Groß ist die Konfusion der Filmkritik: Sie hat sich verirrt im Gewühl der Foren, ist unschlüssig geworden, was ihre Themen sind. Aber es gibt Versuche, das Durcheinander zu ordnen. Ein paar Beobachtungen.
Nino Klingler
Was waren das noch für Zeiten, als der in großen Zeitungen publizierende Filmkritiker Karsten Witte auf die Frage: „Was sind die Ziele der Filmkritik?“ ganz frei heraus antworten konnte: „Platz zu gewinnen. Wo ich schreibe, steht nichts anderes mehr.“ Diese Situation ist passé. Filmkritik als professionelle Disziplin (geschrieben von Menschen, die sich hauptberuflich der Sache „Film“ widmen), der man an vorhersehbaren Orten begegnet (in den Feuilletons der Zeitungen, in spezialisierten Magazinen) gibt es zwar noch, aber nur noch als einen Schauplatz des Kontakts von Schrift und Film unter vielen. Drumherum sind lange schon neue Räume entstanden – Kommentarfenster, Blogs, Fanpages, Facebook-Threads –, und damit haben sich die Stimmen, Botschaften und Formen vermehrt. Allein: Die Knotenpunkte des Diskurses sind nicht mehr so leicht zu bestimmen. „Wie soll man eine Debatte führen, wenn alle unterschiedliche Filme schauen?“ fragte Christoph Hochhäusler bei einer Paneldiskussion zum Thema „Filmkritik“ Ende Oktober in Berlin. Man kann ergänzen: Wie kann eine Kontroverse entstehen, wenn alle Unterschiedliches lesen?
How to start a debate?
„Wir blicken mit Sorge auf Film und Kritik.“ Mit diesen Worten begann das „Flugblatt für aktivistische Filmkritik“, das in erster Linie Ausdruck einer Verwunderung war: Es gäbe so viel zu kritisieren, so viel zu debattieren um die deutsche Filmlandschaft, aber irgendwie kommen die Diskussionen nicht ins Rollen. In zweiter Linie sprach aus dem Flugblatt Ernüchterung: Die Kritik, wenn sie auch gefühlt durch die Zunahme an Formaten zahlreicher wird, büßt immer mehr an Durchschlagskraft, an „Platz“ in der öffentlichen Wahrnehmung ein. Und zuletzt war dieses Schreiben ein Aufruf zur Auseinandersetzung, es prangerte (in einer sicherlich manchmal allzu stark von Ressentiments gezeichneten Weise) die Zustände der Szene an: die Infiltration der Kritik durch die Werbung (weil die mehr zahlt), die Zensur der Kritik durch Verleiher (indem man nicht mehr zu Pressescreenings lädt oder Anzeigen von zu „kritischen“ Kritikerseiten entfernt), das mutlose bis korrupte Filmfördersystem (das Durchschnittsfilme bevorzugt und Experimente immer stärker verunmöglicht), die Verwechslung eines zahmen Mid-Budget-Kinos mit einem ästhetisch herausfordernden Alternativkino.
Was fest steht: Die Medienlandschaft, nein, die gesamte soziale, wirtschaftliche, politische Ordnung entgrenzt sich zunehmend. Georg Seeßlen hat die Konsequenzen dieser Entwicklungen für den Binnenbereich Film in seiner schönen Polemik „Nomadische Filme! Nomadische Kritik!“ aufgelistet: Im Windschatten der Flexibilisierung der Formate (Langfilm/Blockbuster/Serie), der Plattformen (Internet/Kino/Festivals), der Protagonisten (Produzenten/Regisseure/Zuschauer) findet eine rasante Umverteilung statt. Immer weniger immer stärker abgeschottete Bereiche des lukrativen Arbeitens mit Film stoßen ein immer größeres Prekariat des alternativen Diskurses nach unten ab.
Wir brauchen gemeinsame Anliegen
Seeßlen orakelt, dass der Filmkritik dabei zwei Räume blieben, von denen einer unwiderruflich dem Ende geweiht und der andere noch nicht voll entwickelt sei: „Einerseits […] die Nische in der Hochkultur, im Feuilleton mit seinem Ressortdenken: Man wird mit diesem untergehen, und offensichtlich scheint die Hauptreaktion darauf das Lamentieren. […] Andrerseits erleben wir die Abwanderung der Kritik ins Netz, wo sie einerseits konsumenten- und milieukonform ist und sich perfekt für eine Mikrostruktur der Vermarktung durch Streuung und Manipulation von Nachrichten eignet, andrerseits aber vergleichsweise und zum Teil extrem intelligente ,Inseln‘ des Diskurses bildet. Diesen Inseln gelingt indes nur sehr selten eine Verbindung zum Festland.“ Als im Netz schreibender Autor stelle ich mir natürlich die Frage, von welchem „Festland“ Seeßlen denn hier spricht – doch nicht etwa von den fossilen Spalten in den Feuilletons? Er schreibt, dass „einem sich entgrenzenden Medium nur ein sich entgrenzender Diskurs angemessen ist“. Aber damit wird – um im Bild zu bleiben – unklar, was Insel, was Festland und was das Meer der unendlich strömenden Meinungen ist.
