Notizen zum Kino 2: Tendenzen zwischen Aufbruch und Radikalität

Die neueste „Nouvelle Vague“ kommt aus Asien
Von Rüdiger Suchsland

Man könnte mit den Farben beginnen. Türkisgrün, sattes Blaugrau, leuchtendes Rot in Tsai Ming-liangs The Wayward Cloud. Honiggelb, neongrün und warme Brauntöne in Wong Kar-wais 2046. Volles Wald- und frisches Bambusgrün in Zhang Yimous The House of Flying Daggers. Das stumpfe Schwarz des Dschungels in Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady, das leuchtende Weiß der Großstadt in Hirokazu Kore-edas Nobody Knows. Fünf Beispiele für ganz unterschiedliche Kinopaletten, fünf Beispiele für den Reichtum des asiatischen Gegenwartskinos. Man könnte ebenso auch auf die Bildgestaltung zu sprechen kommen, auf rasante wie ruhige, aber immer hypnotische Kamerastile, auf Schnitttechniken, die den Zuschauer am Bild festsaugen, auf das Spiel mit Zeitlupen und Beschleunigung. Auf Schauspielergesichter, die einen anblicken, auch noch Stunden, nachdem man das Kino verlassen hat, mal unschuldig und fremd wie die Kinder in Kore-edas Metropolenmärchen, oder vertraut und eine ganze Filmgeschichte mit sich tragend, wie bei Wong Kar-wai, dessen Darstellerinnen Carina Lau, Faye Wong, Zhang Ziyi oder Tony Leung in 2046 eine Aura entfalten, wie sie nur in den Größten des europäischen Kinos ihr Pendant findet: bei Jeanne Moreau, Anna Karina, Oskar Werner. Man könnte noch auf vieles hinweisen – am Befund würde sich nichts ändern: Wenn die Kunst des Kinos in der Kunst besteht, in Bildern zu kommunizieren, Wahrheiten jenseits des Gesprochenen und Erzählbaren zu transportieren, wenn Film nicht nur die Fortsetzung des Romans mit anderen Mitteln ist, wenn Filme dann interessant werden, wenn sie die Kunst des Ungesagten und der Zwischenräume beherrschen, wenn sie bezaubern und Rätsel aufgeben – dann liegt das Zentrum des Weltkinos heute in Asien.

Asien als ästhetische Utopie

Seit es existiert, braucht das Kino immer wieder neue, frische Ideen. Der Einfluss Asiens ist in diesem Zusammenhang nicht völlig neu. Schon in den späten 50ern und noch einmal in den 70ern inspirierte ein Akira Kurosawa das Kino des Westens. Und spätestens seit Mitte 90er die Hongkong-Legenden John Woo und Jackie Chan in die USA übersiedelten, seit sich 1998 Matrix massiv asiatischer Motive bediente, ist der Einfluss breitenwirksam und unübersehbar. Und doch dürften vermutlich, wenn in einigen Jahren einmal die Geschichte unseres Gegenwartskinos geschrieben wird, der Mai 2004 und das Festival von Cannes als ein Wendepunkt in der Geschichte der westlich-asiatischen Kinobeziehungen erscheinen. Sechs von 19 Wettbewerbsbeiträgen kamen aus Ostasien, weitere zwei Filme liefen außer Konkurrenz, nicht mitgezählt diverse kaum minder interessante Werke in den anderen Sektionen und im Markt. In den Monaten zuvor hatten Filme wie Lost in Translation, Last Samurai und die beiden Kill Bill-Filme Quentin Tarantinos bereits den Boden bereitet. In ihnen allen geht es um das Verhältnis des Westens zum fernen Osten, um Befremden und Neugier, um wechselseitige Aneignung der Kulturen. Hierbei zeigt sich, dass der Hochmut im westlichen Blick zunehmend verschwindet, dass Exotismus abgelöst wird durch das Bewusstsein ferner Nähe, im Fall von Kill Bill gar durch cineastische Wahlverwandtschaft. Asien ist nicht nur chic wie selten, in der skeptisch-faszinierten Perspektive des Westens wird es zunehmend zur neuen – nicht nur ästhetischen – Utopie, zu einer besseren Variante der Moderne.

