Teil 2: Burg Theater oder Kommerzielles Kino in der Kleinstadt – Kino trotz allem?!

Ein Kino verwandelt sich: Nino Klingler fährt nach Burg im Jerichower Land und entdeckt ein Kino, bei dem ein Unfallchirurg in der Vorführkabine steht und DEFA-Klassiker zeigt.

Nino Klingler


Im Jahr 2010 hing ein Schild im Eingangsbereich des Burg Theaters in Burg, Sachsen Anhalt: „Kino zu verkaufen“. Bis dahin hatte der 2012 verstorbene Winfried Schlaak den Betrieb ganz alleine und mit jeder Wirtschaftlichkeit spottender Aufopferung betrieben, als Kartenverkäufer, Vorführer und Barkeeper in Personalunion.

Aber 2010 war der Punkt erreicht, da er nicht mehr konnte: Vorführungen mit gerade mal zwei Zuschauern, das Alter, drängende Renovierungen und die bald zwingende Digitalisierung waren zu viel auf einmal. Das Burg Theater war von einem kleinstädtischen Mainstreamkino zu einem „Drop-Out“ geworden, zu einer Spielstätte, die kommerziell weiterzuführen nicht lohnte und die die Kriterien für eine staatlich geförderte digitale Umrüstung nicht erfüllte. Das Ende eines Kinos? In Burg wurde es ein Neuanfang. Aber vielleicht sollte man etwas weiter ausholen.

Während das „große Kinosterben“ vor allem im Westdeutschland der späten 1970er und frühen 80er wütete, verkümmerte die Kinokultur im Osten mit leichter Verzögerung. Nach der Wende wanderten die volkseigenen, oftmals gegen jede wirtschaftliche Rentabilität subventionierten Kinos[1] der DDR großteils in die Treuhand und von da nicht selten direkt in den Bankrott.[2] Und während die in den 1990ern auftauchenden Multiplexe gemeinsam mit der Renaissance des Blockbusters die Zuschauer- und Umsatzzahlen nach langer Flaute wieder empordrücken konnten, siechten die kleineren, privat geführten Kinos vor sich hin. Aber es zeigte sich ja bereits, dass dieses Bild des verschleppten, ewigen Kinosterbens, der mit jeder Saalschließung weiter ausblutenden deutschen Filmkultur, so ganz nicht stimmt.

Denn Untergangsfantasien gibt es, seit das Kino den Nickelodeon-Schaubuden, den großstädtischen Salons und fahrenden Filmunternehmern auf dem Land entwachsen ist. Die um 1910 entstehenden Kinozweckbauten waren ja, in Verbindung mit dem zeitgleichen Aufkommen längerer, komplexer Erzählfilme, selbst Antwort auf die früheste Krise des damals noch anarchisch unbedarften Films, der wie jede künstlerische Mode als Kuriosum einer stets unersättlich nach neuen Reizen gierenden Vergnügungskultur recht bald Geschichte zu werden drohte. Seither redet man vom Kino am liebsten im Modus der Trauerrede. Aus dieser Zeit datiert auch das Burg Theater in Burg, nahe Magdeburg, mitten in Sachsen-Anhalt. Seit 1911 steht dort im Stadtzentrum ein massiver, gemauerter Kino-Zweckbau, nachdem zuvor an gleicher Stelle ein Lichtspieltheater den Flammen zum Opfer gefallen war – wie viele Leben und Gebäude die leicht entzündlichen Silbernitratfilme der Vergangenheit wohl auf dem Gewissen haben? Im Falle Burgs wusste der findige Unternehmer Otto Wohlfahrt allerdings, Kapital aus der Zerstörung seines ersten Kinos zu schlagen: In der Notiz zur Eröffnung des Palast Theaters am 3. Juni 1911 wurde stolz auf die „Feuersicherheit und schnelle Entleerungsfähigkeit des Theaters“ verwiesen.
Seitdem wird im Burg Theater Kino gemacht. Der Bau überdauerte fünf politische Systeme und änderte dreimal den Namen: In der DDR taufte man den arg imperialistisch klingenden Palast in Theater des Friedens um – „auf Vorschlag der Werktätigen“, wie die Entscheidungsträger damals behaupteten. 1985 wurde der Saal, wie es in der Zeit Mode war, in ein Klubkino mit erhöhtem Barbereich im hinteren Bereich umgewandelt. Diese eigenwillige Raumaufteilung hat man in Burg bewahrt, auch wenn das heute Kommunale Kino drum herum seit 2010 mit viel ehrenamtlichem Einsatz und finanzieller Unterstützung aus privaten wie öffentlichen Mitteln beständig modernisiert wurde. Die unverputzte Decke ist provisorisch mit Spanplatten abgedichtet, die Art-déco-Leuchter biegen sich in lang aus der Mode gekommenem Schwung auseinander, das Kartenhäuschen sieht selbst aus wie eine Filmrequisite, der Eingangsbereich aber ist neu gestrichen, hell und offen: Das BurgTheater ist Geschichte zum Durchwandern.

