Wie geht es den Kinos in Deutschland? Nino Klingler sucht nach Antworten in der Kleinstadt. In Hemsbach besucht er die Brennessel und beobachtet, wie Kinos eine Geschichte haben, die umso heller strahlt, je dunkler ihre Zukunft erscheinen mag.
Nino Klingler
Es ist das Frühjahr 2014, eine Zeitenwende ist bald vollzogen. Die von Ländern (Länderförderanstalten), Staat (FFA und BKM), Kinobetreibern und Verleihern gemeinsam gestemmte Digitalisierung der sogenannten Kriterienkinos – Spielstätten, die keinen klassischen Mainstream zeigen und mehr als 8000 Zuschauer pro Jahr und Leinwand aufweisen können – ist nahezu abgeschlossen.
Das Modell funktioniert über einen durch die FFA verwalteten Treuhand-Fonds, aus dessen Topf die technischen Umrüstungen der einzelnen Kinos als Vorschuss bezahlt werden und der dann allmählich durch die sogenannte Virtual Print Fee, eine Abgabe der Verleiher auf die ersten 500 Zuschauer in den ersten drei Wochen nach Filmstart, wieder aufgefüllt werden soll. Doch schon jetzt regt sich Unmut, auch wenn niemand öffentlich dazu zitiert werden will: Die Verleiher scheinen sich um ihren Anteil drücken zu wollen, sie bieten unliebsamen Kinos, deren Position bei den Verhandlungen zur Digitalisierungsförderung den Verleihinteressen zuwiderliefen, die Kopien erst in der vierten Woche an. Eine Interviewanfrage beim Verband der Filmverleiher e.V. hierzu blieb leider unbeantwortet.
Die über 100 Jahre quasi alleinstehende 35mm-Projektionstechnik ist also nicht mehr, oder es gibt sie nur noch als Erinnerungsarbeit mithilfe langsam verblassender Kopien noch nicht digital restaurierter Filme, zum Gebrauch für wenige Kulturkinos und Kinematheken, die um ein Fortschreiben der wechselvollen materiellen Filmgeschichte bemüht sind. Mächtige, schwere Maschinen sind das, umweht von einer spätindustriellen Aura, in mancherlei Hinsicht der Dampflokomotive nicht unähnlich.
Aber 35mm-Projektoren sind eben auch ungeschlagene Alleskönner, die – im Prinzip – von Silbernitrat-Stummfilmen über klassische Hollywoodstreifen bis zu Cinemascope-Epen alles schlucken, alles projizieren können. Dreikommafünf Zentimeter verlässlicher Standard wird heuer abgelöst durch ein Konvolut aus veränderbaren Kompressionsroutinen, Verschlüsselungstechniken, Bildauflösungen, Lampen und Festplatten. Das Digitale verspricht damit, aus Sicht des verlässlichen Zelluloids, zuerst einmal instabile Zukünfte. Wer weiß, ob in zehn Jahren noch 4K-JPEG-2000-Bilder nach DCI-Standard gezeigt werden oder ob James Camerons Avatar 2 nicht alle Kinos dazu verdammen wird, alles wieder auszutauschen?
Nicht wenige sehen daher mit branchentypischer Schwermut nach vorn: Denn der nach mühsamen Verhandlungen schließlich gefundene Kompromiss sichert nur die Erst-Digitalisierung. Was aber wird in sieben, in zehn Jahren sein, wenn es keine staatliche Subventionen mehr geben sollte, wenn die nächste Generation Projektoren noch teurer wird, noch heißer läuft?
Einer derer, die eher pessimistisch nach vorne blicken, ist Jürgen Bieler, Betreiber des Brennessel-Kinos in Hemsbach, ganz weit im Nordosten Baden-Württembergs: „Diese Digitalisierung, so wie sie bisher stattgefunden hat und durchgeführt wird, ist das Ende für die meisten Kinos in Deutschland.“ Zu unberechenbar erscheinen ihm im Vergleich zur „unproblematischen“ 35mm-Technologie die Tücken des Digitalen, zu teuer die Wartung, zu unklar die Folgekosten z.B. für Klimatisierung (wenn der Projektionsraum nicht auf 30 Grad gekühlt wird, verfällt die Garantie der selbstverständlich automatisch temperaturmessenden und datenspeichernden Geräte).
