Notizen zum Kino 3: Filmkritik im Fernsehen

Ein Überblick

von Peter W. Jansen

Ist das Fernsehen das ideale Medium für die Filmkritik schon deshalb, weil es als Medium dem Gegenstand der Auseinandersetzung am nächsten zu sein scheint? The same stuff? Anders als der gedruckte Text, der von Abbildungen nur begleitet und bestenfalls kommentiert werden kann (Abbildungen, die außerdem nur selten dem Filmbild entsprechen, sondern Produkte einer auf Werbung für den Film bedachten – zusätzlichen – Standphotographie sind), ist der „Text“ der Fernseh-Filmkritik im Regelfall der Film selbst. Insofern scheint Filmkritik im Fernsehen „authentischer“ zu sein als Filmkritik in welch anderem Medium auch immer. Genau an diesem Punkt aber setzen die Probleme der Fernseh-Filmkritik ein.

Sie beginnen nicht erst mit der Auswahl der Filmausschnitte, die das „Textmaterial“ der Fernseh-Filmkritik sind. Unter den aktuell gegebenen Bedingungen in den öffentlich-rechtlichen wie den privatwirtschaftlichen Programmen stehen der Filmkritik nirgendwo ausreichende Sendeplätze von hinreichender Dauer zur Verfügung, um wenigstens die jährlich etwa einhundert rezensionswerten Filme des aktuellen Kinoprogramms vorzustellen, einzuordnen und/oder kritisch zu behandeln.

Dabei sind mit „rezensionswert“ nicht nur Filme gemeint, die thematisch oder formal einen innovativen Charakter aufweisen, sondern auch relativ kurzlebige Angebote des Kinomarkts, die aber gleichwohl im Gespräch sind oder Trends des Lebensgefühls abbilden oder verschärfen oder auch initiieren. Wo Tageszeitungen, Stadtmagazine und Hörfunkprogramme jährlich leicht an die 250 Filme besprechen können, kommen die einzelnen Fernsehprogramme auf allenfalls 25 bis fünfzig (meistens gleiche) Filme, was im besten Fall etwa einem Zehntel des tatsächlichen Kinogeschehens entspricht.

Je entschiedener eine auf nur wenige Sendeplätze begrenzte Redaktion darauf setzt, in ihrer Auswahl der zu besprechenden Filme ein Profil erkennen zu lassen (statt sich in der Beliebigkeit des Kinomarkts zu verlieren und mal das eine, mal das andere zu favorisieren); je deutlicher sich das filmkritische Programm als programmatisch zu erkennen gibt; je klarer die Fernseh-Filmkritik (auch) personalisiert ist und Kolumnencharakter gewinnt – desto leichter wird für den Zuschauer die Objektivierung. Und sei es, dass er sich darauf verlassen kann, dass Auswahl und Bewertung zuverlässig nicht seinem persönlichen Kinogeschmack entsprechen; dass ein negatives Urteil für seine Vorlieben eher ein positives Signal sein kann. Wenn es überhaupt zu negativen Bewertungen kommt; denn eine auf wenige Sendeplätze begrenzte Fernseh-Filmkritik wird stets dazu neigen, die beschränkten Möglichkeiten nicht an Filme zu verschwenden, von denen sie nicht viel hält.

Womit ein doppeltes Problem der Fernseh-Filmkritik angesprochen wäre: sie tendiert dahin, die kritische (und negativ urteilende) Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kinofilm und den Massenattraktionen auszugrenzen, und sie muss sich des werbenden Charakters eingedenk sein, den prinzipiell alle Bilder haben.

An der Auswahl der Filmausschnitte ist zu beobachten, dass die unterschiedlichsten Personen unterschiedlichster Redaktionen unterschiedlichster Sender, so frei sie auch in der Wahlmöglichkeit sein mögen (oder gewesen sein mochten), mit verblüffender Regelmäßigkeit beim gleichen Film immer wieder auf die gleichen Ausschnitte verfallen. Das hängt ursächlich mit zwei (und mittlerweile drei) Grundgegebenheiten zusammen: mit der Beschränkung des filmkritischen Beitrags auf eine bestimmte, meist recht kurze Sendedauer, und mit der Tatsache, dass der Spielfilm ein dramatisches Konstrukt mit geradezu regelhaften Zuspitzungen und Höhepunkten ist. Es gibt in jedem (üblichen) Kinofilm Szenen, die mehr „erzählen“ oder vermitteln als andere, es gibt optisch-akustische Highlights, an denen man kaum vorbeikommt, wenn man den Film charakterisieren will. Beides zusammen führt zu einer geradezu zwangsläufigen Konzentration der Aufmerksamkeit auf analoge Szenen.