Die „drei Chinas“

Auch im asiatischen Kino dreht sich alles um China, genauer gesagt die „drei Chinas“ – die Volksrepublik, der wirtschaftlich und politisch immer noch weitgehend autonome Stadtstaat Hongkong und die politisch isolierte, ökonomisch umso aktivere demokratische Republik von Taiwan. Seit der Öffnung der Märkte für Filmexporte aus Hongkong und den USA ist die VR China zusätzlich doppelt attraktiver geworden: Als Einfuhrmarkt für ausländische Werke und als billiger Ort zur Filmherstellung. In rasantem Maß nehmen Co-Produktionen, vor allem mit den USA und Korea, aber auch mit Japan und über den versteckten Umweg Hongkong sogar mit Taiwan zu. Damit wird China zum wichtigsten Erzeuger eines neuen Produkts, das in den nächsten Jahren den Weltmarkt umkrempeln könnte: Des „panasiatischen“ Films. Dieser Anspruch prägt das Kino Hongkongs schon lange. Entstanden aus der Notlage der isolierten Kronkolonie kam das dortige Kino mit der Übergabe des Stadtstaats an Peking 1997 in eine künstlerische Krise. Bis heute ist sie nicht völlig gelöst, erscheint gerade die ökonomische Situation der Hongkonger Filmindustrie weiterhin prekär. Produzieren ist in Shanghai und in den Studios des Nordens billiger, und Künstler wandern zunehmend in andere Städte ab. Zudem kommt die Generation der goldenen Ära zwischen 1985 und 1995 endgültig in die Jahre, haben auch jüngere Stars wie Andy Lau und Maggie Cheung die 40 überschritten.  Wie vital und energiegeladen Hongkong Filme trotzdem immer wieder sind, bewiesen zuletzt vor allem Andrew Laus Infernal Affairs-Trilogie, deren zwei Sequels in Berlin ihre internationale Premiere erlebten, sowie der spät entdeckte Johnnie To. Während dieser Genre-Meister in Berlin immer im Forum versteckt blieb, liefen Breaking News und Election 2004/2005 in Cannes im Wettbewerb – eine überfällige Anerkennung, zu der der Berlinale der Mut fehlte. Election handelt von einer demokratischen Wahl – unter Mafiabossen. Sie wird mit allen Regeln der Machtkunst, also mit Gewalt ausgetragen, und doch fällt den ganzen Film über kein Schuss – eine überraschende Pointe für diesen durch seine eleganten Gangstermovies bekannt gewordenen Regisseur. Bittere Rivalität ist bei alldem gebändigt durch Umgangsformen: Disziplin und Tradition halten die Gangstergesellschaft zusammen. To scheint seinen Film in ein Ende münden zu lassen, das im Hohelied auf Ehre und Machoversöhnung Gesellschaft und Gangsterwelt parallelisiert – doch dann kehrt die Gewalt zurück. Breaking News ist eine komplexe Studie über das Verhältnis von Macht und Medien – im Stil eines Gangsterfilms: Kino als Kinese, massive und doch flüchtig leichte Bewegung von Materie durch den Raum. Ein Höhepunkt ist jene Szene, in der die zwei Gangster gemeinsam mit ihren Geiseln ein Mehr-Gänge-Menü zubereiten und essen, und den ganzen Vorgang live ins Fernsehen übertragen. Die Grenzen zwischen Genre und Kunst werden in solchen Filmen eingeebnet.

Wenn Breaking News ein brillant choreographiertes Ballett mit angeschlossener Garküche ist, erinnert 2046 an ein Jazzkonzert in einem verrauchten Keller mit einer hübschen Damentoilette. Dieser Film ist gewiss eher untypisch für das Hongkong-Kino, aber schon jetzt einer der wichtigsten Filme des Jahrzehnts. Nach verhaltener Aufnahme auf dem Filmfestival von Cannes kam er im Jahr darauf in einer stark veränderten Schnittfassung in die Kinos, und wurde allgemein mit euphorischen Kritiken bedacht. 2046 erzählt an der Oberfläche eine unglückliche Liebesgeschichte, darunter bietet er ein Patchwork aus Geschichten und Stilen, die sich aufeinander beziehen, und gegenseitig kommentieren. Damit ist 2046 eine vielschichtige geschichtsphilosophische Reflexion über das Thema Erinnerung und Zeit. Zugleich handelt es sich um einen offen selbstreferentiellen Film, dessen tieferes Verständnis die Kenntnis von Wong Kar-wais Filmen und ihres Darstellungsstils voraussetzt, eine komplexe Passage durch den Film- und Denkraum dieses Regisseurs.