Es ist dabei alles andere als selbstverständlich, dass es das Burg Theater noch immer gibt. Wer vom Burger Bahnhof in Richtung Innenstadt spaziert, dem begegnen allenthalben Zeichen einer mit strukturellen und politischen Veränderungen ringenden Gemeinde. Das erste größere Geschäft heißt Sozialkaufhaus Brauchbar, ein „Beschäftigungs- und Handelsobjekt für langzeitarbeitslose Menschen“. Daneben wirbt eine Videothek mit Discount-Angeboten, die Hauptstraße hinunter hängen in jedem dritten Laden „Zu Vermieten“-Schilder. Wie viele kleinere deutsche Gemeinden – nicht nur im Osten der Republik – kämpft Burg ganz offensichtlich um seine wirtschaftliche Gesundheit. Das Online-Portal wegweiser-kommune.de, wo Kleinstädte nach demografischen und ökonomischen Kriterien in verschiedene Kategorien eingeteilt werden, führt Burg als Beispiel des Typus 9: „Stark schrumpfende Kommunen mit besonderem Anpassungsdruck“. Statistische Kennzeichen dafür sind geringe Kaufkraft, hohe Arbeitslosigkeit und wenige Unter-18-Jährige.

Aber solche Zahlen verzerren mindestens so viel, wie sie zu entschlüsseln scheinen. Das Wetter an einem Sonntag im April ist freundlich, vor einem Eiscafé drängen sich die Familien, und um die Ecke wird im Kino bald Frank Beyers Spur der Steine gezeigt, der lange verbotene DEFA-Klassiker von 1966, mit Manfred Krug als rebellischem Brigadeführer Hannes Balla. Was ist passiert mit dem Burg Theater?

Auf Initiative einiger Burger Studenten, die etwas Wagemut mit dem Wunsch, das Kino zu retten, verbanden, wurde daraufhin der gemeinnützige Verein „Weitblick“ ins Leben gerufen. Heute zählt er 56 ehrenamtlich arbeitende Mitglieder. Sie kümmern sich um alles – vom Instandhalten des Gebäudes, der Filmauswahl, der Mittelbeschaffung bis zum Bedienen der beiden schweren tschechischen 35mm-Projektoren –, um an sechs Tagen in der Woche Kino zu zeigen. In der Projektionskabine ist auf gelben Post-its gemalt, wie der Filmstreifen sicher durch das Gewirr der Spulen geführt wird; im Kassenhäuschen stehen Anweisungen, wie die Zuschauerzahlen richtig in den Computer eingepflegt werden können. So kommt es, dass jemand wie der Unfallchirurg Bernd Goldbach drei- bis viermal im Monat zum Filmvorführer mutiert.

Das Burg Theater ist kein Einzelfall. Auch wenn es verfrüht wäre, von einem Trend zu sprechen: Immer wieder werden unwirtschaftlich oder marode gewordene Spielstätten von gemeinnützigen Vereinen als Kommunale Kinos wieder zum Leben erweckt, zuletzt beispielsweise in Ketsch, nahe Heidelberg. Eine primär kommerziell ausgerichtete Institution wird dabei zu einem genuinen Kulturort, mit allen damit verbundenen Nach- (viel unbezahlte Arbeit) und Vorteilen (Zugang zu zusätzlichen Fördertöpfen und Unterstützung durch die ansässige Bevölkerung und Wirtschaft). So paradox es klingt: In manchen Fällen kann die sich mit der Digitalisierung verschärfende Situation der kleineren Kinos zu einer „Chance“ entwickeln, wie es Fabian Schauren, Vorstand im Bundesverband kommunaler Filmarbeit, vorsichtig formuliert.

