Siegfried Kracauer Preis: Beste Filmkritik 2018 – Text von Daniel Eschkötter

Daniel Eschkötters beim Siegfried Kracauer Preis 2018 mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnete Kritik, erschienen in CARGO, Dezember 2017:

 

Is it future or is it past? twin peaks – the return

Daniel Eschkötter

Eine dritte Staffel von twin peaks gibt es nicht. twin peaks kehrte vielmehr zurück, und David Lynch und Mark Frost kehrten zurück, und der FBI Special Agent Dale B. Cooper und Laura Palmer, die ihm das Wiedersehen vor 25 Jahren im Traum am Ende der dritten Folge angekündigt hatte, kehrten zurück und nicht alle, aber viele andere und wir. Was Return, was Rückkehr heißt, das fragt twin peaks 2017, um im Limbo zu enden, wieder.

Rasender Stillstand, stehender Sturmlauf ist das Prinzip ihr für einen Großteil der Dauer der Serie. Ihr Protagonist will aus seinem katatonischen Zustand einfach nicht erwachen, und wenn Dale Cooper schließlich aus dem 25 Jahre währenden Limbo des red room der Schwarzen Hütte und den 14 Folgen im Leihkörper des Las Vegas-Versicherungsagenten Dougie Jones zurückkehrt, um sein böses Double Mr. C zu erledigen, dann reicht das kaum für Coffee & Pie. Und auch die Rückkehr nach Twin Peaks ist eine immer unvollständige, ein szenisches Geben und Vorenthalten, folgt einer Logik des Besuchs, kurze Visiten beim alten Personal mit unterschiedlichen Gratifikationen und Wiedererkennungen: Bei den Horne-Brüdern, der eine, Ben, immer auf der Suche nach einem nicht lokalisierbaren Ton im Great Northern, der andere, Jerry braucht so lange wie Cooper für seine return aus den Wäldern und kommt irgendwo in Wyoming raus. Bei Bobby, vom Highschool-bad boy zum guten Polizisten geläutert, und Shelley und ihrer Tochter Becky, nun sie mit abusivem Ehemann. Bei Nadine und Norma und Ed, die als Paar entlassen werden, sehr würdig zur Monterey-Version von Otis Reddings «I’ve Been Loving You Too Long». Und zuletzt auch, endlich, nach vielen Folgen, bei Audrey Horne. Ihre Auftritte sind die am stärksten konzeptuell markierten Absagen an die Möglichkeit einer nostalgischen Appropriation, eines Wiederfindens des alten Twin Peaks. Nach aufgebrachten Mono- und Dialogen ins Nichts findet die Serie bei Audrey, mit Audrey, findet diese für nur wenige Minuten scheinbar zu sich, zum alten vergangenen Selbst, um ihre Abkehr und Unwiederbringlichkeit dann umso brutaler auszustellen: in Audrey’s Dance, damals die tänzelnden Urszene einer girly-erotistischen quirkyness, an dessen Ende hier nur ein Schrei und Whiteout stehen, die das desolate Ende bereits vorwegnehmen. (Überhaupt: Angelo Badalamentis elegische Themen, die akustische Signatur der alten Serie, sind hier fast abwesend.)