Doch Kritik muss nicht immer positive Antworten parat haben, wenn ihre Bestandsaufnahme richtig ist. Die Frage bleibt relevant: Wie kann man den uferlosen Diskurs zumindest zeitweilig blockieren, wie kann man sich auf einzelne Themen, wichtige Filme, Trends oder Gefahren verständigen, um arbeitsteilig (denn nicht jeder Kritiker kann alle Aufgaben „der Kritik“ angehen) über sie zu diskutieren? Dies scheint mir eine der Kernaufgaben zukünftiger Filmkritik zu sein: Sich ab und an zu synchronisieren, um gemeinsam mit mehr Wucht auf allen verfügbaren Kanälen ein deutlich umrissenes Problem zu bearbeiten.
Schau dem Gaul ins Maul
Ganz analog zum Problem der sich vervielfältigenden Foren für Kritik hat ihr Gegenstand schon lange begonnen zu verschwimmen: der Monolith „Kinofilm“ ist nur noch in den seltensten Fällen (z.B. Festivals) der ästhetisch interessanteste Bewegtbildtyp. Gleichzeitig generieren Formate, die von der Kritik lange Zeit missachtet und der Medienwissenschaft überlassen wurden (weil man sich im Glanz des großen Films sonnen wollte) immer mehr Aufmerksamkeit: Hobbyvideos, Found-Footage-Kompilationen, Kommentare, Produkt-Rezensionen etc. Hier hat die Kritik verschlafen, sich diesen Entwicklungen rechtzeitig zu widmen. Dabei ist Filmkritik ein reaktives, ein abhängiges Genre. Je stärker sich die Welt der Bewegtbilder flexibilisiert, desto größere Extra-Flexibilität ist von der auf diese Veränderung reagierenden Kritik gefordert: „Als Filmkritiker ist man nie ein richtiger Profi, man wird kein Spezialist, man bleibt ein Amateur, dessen Beruf es ist, parasitäre, hybride Texte zu verfassen“ (Frieda Grafe). Arme Amateure!
Das Verhältnis derjenigen, die Filme machen oder zeigen und denjenigen, die über Film schreiben, ist dabei traditionell ein angespanntes. Die Kritikerin ist die paradigmatische Figur der schlecht erzogenen Beschenkten. Sie schaut dem Gaul immer extra tief ins Maul. Auf Geschenke ist sie nämlich angewiesen, um sich zu entzünden: „Ohne Film keine Filmkritik“. Diese Milchmädchenweisheit führt die produktions- und wirtschaftsseitig geäußerte Kritik-an-der-Kritik gerne an, um Dankbarkeit von der nörgelnden Schreiberzunft einzufordern. Oft gipfelt diese Denkformel in einer beleidigten Verwechslung von Filmschaffenden und -bewertenden: „Dann macht’s doch besser!“ Das ist natürlich Humbug. Ernsthaftes Kunstschaffen braucht professionelle Wahrnehmung ebenso wie letztere eines steten Flusses an Herausforderungen bedarf. Es hat gute Gründe, dass diese Funktionen in Demokratien selten von den gleichen Akteuren erfüllt werden. Nur so kann Kunst politisch werden, das heißt zu einem Gegenstand geteilten Interesses widerstreitender Positionen.
Natürlich gibt es immer Protagonisten, die in beiden Bereichen – Praxis und Kritik – bewandert sind und darum wissen, wie innig und tief die gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit von spannendem Filmschaffen und einer intensiven Auseinandersetzung damit ist. Der kürzlich verstorbene Harun Farocki beispielsweise war ein großer Übersetzer von kritischem Denken in Bilder und vice versa. Der Essayfilm, also die Filmkritik mit filmischen Mitteln, erschien ohnehin einmal als goldene Symbiose. Aber ganz davon abgesehen, dass dieser Begriff eigentlich von Beginn an umstritten war: Auch Essayfilme werden rezensiert. Und schon reproduziert sich die überwunden geglaubte Spaltung auf höherer Stufenleiter. Ich glaube, dass es letztlich eine personelle Trennung der beiden Bereiche braucht, um einerseits inzestuöser Trendbildung und sektiererischem Konsens zuvorzukommen und um andererseits eben den Zwang zur gegenseitigen Anerkennung zu vergrößern; ein Zwang, der sich öffentlich äußern sollte und damit auch anschlussfähig ist für nicht in erster Linie mit Film befasste Stimmen.