Ein anderer Einzelgänger ist Fruit Chan. sein neuer Film Dumplings war zuerst ein Beitrag für den Omnibus-Film Three, doch lief er mit so viel Erfolg, dass Chan ihn auf Spielfilmformat verlängerte. Vielleicht liegt es an Christopher Doyles Kamera, dass man sich mehr als einmal in einen Wong Kar-wai-Film versetzt fühlt: Ein hochästhetischer Horrorfilm, „sick“ und wunderschön inszeniert zugleich; ein ernstes Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend und Potenz, die in Asien ganz besonders blühen. Und jenseits von Pracht und Ekel um ein paar hübsche Frauenpower-Einlagen bereichert.

Vor allem in der Volkrepublik melden sich auch neue Regisseure mit ihren Debüts zu Wort: Gu Changwei wurde als Kameramann von Zhang Yimou und Chen Kaige berühmt. Seit Debüt Peacock gewann prompt mit dem Spezialpreis der Jury den zweitwichtigsten Preis der Berlinale. Der Film erzählt eine epische Familiengeschichte aus dem China der 70er-Jahre, und sieht mit seinem neorealistischen Touch beinahe aus, wie ein Film der legendären fünften Generation des chinesischen Kinos, zugleich ist er selbstreflexiver und versucht sich mit einer Struktur aus komplexen Zeitsprüngen an neuen Erzählformen. Zum großen Überraschungserfolg der letzten Zeit gehörte Kikexili, Lu Chuans in Tibet spielender Film über eine Bergpatrouille, die Wilddiebe jagt – ein epische Story, in lakonischen Western-Bildern erzählt, zugleich voller politischer Relevanz, indem er die Bergregion Tibets fürs Kino erobert, und den Blick auf die armen anarchischen Zustände in Chinas Südwesten lenkt. Zum Politikum wurde der Film schließlich, indem er Anfang Dezember in Taiwan beim Festival von Taipeh überraschend mit dem „Golden Horse“-Award ausgezeichnet wurde – als erster Film aus der Volksrepublik in der Geschichte dieser „asiatischen Oscars“.

Lu Chuan drehte Low Budget und unter einfachsten Bedingungen. Geringe Kosten und unabhängige Produktion sind nicht nur eine Frage des Geldes. In China, wo Filme von einem – staatlichen – Studio hergestellt und von der Zensur freigegeben werden müssen, ist dies auch eine politische Frage. Wie Lu Chuan, dessen Film auf wahren Geschehnissen Ende der 90er-Jahre basiert, zeigen auch andere junge Filmemacher das Hier und Jetzt. SHIJIE von Jia Zhang-ke findet präzis-poetische Bilder für manche eher depressive Stimmungslagen im China der Gegenwart. Wie Kikexili erobern junge Filme besonders die Provinz: Incence, das Debüt des 27jährigen Pekinger Filmschulabsolventen Xiang Huo erzählt vom Weg eines Mönches der in der nordwestlichen Provinz Geld für eine kaputte Buddha-Statue sammelt. Zhang Jiarui führt in When Ruoma Was Seventeen seine Zuschauer in die südöstliche Bergregion, wo er eine Angehörige der Hani auf einen Fotografen aus der großen Stadt treffen lässt, und an deren Begegnung stellvertretend Land-Stadt-Konflikte austrägt. Alle diese Filme vereinen wunderbare Landschaften und das Interesse für das alltägliche Leben – was beides auch Peacock auszeichnet.

