Die mit dem Siegfried Kracauer Preis 2018 ausgezeichnete Kritik von Cosima Lutz, erschienen in DIE WELT am 13. Juli 2017:
Zeig mir deine Wunder, du komischer Vogel
Wir ungläubige Kino-Thomasse: João Pedro Rodrigues’ „Der Ornithologe“ treibt heiligen, heidnischen Schabernack
Cosima Lutz
Zuerst sind wir ein Haubentaucher und haben eine komische Frisur. Wir brüten und passen auf: Kommt da ein Mensch aufs Nest zugeschwommen? Kurz darauf werden wir mit der fliegenden Kamera zum Schwarzstorch: gleiten vom steilen Felsen hoch über den türkis schimmernden Fluss. Dort, weit unten, ein dünner Strich nur, sitzt ein Mensch in seinem Kanu, er ist der Ornithologe, mit Fernglas und Diktiergerät. Fernando, so heißt er, schaut zu lange nach oben, bemerkt die Stromschnellen zu spät, geht im Rauschen unter. Wir gleiten weiter, hinein in den Film, hinein in einen nebeligen Wald.
Was hat der Film vor, was die Tiere, was das Rauschen, was der Wald? Immer wieder erstaunlich ist, wie geordnet und unverzappelt João Pedro Rodrigues seine Fabel „Der Ornithologe“ erzählt. Denn eigentlich versammelt er genügend Elemente, um Chaos zu stiften. Allein die Sprachen: Karnevalsgestalten feuern einander in Mirandés an, einer romanischen Sprache im Nordosten Portugals. Chinesinnen treten auf. Fernando wird später einen taubstummen Ziegenhirten namens Jesus im Arm halten, (fast) wie einst der heilige Antonius das Jesuskind hielt. Amazonen sprechen Latein. Sie erschießen einen Hirschen, nein, sie treffen Fernando, schon wieder ist er tot, doch er steht wieder auf, und jetzt nennen sie ihn Antonius, wie den Nationalheiligen Portugals, der ebenfalls eigentlich Fernando hieß. Er versteht ihr Jägerinnenlatein.
Schon in seinen ersten Bildern, die eine große landschaftliche Prachtentfaltung veranstalten und zugleich jedes Entzückungspathos mancher Naturdokumentationen weit hinter sich lassen, hat es der portugiesische Regisseur auf Verwandlung abgesehen: auf ihre Möglichkeit, aber auch auf ihre Verweigerung. Die Verwandlung ist bei ihm ein Wunder, oder auch keins. Der Tod markiert dabei nur ihre Schwelle, offen in beide Richtungen. Fernando also könnte im Fluss gestorben sein, wird dann aber von zwei verirrten chinesischen Pilgerinnen gerettet. Die ihn, weil sie Angst vor Waldgeistern haben und „gute Christinnen“ sind, fesseln, um ihn und sich wieder auf den rechten Jakobsweg zu bringen. Ziemlich lange und dekorativ hängt Paul Hamy als sein Martyrium erwartender Schnürpaket-Heiliger im Wald. Der Schwarzstorch schaut ihn sich jetzt nochmal genauer an. Ist der Gefesselte, Erregte, Verängstigte, noch derselbe?
Die Verwandlung kann bei Rodrigues aber auch bloß medizinisch-technischer Art sein, wie die (verweigerte) Geschlechtsumwandlung in „To Die Like a Man“ (2009). Oder auch wie beim Ornithologen, der aus nicht näher erklärten Gründen schon vor seiner Havarie riskante Verwandlungstendenzen hat: Er soll seine Tabletten nehmen, simst sein Freund, „denn ich will dich lebendig“. Er schluckt sie, verliert sie, findet sie wieder, wirft sie weg. Wie sein Handy, seinen Pullover, sein Kanu, seinen Pass.
Fernando entkommt, wird als Fernando aber trotzdem irgendwie sterben, denn er verwandelt sich im Verlauf dieser fabelhaften Geschichte in einen mehr oder weniger heiligen Antonius von Padua. Und in den Regisseur selbst. Unterwegs trifft er Jesus’ Zwillingsbruder Thomas, einen mit phallischer Maske, Karnevalskostüm und Glöckchen behangenen, wilden Kerl. Fernando/ Antonius liebt sie beide. Den einen tötet er, den anderen erweckt er zum Leben. Glauben wir das? „Manches geschieht eben, und dann glauben wir es“, predigt Antonius dem skeptischen Thomas und dem Publikum.
Das Vermögen der Verwandlung, das ist dem studierten Ornithologen Rodrigues natürlich klar, gehört aber weder der Kunst noch dem Glauben allein. Sie umspannt als evolutionäres Element ungerührt die Jahrtausende. Das erdet den Film und gibt ihm ein zusätzliches Geheimnis. Der Schwarzstorch, von dem Fernando seinen Blick nicht wenden will, bevor ihn der Fluss davonreißt, ist ja niemand anderes als der unverwandelt gebliebene Bruder des Weißstorchs. Derjenige, der weiterhin im Wald sein fast unsichtbares Leben führt und als Unglücksbote gilt, während sich der andere dem Menschen anschloss und dabei zum verehrten weißen Glücksbringer wurde. Wie war der Blick aufeinander, als sich der eine vom anderen lossagte, als sich die beiden Arten voneinander entfremdeten?
Von diesem Blick erzählt „Der Ornithologe“. Vom Begehren, der Furcht und der schieren Möglichkeit, (auch) ein anderer zu sein. Und er erzählt es in Bildern, die so gelassen und lustvoll Schabernack treiben mit heidnischen und christlichen Motiven, dass beides ununterscheidbar wird. Aber nicht etwa, um das eine oder das andere zu desavouieren. Nein, sondern um beider rauschhafte Qualitäten freizulegen. Ein gefesselter nackter Mann? Wunden, an denen andere sich laben? Christliches Bildrepertoire. Und natürlich ein bisschen pervers.
Fast scheint es, als wäre der andere große portugiesische Autorenfilmer der Gegenwart, Miguel Gomes, Rodrigues’ ungleicher Kino-Zwilling: In ihren jüngsten Filmen grenzen Gegenwart und Antike selbstverständlich aneinander, beide Regisseure treten als Gepeinigte vor die Kamera und insistieren darauf, ihr Persönlichstes mit dem Mythos ihres Landes, ja Europas zu verschränken. Während Gomes in seinem sechstündig ausfransenden Film-Ungeheuer „1001 Nacht“ vom Chaos des Stoffs überfordert ist und diese Überforderung wie in einem wilden filmischen Karnevalstanz beschwört, fügt Rodrigues’ „Ornithologe“ sanft und gemessenen Schritts alle Teile zusammen und sagt von sich selbst nur leise: Ich bin ein anderer.
Am Ende sind wir, nicht zuletzt dank eines opulenten Natursound-Designs, bloß noch Wald und Wasser und Rauschen. Da wirkt es fast befremdlich, wenn Antonius schließlich, gespielt von Rodrigues selbst und begleitet von einem fröhlichen Popsong, weg von uns gen Horizont wieder in die Zivilisation tritt, nach Padua, wo auch der heilige Antonius seine letzten Jahre verbrachte. Uns Zuschauer lässt er in unserer ganzen Schwarzstorchhaftigkeit zurück und erinnert daran, wie es war, als statt des dunklen Kinos noch der Wald der Ort war, in dem die Zeichen hausten, die zu deuten waren oder zu glauben.