Wir brauchen einen Kalender
Aber hier wiederholt sich die oben aufgeworfene Frage, wie man sich auf einen solchen Gegenstand geteilten Interesses einigen kann – und zwar über die Grenzen der Kritik hinweg. Nochmal: „Wir blicken mit Sorge auf Film und Kritik.“ Die Autoren des „Flugblattes“ sehen sich mit allen anderen Protagonisten der Filmindustrie – und auch den Zuschauern, die in vermeintlichem Bilderreichtum ertrinken und dabei doch visuell verarmen! – einer gemeinsamen Aufgabe gegenüber. Seeßlen pflichtet dem bei, wenn er der Filmkritik einen zentralen Ort im weiter gefassten sozialen Feld zuordnet: „Die Krise der Filmkritik ist keine Marginalie in einer allgemeinen politisch-kulturellen Krise in der sozialen und semantischen Beziehung von Filmemachen und Filmesehen.“
Die theoretische Antwort des Flugblattes lautet „Aktivismus“, eine daraus gezogene praktische Schlussfolgerung: eine „Woche der Kritik“ auf der Berlinale, wie es sie in unterschiedlicher Form bei den großen Festivals in Cannes, Venedig und Locarno schon seit langem gibt. Mit diesem Vorschlag, so die Hoffnung der Autoren, begibt sich die Kritik „aufs Terrain“: Sie stellt sich der Herausforderung, ihre Anliegen in Form einer selbstkuratierten Filmreihe dem (oftmals kritisierten) Programm der Berlinale gegenüberzustellen. Es wäre also ein Moment, in dem die von mir eben noch scharf gezogenen Grenzen zwischen den Tätigkeiten temporär aufgelöst würden. Dieser zeitweilige Wechsel der Perspektive könnte die Debatten synchronisieren: Wie der Diskurs Kristallisationspunkte benötigt, um eine Standortbestimmung anzugehen, braucht er einen Kalender mit Daten, an denen man sich gemeinsam trifft und am praktischen Gegenstand (zum Beispiel einer Filmreihe) das größere Ganze in den Blick zu nehmen versucht. Ob die Idee aufgeht, wird sich zeigen müssen.
Fundamente in Frage stellen
Georg Seeßlen geht in dieser Frage zugleich weiter als die Autoren des Flugblattes und bleibt hinter deren Forderung zurück. Einerseits spricht er davon, dass sich die Kritik als „Verbündete an der Seite der Filmemacher und Filmemacherinnen“ stellen solle, er affirmiert also die prinzipielle Aufgabenteilung von Machen und Verorten. Diese Solidaritätsgeste erinnert mich an einen Satz von Enno Patalas, einen der führenden Autoren der Zeitschrift Filmkritik und Unterstützer der Regisseure des Neuen Deutschen Films. Patalas schrieb 1966 mit Blick auf diese Regisseure: „Wir werden weiter die Propagandisten ihrer Chancen, aber nicht die ihrer Versäumnisse sein.“ War der selbsterklärte Propagandist dann noch Kritiker? Fakt ist: Eine so tiefgreifende und reichhaltige Debatte über Film und mit Film, so spannende Werke und so spannende Texte wie in jenen Tagen, gab es in Deutschland wohl nicht noch einmal.
Doch Seeßlen fordert nicht nur Solidarität, sondern ein fundamentales Umdenken dessen ein, was unter „Werk“, „Film“ und „Kritik“ zu verstehen ist. Fast im Widerspruch zu der Bewahrung der Kategorien von Filmemachern und Kritikern sieht er Handlungszwang an allen Fronten. Seine Vision ist die eines „nomadischen“ Films, der nie abgeschlossen ist, der sich im Wandern durch Zeiten und Orte immer neu diskursiv auflädt, der von allen mitgestaltet wird – Zuschauern, Kritikern, Vorführern, vielleicht auch den Filmemachern. Diese Idee jedoch geht mir ab. Denn hier versteckt sich, glaube ich, die Verabsolutierung des Konsums, auch wenn er sich keusch in partizipativen und aktivistischen Appellen versteckt. Denn wenn ein Film nie zu Ende ist, dann ist auch die Rezeption nie zu Ende. Ergo Diktat der ewigen Partizipation, wie sie uns ohnehin schon von allen Seiten abverlangt wird. Ich optiere stattdessen für Rückzugsmöglichkeiten, und damit wohl doch für Distanz. Auch der Diskurs muss Endpunkte haben. Das ist für mich ein großer Vorteil der „veralteten“ Ordnung und ein Grund, sie zu verteidigen: Sie produziert Werke, die irgendwann vorbei sind, die einen Abspann haben. Sogar nach elfeinhalbstunden Lav Diaz. Denn das Denken braucht Zäsuren. Wenn man sich schon institutionell nicht mehr distanzieren kann, dann zumindest zeitweilig. Das ständige Mitgerissen-Werden der nomadischen Filmkarawane Seeßlens verunmöglicht jedoch diese Distanznahme.