Aber mit nostalgischer Sehnsucht nach dem alten Standard hat Bielers Skepsis nichts zu tun: „Ich verteufel das Digitale auch, aber aus anderen Gründen. Nostalgie ist ja gut und schön, aber wer ist denn nostalgisch? Das sind die Kinobetreiber, das sind die Vorführer. Das Publikum kriegt den Unterschied ja gar nicht mit. Und wenn, dann nur die positiven Seiten. Bessere Bildqualität, kein Ruckeln im Film, bessere Tonqualität, das bekommt man schon mit.“
In solchen Aussagen drückt sich zuallererst eine lebensweltlichen Notwendigkeiten geschuldete Abgeklärtheit aus: Natürlich gibt es eine Magie des Zelluloids, und natürlich ist es wichtig, dass an Orten wie z.B. dem Filmmuseum Wien hingebungsvoll einem positiv unzeitgemäßen, geschichtsbewussten Bild des Kinos gefrönt wird. Aber mit Bielers Einwänden im Hinterkopf muss man diese Positionen pragmatisch als das behandeln, was sie sind: wunderbare Ausnahmefälle, von erhöhter Strahlkraft für Menschen mit bestimmten filmhistorischen Passionen, aber nahezu unerheblich für weite Publikumsschichten, die Kino ja auch und auf ihre Weise lieben dürfen.
Die Brennessel ist wie viele der kleineren Programmkinos ein Ort sich überkreuzender Zeitlichkeiten: Der Schriftzug an der Außenseite („Union-Lichtspiele“) des seit 1927 durchgehend betriebenen Kinos verweist noch auf die UFA-Vergangenheit, die hölzerne Bestuhlung und Wandtäfelung im Foyer entstammen der gleichen Zeit, aber der einstmals große Saal ist zwischenzeitlich in zwei kleinere geteilt worden, und das nostalgische Ambiente insgesamt existiert eben parallel zum technologischen Status quo.
Das dem Dinosaurier Kino heutzutage fast überall anhaftende anachronistische, nostalgische Flair ist im Falle des Brennessel-Designs gänzlich kaufmännischen Erwägungen zu verdanken: Einerseits seien Renovierungsarbeiten, wie Bieler unumwunden zugibt, für ihn nahezu unbezahlbar, andererseits ergebe sich durch diese spezielle Atmosphäre quasi automatischer Distinktionsgewinn gegenüber den verhassten Multiplex-Kinos: „Diese Räumlichkeiten sind so schön. Warum soll ich das verzweifelt kaputtrenovieren?“
Kinos in Kleinstädten, darunter stellt sich das urbane Volk wahrscheinlich zuallererst gesichtslose Multiplexe vor, neben Einkaufszentren, die an Autobahnabfahrten liegen. Die im Zuge der westdeutschen Gemeindereform stark beschleunigte Suburbanisierung des Landes, die aus einst dörflich geprägten Gemeinschaftsteppichen weite Transitflächen zwischen metropolischen Kulturzentren machte, hat diesem Typ Kino den Weg geebnet. Und für traditionsfeste Kinoliebhaber ist das Multiplex wohl das, was manchem Cinephilen der US-amerikanische Blockbuster ist: großspurig, anonym, fabrikabfertigungslogisch, auswechselbar und insgesamt irgendwie kulturlos. Und vielleicht gerade deshalb auch wieder faszinierend. Eine Herausforderung. Denn wie der künstlerische Film in einer amour fou stets mit Hollywood verbunden war, weil er aus einer behaupteten Andersartigkeit und Abgrenzung einen Gutteil des eigenen Profils gewann, so hört man auch von Betreibern kleinerer Programm- und kommunaler Kinos beständig den Negativverweis auf die Multiplexe, um das eigene Fortbestehen dringlich erscheinen zu lassen.
Denn was aus der Zeit gefallen scheint wie das nach Weimar schmeckende Brennessel-Interieur, das kann man, wie Bieler es tut, eben auch als „zeitlos“ betrachten. Und genau hier zeigt sich, wie selbst ein professionell pessimistisch denkender Geist ganz locker einen Ausweg aus dem Mythos des Kinosterbens beschreibt: Es gibt Kontinuitätslinien, störrisch fortexistierende physische Fakten, die jedes bestehende Kino erhaben machen über die Aufgeregtheiten der Zeiten. Die Kinos haben Geschichte, und die strahlt umso heller, je dunkler ihre Zukunft erscheinen mag.