Hinzugekommen ist seit der Etablierung der kommerziellen Fernsehveranstalter ein weiteres Phänomen, das die Auswahl von Filmausschnitten begrenzt. Verleiher sind immer weniger bereit, Redaktionen den vollständigen Film zur Auswahl von Filmausschnitten zur Verfügung zu stellen. Das hat einerseits mit der nicht unbegründeten Furcht vor dem Ziehen von Raubkopien (Kassetten/DVDs) zu tun, andererseits aber auch mit der Vereinfachung (und Kostenminderung) des Verfahrens durch den Versand von sogenannten EPKs (Electronic Press Kits), die jene vier oder fünf Ausschnitte eines Films anbieten, auf die vermutlich ohnehin die Wahl der meisten Redaktionen gefallen wäre.

Trotzdem ist damit die Freiheit der Filmkritik im Fernsehen erheblich eingeschränkt, und das Massenangebot der für PR oder indirekte Werbung tauglichen Fernsehprogramme erlaubt es den Verleihern oder den für sie tätigen Agenturen, die Arbeitsbedingungen der Fernseh-Filmkritik geradezu zu diktieren. Sie sitzen am längeren Hebel und nehmen es auch in Kauf, wenn ein von ihnen vertriebener Film nicht mehr vollständig gesehen und nur noch ausschließlich nach den EPKs beurteilt wird. Außerdem behalten sie sich in den meisten Fällen das Recht vor, Interviews zu verwalten und zu vergeben. Der direkte Zugang bei Regie- und anderen Stars ist den Medien nahezu grundsätzlich versperrt. Mit den EPKs und RPKs (Radio Press Kit) werden auch Interviews, natürlich kostenfrei, zur „beliebigen“ Bedienung angeboten und – ebenso selbstverständlich wie schamlos – komplette Features oder „Filmbesprechungen“. Redaktionen, die zunehmend Sparzwängen unterworfen werden, geraten in große Versuchung, sich kostenlos zu bedienen. Der Unterschied zwischen redaktionell verantworteter Darstellung eines Films und den von Verleihern/Agenturen in den Fernsehprogrammen (zumal den kommerziellen) gebuchten Werbe-Präsentationen wird immer geringer, die Unterscheidung immer schwieriger.

Das Programmschema der Fernsehanstalten legt die Dauer von Fernseh-Filmkritiken ziemlich starr fest. Demgegenüber können Tagespresse und Fachzeitschriften oder Magazine mit unterschiedlichen Zeilenumfängen und Layout-Varianten dokumentieren, welches Gewicht sie einem Film beimessen. Das Fernsehen (und meistens auch der Hörfunk) kann das nicht. Hier entsteht der Eindruck, dass alles, was gleich lang ist, auch gleich wichtig ist. Dabei bleibt unter anderem unberücksichtigt, dass es „langsame“ und „schnelle“ Filme gibt.

Filme, die wie die von Theo Angelopoulos oder Chantal Akerman oder auch viele von Wenders und Schroeter in ihrer filmsprachlichen Syntax von der Plansequenz geprägt sind, lassen sich in einer auf vier bis sechs Minuten begrenzten Fernseh-Filmkritik so gut wie nicht angemessen darstellen, weil gelegentlich schon eine einzige Szene die Sendezeit füllt, wenn nicht überschreitet. Vergleichbare Probleme treten bei Kinofilmen auf, die im Cinemascope-Format gedreht sind. Die derzeit (noch vorwiegend) gültige Fernsehnorm, die vom Ehrgeiz bestimmt ist, das anders formatierte (gekaschte) Fernsehbild nicht durch Balken oben und unten als weitgehend „leer“ erscheinen zu lassen, lässt eine Wiedergabe von Cinemascope-Filmen im Massstab 1:1 nicht zu. Eine Annäherung an das Cinemascope-Format wird durch das Europa-geförderte 16:9-Bild und die Produktion von Breit“wand“-Fernsehgeräten angestrebt – möglicherweise, ja sicher mit der Folge, dass in Zukunft alle Fernsehbilder in diesem Format gesehen werden und das ursprüngliche Filmformat wiederum verloren geht. Tröstlich daran wäre nur der ein wenig schadenfrohe Gedanke, dass das Fernsehen das Kino eben doch nicht ersetzen kann.

Die Kombination von Filmausschnitten, die den zu besprechenden Film im Idealfall verkürzt darstellt, ist nicht schon die Fernseh-Filmkritik. Das neu zusammengefügte Bildmaterial kann allenfalls die Folie abgeben, auf der sich die (kritische, wertende) Beschäftigung niederlässt. Mit dem Off-Kommentar, der (dagegen wird oft verstoßen) Dialogstellen des Films nicht überlagern sollte, hat der Kritiker eine mehrfache Leistung zu erbringen. Er muss den Film „erzählen“, einordnen und interpretieren, was im besten Fall ein und derselbe Vorgang, ein und dieselbe Textsorte ist. Das kann nur gelingen, wenn der Text auf das Wesentliche und absolut Notwendige begrenzt bleibt; wenn er die verbale Verdoppelung des Bildes meidet, das Bildmaterial nicht „zutextet“ und exakt ausgetimed ist. Filmausschnitte sind auch ein Wert an sich; sie müssen ihre Wirkung möglichst ungestört entfalten können. Das heißt, dass die Textarbeit zu den unverzichtbaren Voraussetzungen einer gelungenen Fernseh-Filmkritik gehört. Sie verlangt großes Sprachgefühl, ein variables Vokabular und die Fähigkeit zur Konzentration.