Audrey ist das Scharnier zu einem Konstruktionsprinzip von the return, die das Serienfernsehen als zersplittertes Sozialmedienmelo neu aufzäumt. Immer wieder wird die Rückkehr überführt in Erstbesuche auf unbekanntem Territorium: Nicht nur bei den kaum zählbaren Stars, die sich hier die Klinke in die Hand geben: Naomi Watts und Laura Dern garantieren als ferne Schwestern einmal mehr letzte Stabilität in der Lynchwelt. Jim Belushi und Robert Knepper sind Las Vegas-Kasinopatenbrüder mit Spendierhosen. Tim Roth und Jennifer Jason Leigh ein Killerpaar, das sich aus dem Universum des anderen 90er-Videotheken-Darlings in diese Serie verirrt hat. Und wenn David Lynch oder Gordon Cole von Monica Bellucci träumt, dann tritt diese auch leibhaftig auf, um zu fragen, wer hier eigentlich wen träumt. Sie und all die anderen irgendwie Wiedererkennbaren sind noch restintegriert in Handlungsverläufe, Gastauftrittlogiken. Aber am Ende jeder Folge sitzt die Kamera immer wieder bei jungen Menschen, Frauen zumeist, die wir nicht kennen, die sich im Roadhouse über andere Menschen unterhalten, die wir nicht kennen. Tom und Angela und Clark und Mary und Billy und Tina. Wie das Soziale, wie der Alltagsdialog zum Rätsel wird, zur logischen und logistischen Herausforderung. Das Leben von Twin Peaks folgt nun keinem intelligiblen Prinzip der Darstellbarkeit mehr, das selbst die verworrenste Intrige noch war. Wir sehen Menschen beim Prozessieren von Informationen, von Dramen zu, beim Versuch zu verstehen. Und sind zugleich doch immer auf der Suche nach Ankern ins alte Twin Peaks, Namen, Gesichtern, Motiven; einmal Blinzeln, dann hat man sie vielleicht verpasst. (Ich kenne keine Serie, bei der noch die Abspanncredits, fast immer zu einer Performance im Roadhouse laufend, so integral Teil des Konzepts sind, mit den dort verzeichneten Kürzestauftritten, den Widmungen an die Verstorbenen, den Bands, die im Roadhouse auftreten.)

Ein Serienmotor ist Unwiederbringlichkeit. Wenn am Ende der ersten Folge der Rückkehr James Hurley ins Roadhouse kommt und sein Blick an einer uns Unbekannten hängenbleibt, einer weiteren Laura vielleicht, wenn dazu die Chromatics das Julee-Cruisige «Shadows» auf der Bühne spielen, heißt es da schon: for the last time. Diese last times hängen so schwer über der Serie wie die Wolken über den Wasserfällen des Great Northern. Jede Folge ein Epitaph, in memory of, ein Goodbye, das die Serie all ihren Verstorbenen nach- und mitunter entgegenruft, der Log Lady Catherine Coulson, Warren Frost, Miguel Ferrer, BOB Frank Silva, Don S. Davis, die in the return noch einmal auf- oder abtreten, als floating heads durch den Raum schweben, am Telefon verabschiedet werden (Good night, Margaret. Goodbye, Margaret), als gigantischer Teekessel ein letztes Mal das damn good Kaffeefolkloreuniversum Lynchs kontraristisch anreichern (David Bowies verschwundener Agent Phillip Jeffries, hier nur noch im Namen präsent, das Fehlen Bowies nur noch stärker spürbar machend). Harry Dean Stanton, der spätaufstehende Trailerparkverwalter aus fire walk with me, eines der guten Gravitationszentren von the return, hat die Ausstrahlung der Serie gerade noch erlebt.

 

twin peaks war schon spätestens in der völlig dissoziierenden und mäandernden zweiten Hälfte der alten Serie emphatisches genreverschlingendes Antiautorenfernsehen, bis Lynch im Finale Zügel und Verlauf noch einmal (und endgültig: the return ist komplett seine Regie- und Soundarbeit, in den ersten zwei Staffeln hatte er insgesamt nur bei sechs Episoden Regie geführt) an sich riss, um dann richtig los- und gehen zu lassen. In die Vorhölle des samtrotbevorhangten Zimmers. Vor allem fire walk with me, Lynchs Film von 1992, das nominelle Prequel, ist mit seinem spirituellen (wenn nicht: spiritistischen) Bodensatz für das brutale Missbrauchsdrama der konzeptuelle Ausgangs- und Referenzpunkt der gesamten Rückkehr, auch die Fragmente und gelöschten Szenen, die missing pieces, die erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurden. the return ist zugleich kanonisch und konsequent apokryph, will Antworten geben und neu streuen.

