren, ein bisschen mehr Mut. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen kann und sollte sich beides leisten: die unterhaltsame Empfehlung für die neueste nette Hollywood-Komödie ebenso wie – manchmal – die ausführliche und formal anspruchsvolle Auseinandersetzung mit einem schwierigen und wichtigen Autorenfilm. Und manchmal sollten wir uns auch trauen, etwas für Deutschland Neues auszuprobieren. Wie zum Beispiel der Filmjournalist Knut Elstermann und Regisseur Detlev Buck, die sich in einer Art „cineastischen Duett“ zehn Sendungen lang über die jeweils neuen Kinofilme stritten – in der Tradition des berühmten amerikanischen Kritiker-Paares Siskel und Ebert. Produziert wurde die Reihe „Cinetalk“ von der RBB-Tochterfirma Dokfilm. Selbst zeigen wollte der RBB die Kino-Talkshow aber lieber nicht und ließ sie von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt im kleinen Privatsender N24 absenden.
Die Medienforschung des ZDF und die Trendforscher haben in der letzten Zeit herausgefunden, dass sich immer mehr Zuschauer in Deutschland angesichts des vielen bunten Klimbims im Fernsehen ein „Re-grounding“ wünschen, das heißt Verlässlichkeit, Orientierung, Ernsthaftigkeit und Substanz, also eine Rückkehr zu anspruchvollen Programmen, mit mehr Erklärung, Analyse und Tiefgang. – Das lässt doch hoffen.
Achim Forst
© VdFk 2007