Dabei entsteht das Kino als partizipativer Ort neu. Man meint fast, halb Burg wisse einen 35mm-Projektor zu bedienen. Wo ein Betrieb wie die Brennessel eigentlich Dienstleistungen anbietet, zum entspannenden Kinobesuch lädt, bei dem man sich um technische Fragen und den verwirrenden Förderdschungel keine Gedanken machen braucht, da muss das Burg Theater permanent über seine Situation und die anstehenden Probleme und finanziellen Engpässe aufklären. So findet hier, wer der Handvoll sonntagabendlicher Zuschauer des Uralt-Films Spur der Steine zuhört, eine in Sachen Kino bestens informierte Gemeinschaft, die Fragen der Digitalisierung und der Finanzierung miteinander ausdiskutiert. Da unterhält sich ein älteres Paar, nachdem es an der Kasse 50 Cent für das Kino gespendet hat, über das Ende einer Ära und den Zwang, sich pragmatisch nach der neuen Zeit zu richten. Und das Modell ist aufgegangen: Über die Osterferien 2014 bleibt das Burg Theater geschlossen, um digital umzurüsten.[3]

Als ein mit den umliegenden Gemeinden des Jerichower Lands[4] (nur wenige Besucher verirren sich aus Magdeburg hierher) tief verwachsener Kulturort ist man im Burg-Theater verpflichtet, bei der Filmauswahl die diversen ortsansässigen Interessen abzuwägen. Da werden Gassenhauer wie Die unendliche Geschichte (1984) oder Dirty Dancing (1987) gezeigt, aber auch zeitgemäßes Arthouse wie Grand Budapest Hotel (2014). Vormittägliche Kinder- und KitaScreenings werden in Kooperation mit Schulen organisiert, einmal im Monat gibt es für Senioren Kaffee, Kuchen und Kino. Film wird bei solchen Veranstaltungen eher funktional als ästhetisch verwendet. Sonst heißt es ja gerne, Film setze das gewöhnliche Leben in Klammern, lade zur Flucht und zum Träumen ein. Hier aber setzt der Alltag die Filme in Klammern.

Eine Reihe des Burger Kinos namens Film und Gespräch verdient genauere Beachtung. Ab und an werden dort Filme gezeigt, die sich thematisch eignen, um im Anschluss mit Gästen aus Wissenschaft und Politik über die Situation der Gemeinde zu diskutieren. Es sind Filme, in denen Fragen anklingen, die auch die Menschen im Saal bewegen. Ein Beispiel ist Kriegerin (2011), wo der Sachsen-Anhalter Innenminister mit dem vollgepackten Saal in Burg über Probleme von Rechtsradikalismus und Armut in Ostdeutschland debattierte.

Diese Strategie, bei der Programmauswahl eher von den örtlichen Befindlichkeiten als von gegenwärtigen filmkulturellen Debatten auszugehen, hat eine lange Geschichte im kleinstädtischen Kontext. So beschreibt Dieter Helmuth Warstat in seiner Studie Frühes Kino der Kleinstadt[5], das sich mit der Kinokultur in der Ostseestadt Eckernförde beschäftigt, das Phänomen der „Lokalfilme“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Gedreht wurden diese von durchs Land tingelnden Filmunternehmern, die oft Vorführer und Filmemacher zugleich waren: Man drehte ein Dorffest in Eckernförde, entwickelte die Negative in Hamburg, und zeigte die folkloristischen Szenen beim nächsten Besuch in der Gemeinde. Auch bei der Filmauswahl richteten sich die fahrenden Filmleute nach den örtlichen Befindlichkeiten und zeigten im Küstendorf Eckernförde gerne Aufnahmen von Schifffahrt und Fischerei. Der Publikumszuspruch war groß, es gab Wiederholungen der Lokalfilme noch Jahre später: Die Dorfbevölkerung hatte ihre 15 minutes of fame, als sie die Leinwand mit Varieté-Künstlern und Kaiser Wilhelm II. teilen durfte.

Das Motiv des im örtlichen Leben widerhallenden Filminhalts kehrt auch in Giuseppe Tornatores Cinema Paradiso (Nuovo Cinema Paradiso, 1988) wieder – wahrscheinlich der Film zum Thema kleinstädtisches Kino. Auch hier vermischt sich gelebtes Leben in einem sizilianischen Fischerdorf mit Filmthemen, wenn während eines Screenings von Viscontis neorealistischem Klassiker Die Erde bebt (La terra trema, 1948) auf den Platz vor dem Kino geschnitten wird, wo sich die Fischer nächtens anwerben lassen. Später, beim Verlassen des Saals, sprechen die Zuschauer über die Geschichte des Filmes wie über eine Erzählung aus dem Dorf: „Was für ein Blödmann, dass er das Boot gekauft hat.“

Aber Nuovo Cinema Paradiso ist ein doppelbödiger, ein schwelgerischer Film, in dem alle Erinnerungen an die großen Zeiten des Kinos immer schon von Nostalgie und unwiederbringlicher Sehnsucht durchwirkt sind. Tornatore feiert das Kino im Angesicht seines behaupteten Todes: Das Cinema Paradiso fliegt am Ende in die Luft.