In etwa so funktioniert das, was Frank Kermode „apokalyptisches Denken“[1] nannte und was die Kinowissenschaftlerin Deb Verhoeven später auf den unsterblichen Mythos vom Kinosterben gemünzt hat[2]: Das unablässige Beschwören des bevorstehenden Untergangs ist die beste Weise, ihn zu verhindern. Die Katastrophe vorauszusagen ist zuallererst eine strategische Fiktion des day-to-day, die dafür eingesetzt wird, das eigene Handeln sinnvoll erscheinen zu lassen und in die amorph und unfassbar verfließende Zeit einzuschreiben. Wer gegen das Ende ankämpft, der hat eine genau bestimmbare Position im geschichtlichen Jetzt, der verweist auf einen genau bestimmbaren Anfang. Insofern ist eine Position wie die Bielers, wenn man sie verallgemeinert, ziemlich produktiv, um erst einmal weiterzuarbeiten.
Aber über solche Makrobeobachtungen sollte nicht vergessen werden, dass, selbst wenn das Ende des Kinos vielleicht so lange nicht eintreten wird, wie man es nur beschwört, das Ende eines Kinos mit viel Einsatz und jeden Tag verhindert werden muss. Das heißt im Falle der Brennessel: Man muss ein Publikum finden.
Das gediegene Ambiente von Bielers Kino steht dabei in einem beredten Verhältnis – Henne oder Ei – mit einem seit Längerem dokumentierten demografischen Wandel des Programmkinopublikums: Dieses wird zum einen älter. Vergleicht man die von der FFA veröffentlichten Statistiken zum Programmkino von 2002 und 2012, dann verlagert sich das Alter der größten Zuschauergruppe von den 30-39-Jährigen auf die „Ü50er“. Da es sich dabei wahrscheinlich in Teilen um dieselben Besucher handelt, die mit den jährlichen Erhebungen gealtert sind, kann von großer Treue der einen Generation und von mangelndem Nachrücken der folgenden ausgegangen werden. Man kann sich das so erklären, dass solche Menschen, die in ihrer Jugend viel im Kino waren und die vom Aufkommen des Blockbusterkinos individualbiografisch ungünstig in ihren frühen Erwachsenenjahren vergrault wurden, an Orten wie der Brennessel das Kino ihrer Jugendtage bewahrt finden oder eben wiederentdecken können.
Und es gehen immer mehr Frauen in Programmkinos (für den gleichen Zeitraum 54 % (2002) versus 58 % (2012), was damit zu tun haben könnte, dass Frauen ohnehin mehr kulturelle Unternehmungslust als Männer an den Tag legen und dass Liebhaber-Kinos wie die Brennessel eben primär als kulturelle Orte wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung ist nicht nur eine Strategie der Filmwirtschaft, den kriselnden Kinos ein neues Profil zu verleihen, sondern ist auch politisch seit Längerem gefördert: So setzte sich Ex-Kulturstaatssekretär Bernd Neumann für das Kino als „Kulturort“ ein, und so steht es auch auf Seite 95 des Koalitionsvertrages von CDU und SPD – allerdings im Abschnitt „Medien“, nicht „Kultur“. Auch Jürgen Bielers Publikum, das sich in Multiplexen „unwohl“ fühle, ist „eher älter, eher weiblich“, meist von gehobenem Bildungsstand und – ganz wichtig – per Auto mobil.
Hemsbach liegt an den äußersten Rändern der wirtschaftsstarken Rhein-Neckar-Metropolregion, genau an der Kante, wo sich die bügelbrettflache Oberrheinebene ins Mittelgebirge des Odenwalds erhebt. Mit Heidelberg und etwas weiter entfernt Mannheim gibt es kulturell aktive Städte, die einen Gutteil des potenziellen Brennessel-Publikums an sich binden. Doch die A5-Ausfahrt ist nicht weit, die stark befahrene B3 führt direkt am Kino vorbei, und aus den Gemeinden Richtung Darmstadt im Norden und Richtung Worms im Westen kommen viele nach Hemsbach. So ist die Brennessel eine Art unfreiwilliges Autofahrer-Kino, denn der letzte Zug aus der Stadt fährt, während die Spätvorstellung noch läuft: „Es kam schon vor, dass jüngere Menschen vor Filmende aus dem Kino mussten, um ihren Zug noch zu bekommen.“ Aber das jüngere Publikum ist heutzutage ohnehin schwer erreichbar: Kino insgesamt gelte bei Jugendlichen heute als „uncool“, so Bieler, was für die Brennessel in verschärftem Maße zutreffe: „Wenn einer in der Pause sagt: ,Ich war im Brennessel-Kino‘, dann ist der out. Dann muss der sich ne neue Schule suchen.“
