Eine Tagung zur Kultur der Kritik zwischen unterschiedlichen Zwängen
Von Rüdiger Suchsland
Jeder kennt das: Ab und an tut man eben mal etwas, das nicht ganz richtig ist. Eine Notlüge, eine kleines Gegengeschäft, ein bisschen Pfusch. „Das macht doch nichts, das merkt ja keiner“, und wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein – so steht es schließlich schon in der Bibel.
Auch Filmkritiker sind Menschen, und die wenigsten von ihnen sind ohne Sünde. Aber wie lange ist eine Sünde eigentlich klein, und welche Sünden sind unter Kritikern noch gerade erlaubt? Schließlich vertraut ihnen das Kinopublikum, und das soll es auch weiterhin.
Über solche Fragen und das „Ethos der Filmkritik“ drehte sich während des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg im November 2005 eine Veranstaltung des VdFk unter dem provozierenden Titel „Man muss doch sehen, wie man durchkommt …“ Hierin ging es vor allem um die Unabhängigkeit der Filmkritik gegenüber kommerziellem Druck und ökonomischen Verführungen. „Die Kultur der Kritik scheint im Vergleich zu früheren Jahren und anderen Ländern auf den Hund gekommen“ erklärte der VdFk im Vorfeld. Immer häufiger komme es zu fragwürdigem Verhalten – so etwa schreiben Autoren zuerst im Auftrag des Verleihs das Presseheft eines Films, und dann in einem Medium die Kritik zum gleichen Film.
Wo muss hier die Grenze gezogen werden, die die Unabhängigkeit der Kritik wahrt, ohne vor den ökonomischen Zwängen die Augen zu verschließen? In den Beiträgen und Diskussionen der etwa dreistündigen Veranstaltung ging es im Rahmen einer ersten Bestandsaufnahme zum Thema – sie soll in zukünftigen Veranstaltungen vertieft werden – vor allem um den internationalen Vergleich. Dabei zeigte sich, dass deutsche Frontlinien zwischen Traditionalisten und Modernisierern, zwischen politisch engagierter und einer sich neutral und unpolitisch gebenden Filmkritik in anderen Ländern eher noch deutlicher existieren. Engin Ertan (Istanbul) charakterisierte das für die türkische Filmkritik und verwies darauf, dass fast alle türkischen Kritiker in Istanbul leben. In Spanien ist die Landschaft disparater. Wie Wolfgang M. Hamdorf (VdFk-Vorstandsmitglied) in seinem Referat ausführte, wirken hier neben regionalen Differenzen auch die Konfrontationen aus der Zeit der Franco-Ära noch nach. Daher verstehe sich spanische Filmkritik immer noch explizit politisch. Tendenzen zur „Amerikanisierung“ der Kritik sind indes nicht an Länder gebunden: Hollywood-Kino ist das unumstrittene Leitbild für die Mehrheit der Kritiker, Arthouse-Filme werden von jüngeren Kritikern weniger geschätzt und kaum gekannt.
Eine nur scheinbar gegenläufige Entwicklung prägt, so ergab die Diskussion übereinstimmend, die Gegenwart: Einerseits werden Kritiker umgarnt, sollen die Marketing-Interessen der Verleihe bedienen, sollen die Leistungen von Produzenten und Filmemachern, neuerdings auch verstärkt von Drehbuchautoren und Kameraleuten schätzen und öffentlich herausarbeiten. Andererseits werden sie gerade in Deutschland von genau denselben Filmemachern nicht als unabhängige Beobachter und Ratgeber geschätzt, sondern oft genug als lästiges Element und Störenfriede behandelt. Ein markantes und repräsentatives Beispiel hier ist etwa, dass die deutsche Filmakademie sich – im Gegensatz zu entsprechenden Akademien anderer Länder – von vornherein gegenüber Filmwissenschaft und Kritik – die früher etwa über den deutschen Filmpreis mit abstimmten – verschlossen hat. Der Dialog bleibt also schwierig. Quo vadis Filmkritik? Hamdorf: „Diese Fragen und Themen sind nicht neu. Wir dürfen uns eben nicht korrumpieren lassen.“
Rüdiger Suchsland
© VdFk 2006