In Burg werden im Gegensatz dazu immer noch manchmal Filme gezeigt, die mit dem Leben der Bevölkerung intim kommunizieren. Zum Beispiel die Wiederaufführung des DEFA-Filmes Sabine Wulff (1978) von Erwin Stranka (der am Jugendwerkhof und der Schuhfabrik im Ort gedreht wurde und bei dem viele Burger mitspielten), zu der viele der ehemaligen Statisten das erste Mal seit Langem wieder ins Kino kamen. Oder eben die Entscheidung, auf Wunsch des Publikums in den letzten Wochen vor der Digitalisierung noch einmal Spur der Steine zu zeigen, einen Film, der dem damaligen Regime etwas zu engagiert die unrechtmäßige Einmischung der Partei in die Freiheit von Arbeitern und Liebespaaren kritisierte. Das Publikum in Burg tauscht sich während des Screenings lautstark über manche der im Film angeprangerten Zwänge („Heute muss man drüber lachen“) aus, aber auch über seine andauernde Aktualität („Vieles stimmt auch heute noch“).

Dies scheint eine der maßgeblichen Kontributionen zu sein, die Kino als öffentliche Institution im kleinstädtischen Kontext zu leisten imstande ist: Filme, die schon lange zu wandern begonnen haben, werden für die Dauer eines Abends wieder an einen Ort gebunden. Sie werden sozusagen provinzialisiert. Dies ist die eine wichtige Dimension von Kino in der Kleinstadt: die Provinzialisierung des Filmes durch den Ort.

Die andere könnte man als Öffnung des Ortes durch den Film bezeichnen: Gegenden, deren kulturelles Angebot ansonsten stark regionalistisch dominiert ist, werden durch das öffentliche Aufführen aktueller, in nationalen und internationalen Medien behandelter Filme an weiter reichende Diskurse angedockt. Eine Kinovorführung ist dahingehend etwas anderes als z.B. ein Provinztheaterstück oder ein Konzert des Kirchenchores.

Man könnte die beiden hier vorgestellten Kinos ganz grob diesen beiden Momenten zuordnen, wobei ein kommerziell agierendes Kino wie die Brennessel eher Letzteres aufrecht erhält, mit professionellem Kinobetrieb in einem eher abgelegenen Kontext. Jürgen Bieler macht, um es flapsig zu sagen, großes Kino in der kleinen Stadt. So wird Hemsbach im globalen Dorf des Kinos miteingemeindet. Das Burg-Theater hingegen, das auf die ständige Mitwirkung weiter Teile der Bevölkerung angewiesen ist und wo die Programmauswahl gemeinschaftlich und kompromissorientiert abläuft, holt die Filme eher zu sich, gemeindet sie sich ein.

So steht am Ende die wahrscheinlich naheliegende Einsicht: Kinos sind Heterotopien. Also ein Kreuzpunkt der Diskurse: unternehmerische, technische, ästhetische, topo- und demografische Felder werden übereinander geschichtet, und jedes einzelne Kino macht seine eigene Tiefenbohrung, fördert eine ganz eigene Kombination zutage. Diese Filme, dieses Geschäftsmodell, dieser Projektor, diese Landschaften, diese Bevölkerung.

Wer sich dementsprechend mit Einzelfällen auseinanderzusetzen versucht, darf keinem der Felder von vornherein eine dominante Rolle zuweisen. Sonst erblindet man teilweise und liefert nur verzerrte Beobachtungen. Einige Filmenthusiasten würden vielleicht gerne Kino nach vornehmlich ästhetischen Gesichtspunkten betreiben. Aber für wen? Und andersherum: Wer nur der Stammkundschaft alles recht machen will, der macht kein Kino, sondern bietet Dienstleistung.

Vielleicht könnte man es so zu formulieren versuchen: Kino ist, vielen puristischen Binnenströmungen in seiner Geschichte zum Trotz, immer anti-essentialistisch geblieben. Es ist eine Kompromissangelegenheit, und ein Vermittlungsversuch: Vermittlung zwischen Menschen, Werken und Maschinen. Solche Vermittlung kann sich in verschiedene Richtungen lehnen, aber lehnt sie sich zu weit, purzelt sie aus dem Feld heraus, das man sinnvoll als „Kino“ bezeichnen kann. Dann ist es Geschäft, oder Museum. Das muss beides nichts Schlechtes heißen, aber dazwischen ist viel Raum. Trotz allem, und weiterhin.

Einleitung: Wer beim Film starten will, um über das Kino nachzudenken, wird schon seit Längerem verlässlich enttäuscht.

Teil 1: Brennessel oder Kommerzielles Kino in der Kleinstadt 

 

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 25.08.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.