Ein frommer Traum?
Ein Letztes: Gegen einen expliziten Aktivismus und gegen die Veränderung aller Verhältnisse drängt sich mir noch die These auf, dass das Filmschaffen durch Kritik indirekt mitgestaltet wird. Dahinter werkelt eine Dialektik von Potenzialen und faktischer Armut der Umsetzung: „Der Film ist gut! Aber die Filme sind böse – wenigstens viele von heute“, schreibt der jüdische Kinobetreiber und Teilzeitkritiker Hans Brodnitz bereits 1926, um dann aufmunternd nachzuschieben: „Aber das darf kein Anlass sein, am Film vom Morgen zu verzweifeln.“ Heute kommt natürlich erschwerend hinzu, dass die Heldentaten vergangenen Filmschaffens wie -schreibens schwer auf unser aller Schultern lasten, die wir uns mit den verschiebenden Rahmenbedingungen der Kulturindustrie abstrampeln. Es gewinnt manchmal eine tragische Komponente, dass wir heute wissen, was Film kann und könnte. Denn es heißt: Wir können allzu leicht enttäuscht werden.
Und dennoch liegt hier vielleicht eine grundsätzliche Hoffnung filmkritischer Interventionen: Dass sich implizit in jeder Äußerung von Unzufriedenheit schattenhaft eine neue Möglichkeit abzeichnet, dass sich in jeder Lobpreisung eines alten Meisterwerks eine Empfehlung für zukünftiges Schaffen verbirgt – und dass dann irgend jemand daher kommt, diese geheime Botschaft entziffert und den zuvor nur erahnten Film dreht. Kritik wäre die „virtuelle Verbesserung des Kunstprodukts“ (Karsten Witte). Diese These ist so schnell aufgestellt wie schwer zu belegen. Karsten Witte zumindest glaubte an ein zeitlich gestaffeltes Wechselverhältnis von Filmemachen und -kritisieren: „Die Kritik geht der Produktion oft voraus. Sie muss den Mangel im öffentlichen Bewusstsein verankern, um Perspektiven für die Produktion zu zeigen.“ Frieda Grafe wiederum war eindeutig skeptischer. Sie zitiert Ezra Pound: „Der wirksamste Kritiker ist der nachfolgende Künstler, der entweder aus dem Weg räumt oder erbt, der über eine Form hinausgeht oder sie erweitert, sie zusammenstutzt oder begräbt.“ Die Konsequenz: „Unsere Nützlichkeit als Kritiker des Mediums ist für die Macher gleich null. Die manchmal zitierte Hassliebe zwischen Machern und Kritikern gibt es für das Kino allein deshalb nicht, weil wir machtlos sind – Machtlosigkeit bekommt dem Schreiben gar nicht schlecht im Unterschied zu dem Gefühl von Nutzlosigkeit, das sehr hinderlich ist.“
Ich mag diesen letzten Satz sehr gerne. Vielleicht, weil ich ihn nicht ganz verstehe. Eine Interpretation ginge so: Eine gute Kritik kann von einer „mächtigen“ Instanz gelesen, gehört und dann aufgegriffen und nützlich gemacht werden. Sie kann Veränderung indirekt beeinflussen, für sich alleine genommen jedoch wird sie nichts verändern. Das ist selbstverständlich eine gemütliche, de facto wahrscheinlich eine feige Haltung. Und doch muss ich mir attestieren: Bislang ist sie die meine gewesen. Sollte ich sie überdenken? Auf diese abwartende, utopistische Position wollen, können sich Seeßlen und die Autoren des „Flugblatts“ nicht zurückziehen. Weil die Gefahr zu groß ist, dass die Kritik wenn nicht nutz- dann zumindest irgendwann gegenstandslos wird. Weil Warten keine Option mehr ist. Vielleicht muss die Kritik also das lernen, was Hollywood so famos beherrscht: „Change everything to stay the same.“
(Erstveröffentlichung: critic.de am 30.01.2014 )
Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.