Fernsehtypisch zu arbeiten aber ist noch etwas anderes: die volle Nutzung der Mittel des elektronischen Mediums. Sie erst bedeutet, das Filmmaterial (die Filmausschnitte; aber auch zusätzliches Bildmaterial wie Standphotos usw.) als Material zu behandeln, aus dem durch die Bearbeitung ein „Text“ wird. Die elektronische Bearbeitung erlaubt ganz neue, im Ausgangsmaterial so nicht sichtbare Bilder und Bildkombinationen. Szenen, Einstellungsfolgen, der Aufbau einer Einstellung, der Mikrokosmos des filmischen Blicks lassen sich analysieren. Es ist möglich, das ganze manipulative Patchwork des Kinoblicks zu entflechten und vor Augen zu führen.

Selbst innovativ werden kann die Fernseh-Filmkritik, indem sie auf Entdeckungsreisen geht – wenn sie sich ihrer Mittel wirklich bedient und sich nicht durch Elektronik und Digitalisierung zur Verselbständigung über den konkret vorgegebenen Film hinaus verführen lässt. Im Extremfall, und er ist nicht selten zu beobachten, werden aus der Fernseh-Filmkritik werbespot-ähnliche Gebilde, die sich in ihrem optischen Angebot wiederum immer weniger von den Produkten der PR- und Werbeindustrie unterscheiden. Die mediengerechte Auseinandersetzung mit Film ist allerdings mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Produktionsmitteln verbunden wie in sonst keinem anderen Medium der Kritik. Eine – neben der Verliebtheit in ihre Mittel – weitere Gefährdung dieser intensiven medialen Beschäftigung mit Film sollte jedoch nicht übersehen werden: Fernseh-Filmkritik kann durch den ihr innewohnenden Gestus des Zeigens didaktisch werden – wenn man das denn eine Gefahr nennen will.

Unterscheidung von allen anderen Medien ist schon durch das Medium selbst, das Bild, vorgegeben. Der gedruckte Text kann im freien Fall der Gedanken (auch des wilden Denkens) die entlegensten Bezüge herstellen, ohne dafür „Belege“ vorweisen zu müssen; er kann Assoziationen (an andere Filme, an andere kulturelle Medien, an andere Lebenszusammenhänge) wachrufen, ohne sie auch zu zeigen. Die Filmkritik im Hörfunk kann unter Verwendung von Musik und/oder Dialog- und Geräuschpassagen mit einem ästhetischen Verfahren, das beim Hörspiel entlehnt ist, den imaginären Raum herstellen, der sich über das Ohr erschließt und intensiver vermittelt als über das Auge, das alle Erscheinungen konkretisieren will. Alles das gleichfalls anzustreben, ist der Filmkritik im Fernsehen, die oft immer noch an dem Vorbild der Zeitungskritik orientiert zu sein scheint, im Prinzip verwehrt. Dagegen aber verfügt sie über ein Feld, das für alle anderen Medien der Kritik ganz und gar unzugänglich bleibt.

Eine Programmkombination von Einzelkritiken unterschiedlicher Dauer an regelmäßig wiederkehrenden Plätzen im Programm mit Film-Magazinen, die sich nicht, mit Blick auf die Einschaltquote, als Informationssendungen mit Unterhaltungscharakter oder als Unterhaltungssendungen mit Informationscharakter (Infotainment) verstehen, könnte eine Perspektive sein. Ob die Fernseh-Filmkritik diese genuine Chance gegen ihre genuine Problematik wahrnehmen kann, hängt allerdings nicht von Bewusstsein, Standard und Willen einzelner Redaktionen allein ab, sondern von grundsätzlichen Programmentscheidungen, die prinzipiell woanders fallen. Wer die Landschaft kennt, wird sich schwer tun, das Feld der Fernseh-Filmkritik blühen zu sehen.

Und wo sie schon blüht(e?), im Fernsehen des WDR mit ungewöhnlich hohem Produktionsaufwand von wechselnden Autorinnen und Autoren dem Medium gerecht praktiziert, sieht sie sich im Lauf der Jahre immer tiefer in die Nacht verschoben, in der Sendedauer verkürzt, in der Anzahl vermindert – und vom endgültigen Aus bedroht. Was hier an unverzichtbarer Substanz für den Film und für das Fernsehen verloren geht, wen kümmert das schon?

Peter W. Jansen
© VdFk 2007

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