Retrospektiv wird dabei deutlich, wie sehr eine Bewegung des Rückwärts (Reden, Gehen, Schauen) die alte Serie und den Film schon strukturierte, nicht nur als fernsehserielle Form von Trauerarbeit. Das Zurück und seine Verstellungen der Rückkehr sind noch fundamentaler. Sie tritt an, die Differenz zwischen dem Damals, vor 25 Jahren, und dem Heute zu inventarisieren und zu vermessen, medial und sozial, auch schauspielkörperlich (nicht zuletzt ist dies eine Serie über das Altern von Schauspielenden, die nicht zur ersten Reihe der Hollywood-Körper gehören). Das twin peaks der 90er war eben nicht peak-TV, sondern die weirde Nachtseite von Day Time-Television, und in der zweiten Hälfte wurden die Intrigen, Liebeshändel, Affären, die Soapiness der alten Serie zum einzigen echten Organisationsprinzip. Twin Peaks war dabei im Kern die todtraurige Geschichte von dem Mädchen, das am Ende der Straße gewohnt hat, wie es auch in the return immer wieder heißt. Something happened to her. Laura. Und dem Ort und der Welt mit ihr. Etwas ist mir widerfahren, so auch Sarah Palmer, in deren Welt schon der Anblick einer neuen Sorte Trockenfleisch hinter der Supermarktkasse zum finstersten Vorzeichen werden kann.

the return ist eine Revision unter anderen Medienbedingungen. Die Rückkehr zerdehnt, zerfasert – und präzisiert. Der Lynchtopos vom rotten Bodensatz und den arcana unter den 50er-Jahre-Americana wird in the return oft überführt in eine szenische Soziologie der Desolation des ruralen und vorstädtischen (vulgo: weißen; twin peaks ist fast vollständig minoritätenbereinigt) Amerika der Gegenwart, das nicht mehr nostalgisch zu reintegrieren ist. Diese Welt kann nicht mit Kaffee und Pie versöhnt, nicht von Audrey schön-schräg getanzt werden. Kinder in Tarnkleidung feuern scharfe Waffen ab, die Abwesenheit einer allgemeinen Gesundheitsversorgung produziert Ausschläge und Zombietöchter, die Versorgung mit Opioiden läuft umso besser.

«It’s 7 o clock, do you know where your freedom is?» Dr. Jacoby bietet als Talk-Radio-Video-Host mit goldbesprühten Schaufeln (um sich aus der Scheiße zu graben: out of the shit and into the truth, only 29.99) auch nichts Sinnloseres in seinem Webshop an als Alex Jones mit seinen Maskulinistenglobuli für die rechtskonspirativistischen Staatsmedizinverächter. Auch sonst: Wo sich die Signaturschrägheit Bahn bricht, lächelt das Ressentiment. Lynchs hintergründige Misogynie, in der Laura Palmer nur das zentrale vieler troubled girls war, an deren Schicksal sich auch irgendwie die Welt ent/scheidet, wird fast reflexiv (wenn es das geben kann). Softpornoesk wiegt und post sich die neue kompetente Kollegin von Albert und Gordon Cole, Tammy Preston, durch ihren Job; eine französische Bekanntschaft von Lynchs Gordon macht aus dem Verlassen eines Hotelzimmers eine große 5-Minuten-Show in Fantasiefranzösinnenfetischismus, zu Gordons Verzückung und Alberts Konsternierung. Candy und die zwei anderen bonbonrosaroten Vegas-Show Girls führen vor, dass auch dekoratives Herumstehenlassen von Komparsinnen meta sein kann. Laura Derns Diane (bzw. deren Double) macht zu alldem die angemessen angewiderte Mine.

Ein anderes soziales Paradigma, das bedeutet auch: ein anderes Serien- und ein anderes Raumparadigma. Die Hermetik der Kleinstadt und ihrer Serie, aus der es kein Entkommen gab, auch nicht durch die fantastischen Portale in den Wäldern, wird von einem Ortsprinzip überschrieben, einer Landkarte übermalt, in der Twin Peaks eine so wichtige wie periphere amerikanische Koordinate ist. In der zweiten Staffel von Twin Peaks verlässt James die Stadt auf seinem Motorrad und fährt direkt in einen Lifetime-Movie-Noir-Plot. In the return kann Michael Cera als Lucys und Andys Sohn Wally Brando mit Wild One-Lispeln auf dem Motorrad dem frappierten anderen Sheriff Truman (Robert Forster als Bruder Michael Ontkeans, der nicht zur Schauspiel-Rückkehr zu bewegen war) die Landstraße erklären: I have crisscrossed this great land of ours countless times. Dass er an Lewis und Clark denkt bei seinen Motorradmonologen, ist grandios in jedem Sinn. Die Serie selbst durchquert nun den Westen Amerikas, auf der Suche nach neuen Passagen. Die Portale, die Ein- und Ausgänge sind überall. Highways und Diner, Trailer Parks und Motels, Casinos und Suburbia, Gefängnisse und Tankstellen, above the convenience store, Las Vegas und die Dakotas und Wyoming und Washington State und ein Hochhaus in New York. Und überall Screens, himmlische Überwachungszentren wie in Langs lilliom, von denen aus der Agent des Guten, der Fireman, der mal der Riese in Coopers Träumen war, die Geburt des Bösen aus dem Geist und Pilz der Atombombe beobachtet; gefräßiges weißes Flickern, das aus einem Fernsehportal in Manhattan steigt, um ein Paar zu zerstückeln, das gerade mal nicht hingeschaut hat; und das nun auch in Lauras Mutter Sarah lauert, die bei Bloody Marys im Wohnzimmer vor dem HD-Fernseher sitzt und nachtaktiven Raubkatzen beim Zerfleischen ihrer Beute oder einigen Sekunden eines alten Boxkampfs im Loop zuschaut.