Die Stärke des chinesischen Kinos spiegelte sich beim Festival von Venedig 2005, wo gleich sechs chinesische Filme im Wettbewerb liefen – zuzüglich einer Retrospektive chinesischer Filmklassiker. Der interessanteste Beitrag und wohl einer der klügsten chinesischen Gegenwartsfilme lief aber in einer Nebenreihe: Es ist Ning Yings Perpetous Motion, ein Frauenportrait aus dem Peking der Gegenwart, glänzend in der Einfachheit, der Konsequenz, mit der hier erzählt wird. Ein Hauch von Sex in the City in Peking trifft auf so ernste Themen wie Identitätssuche und Nationenbildung. Was heißt es heute eigentlich, chinesisch zu sein? Der Film bestätigt den Eindruck, dass die Berührungspunkte zwischen Fernost und West größer sind, als man glaubt: Sehr ironisch, knapp an der Zensur vorbei stellt Ning die Generation der 45jährigen vor, die zwischen Tradition und Moderne steht.

Ähnlich ist auch die Zielrichtung kühl-bezwingende Antonioni-Hommage Before Born des wichtigen Independent-Regisseurs Zhang Ming (Weekend Plot). Voller Stilwillen zeigt er ein kommunikationsarmes, zielloses, latent repressives China jenseits des Booms der New Economy in den Metropolen.

Das taiwanesische Kino wird immer noch von den großen bekannten Namen der 80er und 90er dominiert: Hou Hsiao-hsien mit Café Lumière und Three Times sowie Tsai Ming-liang präsentierten neue Filme. Zugleich zeigen Filme wie Splendid Float (Chou Mai Lin) und 20-30-40 (Sylvia Chang) und andere neue Werke, die das Festival von Taipeh präsentierte, dass jüngere Regisseure auch in Taiwan neue Wege gehen.

Japan, Thailand und Korea

An die auf den ersten Blick phlegmatischen, scheinbar profanen Bilder von Tsai und Hou, an Themen die vermeintlich auf der Straße gefunden werden, knüpft der Japaner Kore-Eda an. Sein neuer Film Nobody Knows zeigt vier Kinder, die allein mit ihrer Mutter aufwachsen, ohne je zur Schule zu gehen, abgeschlossen vor de Außenwelt. Man spürt, dass da ein dunkles Geheimnis ist, von dem sie selbst nichts wissen, dass aber ihre Existenz dominiert. Eines Tages ist die Mutter verschwunden, und man erlebt, wie vier Kinder mitten in der modernen Welt verwildern, zurückgeworfen werden in den Naturzustand. Es beginnt eine magische Odyssee der Weltentdeckung, bezaubernd poetisch erzählt… Ein Film, der nachwirkt, und dessen wunderbares Ensemble in Cannes zu recht ausgezeichnet wurde.

Zwei weitere Regisseure aus Japan machten mit ähnlich viel versprechenden Werken wie Kore-Eda auf sich aufmerksam: Bereits mit seinem Debüt Go begeisterte Isao Yukisada 2002 auch auf internationalen Festivals. A Day on the Planet handelt von einer Gruppe von Studenten, die einen gemeinsamen Abend verbringen. Es wird gegessen und viel geredet, im Hintergrund rauscht der Nachrichtenäther und erzählt von einem Mann, der zwischen zwei Häuser eingeklemmt wurde, und von einem an der Küste gestrandeten Wal. Die untergründige Melancholie, die in allem schwebt, ist treffend, und entfaltet in manchen Augenblicken eine bezaubernde Schwerelosigkeit.

Der wohl spannendste japanische Regisseur ist Shunji Iwai. 1995 wurde er mit Swallowtail Butterfly erstmals einem breiteren Publikum bekannt. Auf April Story folgte 2001 All about Lily Chou-Chou – ein Meisterwerk. Bildgewaltig, abwechselnd von Debussy und Techno-Musik untermalt, gelingt Iwai ein virtuoses Filmpoem über Schüler, die sich verzweifelt zwischen Schul-Mobbing brutalsten Ausmaßes, Zwängen durch Lehrer und Eltern und der zögernden, immer wieder in die Irre führenden Suche nach sich selbst, ihren Ausweg im Cyberspace und Fankult einer Sängerin suchen. Sogartig taucht auch der Zuschauer ein in dieses Paralleluniversum, bis Warenwelt und wahre Welt, Liebe und Verzweiflung eins geworden sind. Unter anderem auch ein Film über Popkultur beschreibt der Regisseur ihre opiate Wirkung, zeigt aber auch, dass Pop im besten Fall einen Menschen vor dem Tod retten kann, oder vor noch Schlimmerem. Vor allem versucht Shunji Iwai aber, einen Film zu machen, der die Lebensgefühle seiner Figuren authentisch ausdrückt, ohne Anbiederung und Larmoyanz.