Die nicht-urbane Lage erweist sich für Bieler (und viele seiner Kollegen) auch an anderer Stelle als Nachteil. Es gibt keine Pressevorführungen oder Previews in sinnvoller Nähe, viele Filme kennt man daher nur aus der Eigenwerbung der Verleiher oder eben – was Filmkritiker aufhorchen lassen sollte – aus der Berichterstattung. Gewisse Räume der Programmgestaltung bleiben also möglicherweise durch die abseitige Lage des Kinos verstellt. Es gibt allerdings, wie Bieler nachschiebt, auch einen Vorteil, das einzige Kino am Ort und das einzige Programmkino im Umkreis zu sein: „Fehlende Konkurrenz.“
Wie bei vielen kleineren Kinos ist ein beträchtlicher Teil der Brennessel-Zuschauerschaft äußerst verlässlich und kommt mehr als vier Mal pro Jahr. Und genau diese Verlässlichkeit versucht Bieler auch durch seine Programmentscheidungen zu würdigen: Die Brennessel ist ein klassisches Arthouse-Kino, Philomena (2013) wird gezeigt, natürlich (Stichworte: älter, weiblich, bürgerlich), aber auch Nymphomaniac 1 (2013). Es ist ein Mix aus notwendigen, mehr oder minder sicheren Einnahmequellen (Ziemlich beste Freunde generierte ganze 25 Prozent der Brennessel-Jahreseinnahmen 2012) und Herausforderungen, wie sie in den Feuilletons besprochen werden. Er zeige allerdings nur Filme, die ihm gefallen, so Bieler. Was, wenn man es wörtlich nimmt, eine nicht unwichtige Information ist: Er ist auch der richtige Mann für diesen Ort. Wer avancierte Ansprüche an sein Kinoprogramm stellt und kommerziell überlebensfähig bleiben will, der hat in Hemsbach wahrscheinlich einen eher schweren Stand.
Angesprochen auf seine Programmentscheidungen, die von der Filmförderung Baden-Württemberg und dem BKM regelmäßig mit Preisen ausgezeichnet werden, malt Bieler das Bild eines bis auf Ausnahmen von vornherein feststehenden Vertrages zwischen Publikum und Film. Die Aufgabe eines kommerziell arbeitenden Kinobetreibers ist die der Vermittlung seines vertrauten Publikums zu den momentan verfügbaren Filmen. Das heißt allerdings, dass bei vielen Filmen schon von vornherein klar ist, dass sie auf wenig Gegenliebe stoßen werden: „Es gibt Filme, da weiß ich, die werden hier nicht gut laufen, aber die will ich trotzdem zeigen. Da weiß man im Vornhinein: Das wird ein Minusgeschäft. Aber die muss man trotzdem spielen.“
Um das Programm spannend zu halten, muss der Kinobetreiber also zwangsläufig Miese machen, aber dieses Risiko mag sich letztlich lohnen: Man erntet Reputation und erhält vielleicht Förderpreise. Ein wenig erinnert dieser Geist an den Filmproduzenten Monroe Stahr, den Helden aus F. Scott Fitzgeralds großem, unabgeschlossenem Roman The Love of the Last Tycoon. Der gibt den versammelten Hollywood-Studiobossen auch den ökonomisch nur scheinbar widersinnigen Ratschlag: „It’s time we made a picture that’ll lose some money. Write it off as good will – this’ll bring in new customers.“
Aber natürlich darf man es mit dem Risiko nicht übertreiben. Programmkino im kleinstädtischen Kontext betreiben heißt, die Filmauswahl am sozialen Umfeld auszurichten, den Kinobetrieb als einen von anderen kulturellen Orten der Gemeinde zu verstehen. So gelingt der Brennessel das Fortbestehen, denn so macht sie sich unverzichtbar. Regelmäßige Kinder- und Seniorenvorstellungen sind da gute Indikatoren, da bei diesen Programmen weniger harte denn weiche ökonomische Erwägungen im Vordergrund stehen. Es geht bei diesen Reihen nicht um den monetären Reingewinn, sondern um das Füllen einer sonst klaffenden kulturellen Lücke.
So kann man an Jürgen Bielers Kinobetrieb ein paradigmatisches Modell des lebensfähigen (wenn auch finanziell immer prekären) Programmkinos in der Kleinstadt erkennen: In der Verbindung von kaufmännischem und ästhetischem Pragmatismus erscheint das Kino als eine in die Strukturen von kulturellem Bedarf und existentem Angebot eingebettete Institution. Es ist ein Kino für den Ort, und erst in zweiter Linie für die Filme.
Einleitung: Wer beim Film starten will, um über das Kino nachzudenken, wird schon seit Längerem verlässlich enttäuscht.
Teil 2: Burg Theater oder Kommunales Kino in der Kleinstadt
(Erstveröffentlichung: critic.de am 20.08.2014 )
Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.