Und Steckdosen, Hochspannungsleitungen, flackernde Lichter, Netzbrummen: Outlets für den Elektrizitätsokkultismus Lynchs, seine Art von Netzwerkästhetik. Sicher ist’s Atomstrom, denn in Lynchs und Frosts amerikanischer Ökologie hat die Atombombe dieses Böse, das Twin Peaks heimsucht und dessen Übertragung die elektrischen Leitungen garantieren, erst in die Welt gebracht. Lynch suchte schon immer irgendwie den Kurzschluss von Pynchon und Zen, um das «interface between the worlds» (Gravity’s Rainbow) zu filmen. Fire Walk With Me war demnach nie das Diktum alter dämonischer Kräfte, sondern, so the return, vielmehr der Leitspruch eines der militärisch-industriell-szientifischen Sündenfälle des 20. Jahrhunderts, das in der Gegenwart nachflackert, unter anderem in der idiosynkratischen Form schattenhafter flickender Holzfäller. Gotta light?

Das Zentrum von the return, die zweite Hälfte der achten Episode (nach einem zäsurierenden Auftritt der Nine Inch Nails im Roadhouse), ist das Experimentalkinoinferno einer Reise ins Innere der Trinity-Test-Atombombenexplosion von White Sands, New Mexico, 16. Juli 1945, nicht ganz klischeefrei begleitet von Krzysztof Pendereckis Tren Ofiarom Hiroszimy. Nicht nur hier wird voll aufgefahren und aufgedreht, werden alte Experimentalgesten von und vor eraserhead wieder ausprobiert, Steampunkavantgarde mit amerikanischen und österreichischen Wurzeln, Flickereffekte, audiovisuelle Scratches, das ganze Repertoire von Ton- und Bildstörungen via VFX.

In der twin peaks-Mythologie ist die Bombe der Urknall für den großen Widerstreit der Kräfte des Guten und des Bösen. Die etwas fade manichäische, synkretistische Kosmologie darin ist für die Logik der Serie letztlich so unerheblich wie ihre Clues und Numerologie. Die Idee von dieser Explosion ist jedenfalls keine spekulativ-historische, sondern eine genuin filmische. Und eine narrative: Denn wenn die Bombe den Anbruch einer neuen Zeit und auch Zeitlichkeit markierte, dann folgt für the return aus diesem Knall und dem Knall von Lauras Ermordung eine narrative Desintegration oder Atomisierung, die auch in einer parallelen Dimension (oder eben dem Fernsehen, Kino, der Kunst, whatever) nicht zu kitten ist.

Die Return macht aus der Revision eine Zeitreise, am Ende ganz buchstäblich. Alte Kinoszenen von 1992 werden noch einmal aufgesucht, bekommen einen Gegenschuss. Aber welches Jahr ist das dann? In welcher Dimension sind wir eigentlich? Einen Weg zurück gibt es nicht, nicht für Laura, die Homecomingqueen, die eine andere ist, nicht für Cooper, der ein anderer ist, nicht für uns. Laura doesn’t live here anymore.

Am Ende Schrei und Blackout und Wispern. Laura, flüstert die Serie ihr und uns nach. Und Laura flüstert zurück, in Coopers Ohr, ein x-tes Mal. Zurück auf Anfang, noch einmal neu. Noch einmal hat twin peaks auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, was Fernsehen und Kino waren und sind und sein werden. (For the last time.)