Mit diesem herausragenden Film schlägt der Regisseur einen Ton an, den er auch in seinem neuesten Film, der experimentellen, wunderbar versponnenen Teenager-Geschichte Hana und Alice fortsetzt, und der einem in sehr vielen asiatischen Filmen wiederbegegnet: Nüchtern schauen sie einem Alltag zu, in dem sich altasiatische Tradition und westliche Modernität untrennbar verschlingen, verknüpft sich mit einem genauen, kühl-analytischen Blick auf die Verhältnisse und poetischen Bildern, der Fähigkeit der Filmemacher, auch in schwierigeren Sujets Spannung zu verleihen, und neue Gestaltungswege zu finden. Man wird abwarten müssen, wie sich der Tod von Iwais Stammkameramann Noboru Shinoda im Sommer 2004 auf die Arbeit des Regisseurs auswirken wird. Das „Golden Horse Filmfestival“ von Taipeh widmete Shinoda bereits 2004 eine erste Retrospektive, die deutlich machte, was mit dessen Tod dem japanischen Kino verloren gegangen ist.

Ähnlich wirkungsvoll wie Shunji Iwais Filme ist auch der enigmatische, experimentelle Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul. Der Plot klingt bizarr: Ein schwules Liebespaar geht in den Dschungel. Einer von ihnen wird zum Tiger. Der andere sucht ihn. Der Film mäandert im Raum, Anfang und Titelsequenz erscheinen nach etwa eineinhalb Stunden. Trotzdem wirkt er intensiv, ist auf seine Art am Ende ein Horrorfilm, eine Variation von I Walked with a Zombie. In der zweiten Hälfte ist die Leinwand zu 90 Prozent Schwarz, den alles spielt nachts im Dschungel. Dazwischen viel Grün, Mondlicht. Wichtig ist die Tonspur: Zwar redet keiner, doch man hört das Gezirpe, die Tiere im Urwald, die Bewegungen der zwei Charaktere. Und ganz am Schluss schaut einen der Tiger plötzlich an, das „Heart of Darkness“ ist erreicht. Aus Thailand stammt auch Last Life of the Universe von Pen-ek Ratanaruang. Ein existentielles Drama, das Melancholie und subtilen Witz mischt, und anspielungsreich von einem selbstmordgefährdeten Japaner in Bangkok erzählt. Der Zuschauer wird hinein gesogen in eine surreale Bewusstseinslandschaft, in Trance. Konsumskepsis trifft sich mit zarter Virtuosität. Mit Invisible Waves, der 2006 auf der Berlinale seine Weltpremiere erlebte, konnte der Regisseur nicht ganz das Niveau des Vorgängers halten, Themen und Haltung blieben aber die Gleiche – und die Bilder stammen in beiden Fällen wieder von Wong Kar-wai’s Kameramann Christopher Doyle.

Einen weiteren Akzent setzt das koreanische Kino. Der dem westlichen Publikum bekannteste Repräsentant der Korean New Wave, des Aufbruchs, den das südkoreanische Kino im letzten Jahrzehnt erlebte ist Kim Ki-duk, der mit den Preisen für Samaria und Binjip in Berlin und Venedig gleich zwei Regiepreise bei einem A-Festival enthielt. Vergleichsweise verhalten blieb dagegen die Reaktion auf L’arc, der in Cannes lief. Noch spannender ist das Werk von Park Chan-wook, der nach anderen aufsehenerregenden Filmen (JSA, Sympathy for Mr. Vengeance) mit der furiosen Rachestory Old Boy, einer Art Kill Bill auf Koreanisch, aber voller sozialer Bezüge, in Cannes den zweitwichtigsten Preis gewann, und dessen nicht minder bildgewaltiger Sympathy for Lasy Vengeance in Venedig 2005 das Publikum spaltete.

Korea ist das zu Zeit vielleicht interessanteste Filmland Asiens, das noch im allgemeinen Aufbruch Kinos hervorsticht. Neben Kim und Park gibt es noch eine Handvoll weiterer hochinteressanter Regisseure, die alle zwischen 30 und 45 Jahre alt sind, und das Kino ihrer Heimat in den nächsten zwei Jahrzehnten prägen werden: Ob Bong Joon-ho, der mit Memories of Murder, einer wunderschönen Mischung aus politischer Parabel und Burleske, alle Stereotypen des Serienkillergenres ad absurdum führt, Kang Lone mit seinem Debüt Looking for Bruce Lee!, einem Mord-Thriller, bei dem die erfolgreiche Überführung des Täters die Kenntnis der Filme der Hongkonger-Kung-Fu-Legende voraussetzt, oder Hung San-soo mit seinen ans französische Autorenkino erinnernden ruhigen Liebesgrotesken Turning Gate und Woman Is the Future of Man – es sind visuell bezaubernde Werke, die zugleich in hochintelligenter Weise Geschichte und Gegenwart ihrer Heimat reflektieren. Bei allem in Europa immer noch wirksamen Fremdheitseffekt findet diese neue Generation auch im Westen ein aufgeschlossenes Publikum, das sich von ihren Filmen ganz unmittelbar ansprechen lässt: Atemberaubende, virtuose Bilder, mit denen Emotionen sichtbar gemacht werden – hochkompliziert und doch von unmittelbarer poetischer Kraft.

Resumee: Lob der Leichtigkeit

Was eint nun diese asiatische Ästhetik? Es sind eingängige und leidenschaftliche Filme, von lässiger Leichtigkeit und berauschend origineller Machart. Sie handeln dezidiert von der Gegenwart. Anders als etwa in Filmen aus dem islamischen Kulturkreis, aus Lateinamerika, ja selbst aus Osteuropa, wo alte, im Westen vermeintlich gelöste Probleme dominieren, längst gekämpfte Kämpfe nachgeholt werden, begegnet einen in den Filmen Asiens eine hypermoderne, gleichwohl von der unsrigen völlig verschiedenen Welt. Nationbuilding und Identitätssuche bilden ihr inhaltliches Zentrum, hinzu kommt die Verarbeitung der geschichtlichen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts. Auch hier sind die Berührungspunkte zwischen Fernost und West größer, als es zunächst scheint. In der sehr vertraut scheinenden Melancholie mancher ostasiatischer Filme schlägt sich eine Gegenwart nieder, die ähnlich chaotisch-undurchschaubar und innerlich desorientiert erscheint, wie die eigene, europäische.

Die Bilder in denen von ihr erzählt wird, suggerieren keine Ordnung und Ganzheit, sie sind vielmehr irgendwie verträumt, fragmentarisch und dabei tiefemotional. Ein Zauberreich, das aus Posen und Zeichen zusammengesetzt ist. Sie haben einen buddhistischen Hang zum Ausgleich und zur Negation scharfer Gegensätze. Man trifft selten auf klare moralische Oppositionen, die auch im Konfuzianismus eine wichtige Rolle spielt, und die puritanisch-strenge Scheidung von Gut und Böse, die in früheren Jahren dominierte, ist verschwunden. Die Frauenfiguren der Filme sind aktiver denn je, aber längst nicht mehr „rein“. Malerei beeinflusst die Bildgestaltung spürbar, Pop-Musik die Montage der Bilder. Die Filme vermessen Räume.

Was die Wirkungsweise des asiatischen Kinos vielleicht am besten erklärt, ist ein altes Bild aus der taoistischen Philosophie des Lao-zi: Das Bild des Wassers. Unendlich geschmeidig und wandelbar ist es das am wenigsten dingliche Ding, das, was sich nicht feststellen lässt, und nie unbeweglich wird. Damit zusammen hängt ein Lob der Leichtigkeit, das Gegenteil jener Anstrengungs- und Leistungsethik die im Westen dominiert. Das prägt die Geschichten des Kinos nicht weniger, als das Verhältnis zur Welt. Vor allem aber prägt es die Bilder und ihre Wahrnehmung. Darum scheinen die asiatischen Filme zu schweben, alle Erdenschwere hinter sich zu lassen, und abzuheben in die Gefilde der Kunst.

Rüdiger Suchsland
© VdFk 2006

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