Offener Brief iranischer Filmemacher*innen

Anfang April haben mehrere Hundert iranische Filmemacher*innen unterschiedlicher Gewerke einen Offenen Brief zum Protest gegen sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch in der Filmbranche veröffentlicht. Der Brief umfasst konkrete Vorschläge zu einem neuen Verfahren zum Umgang mit Vorwürfen, da die Täter bisher keinerlei Konsequenzen zu befürchten hätten, weder rechtlich noch in der Öffentlichkeit.
Um den Brief einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen, hat unser Mitglied Fahimeh Farsaie das Schreiben ins Deutsche übersetzt. Eine Weiterverbreitung ist ausdrücklich erwünscht.

Erklärung von iranischen filmschaffenden Frauen, veröffentlicht am 03.04.2022 in Teheran, Iran

Vorgeschichte:

Mehrere hundert Frauen aus der Filmbranche im Iran haben am 3. April in einer gemeinsamen Erklärung gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen protestiert. In den vergangenen Jahren seien in der iranischen Filmindustrie Fälle von sexuellen Belästigungen trotz ihrer Offensichtlichkeit ignoriert worden. Mittlerweile sind mehr als 800 Unterschriften gesammelt worden.

Mehrere Tage nach der Veröffentlichung verurteilte das Haus des Kinos (Verband der Filmemacher*innen Irans) die „mögliche Gewalt“. Der Verband wies darauf hin, dass die Berichte der Frauen, die sich über sexuellen Missbrauch beschwert hatten, vom „Aufsichtsrat des Verbandes vertraulich“ behandelt würden. „Die Erklärung wurde dem Aufsichtsrat zugeschickt“, so der Vorstand des Hauses im Schreiben.

Die Unterzeichnerinnen weisen aber in ihrer Erklärung darauf hin, dass dem Aufsichtsrat des Hauses die „notwendige Unabhängigkeit“ fehle, um sich mit solchen Fällen zu befassen. Denn in der Vergangenheit berichteten einige Filmemacherinnen wiederholt von sexueller Belästigung, Nötigung und Schikane bei der Arbeit. Die Untersuchungen des Aufsichtsrats endeten oft zu Gunsten des Angreifers. Die Stellungnahme des Vorstandes sei selbst „die Fortsetzung des unwirksamen Verfahrens im Umgang mit der sexualisierten Gewalt, die von den Zuständigen seit Jahren angeblich geändert werden soll“.

Aktueller Stand

So haben die Unterzeichnerinnen sich selbst ans Werk gemacht, ein unabhängiges Gremium von fünf Filmschaffenden gebildet und es beauftragt, die in der Erklärung vermerkten Forderungen der Filmemacherinnen weiterzuverfolgen. Die Mitglieder des gebildeten Komitees heißen: Hanieh Tavassoli, Taraneh Alidosti, Somayeh Mirshamsi, Ghazaleh Motamed und Maral Jirani.

Erklärung

In den letzten Monaten haben sich viele mutige Filmemacherinnen zu Wort gemeldet und im Rahmen einer Kampagne gegen sexuelle Gewalt in der Filmbranche, die sie selbst initiiert haben, ihre Geschichten über Belästigung und Missbrauch veröffentlicht. Den Berichten nach könne jede Person in diesem Arbeitsfeld, die Macht und Ruhm hat, ihre Position ausnutzen, um ihre Kolleginnen und Mitarbeiterinnen zu schikanieren, zu bedrohen, zu beleidigen, zu demütigen und ihnen gegenüber übergriffig zu werden. Diese Personen hätten jedoch keinerlei Konsequenzen zu befürchten, da weder die Justiz, noch der Filmverband (Haus des Kinos) oder ihre Kolleg*innen (Filmemacher*innen und -Kritiker*innen) sie bis dato dazu bewegt oder gezwungen hätten, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.

Wir, die Unterzeichnerinnen, sind heute hier zusammengekommen, um unsere Solidarität mit unseren Kolleginnen kundzutun und klarzustellen, dass wir jede Art von Gewalt und Belästigung sowie sexuelle Erpressung am Arbeitsplatz verurteilen. Wir fordern ernsthafte rechtliche Konsequenzen für die Angreifer, damit sie mit ihren abscheulichen Taten endlich aufhören. Wir verurteilen ebenfalls die herrschenden ungleichen Geschlechterverhältnisse in der iranischen Filmindustrie und missbilligen die fehlenden Aufsichtsgremien, die dafür Sorgen tragen müssen, dass die sexualisierte Gewalt gegen Frauen in diesem Arbeitsfeld nicht weiter betrieben werden kann.

Wir warnen die Filmszene Irans vor den Folgen dieser offensichtlich schweren und massiven Misshandlungen, von denen die Betroffenen einzeln und detailliert berichtet haben. Ihre Stimmen wurden aber bisher nicht gehört. Unser kollektiver Aufschrei muss nach so vielen Jahren endlich wahrgenommen werden.

Laut den Erzählungen der betroffenen Filmschaffenden waren sie verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt und Missachtung ausgesetzt; u. a. Verachtung und Entwürdigung durch „sexistische und sexualisierte Bemerkungen“. Die Angreifer hätten „ihre Machtposition ausgenützt und die Betroffene zum Schweigen oder zum Hinnehmen ihrer sexuellen Untaten gezwungen, sonst wurde das Gehalt oder Honorar einfach nicht bezahlt“. Den Opfern wurde außerdem gedroht, sie würden ihren „Job verlieren, wenn sie über die begangenen Missetaten reden“ würden. Darüber hinaus haben die Filmemacherinnen oft über „unerwünschten Körperkontakt“, „Nötigung“ und schließlich „körperliche Gewalt und Vergewaltigung“ berichtet.

Diese bitteren und leidvollen Erlebnisse, die gewiss tiefe seelische Wunden verursacht haben, weisen auf eine ausgeprägte strukturelle Gewaltausübung in der Filmindustrie Irans hin, die stillschweigend toleriert, verharmlost und gedeckt wird. Denn es gibt tatsächlich keine ernsthaften Sanktionen für die Angreifer, die auch deshalb unbesorgt weitermachen. Diese berühmten Persönlichkeiten, denen ihre Fans huldigen, sind die Vorbilder der neuen Generation. Allein das muss für unsere Gesellschaft alarmierend sein.

Hinzu kommt, dass es keine Aufsichtsinstanz gibt, die sich aus Personen zusammensetzt, die zum Thema sexuelle Gewalt und verbale Belästigung geschult sind. Eine solche Instanz müsste in der Lage sein, die Fälle über das sexualisierte Fehlverhalten von Vorgesetzten gegenüber den Kolleginnen in einem Filmprojekt gegebenenfalls gründlich zu untersuchen.

Es gibt keine Klauseln oder Paragraphen in Arbeitsverträgen hinsichtlich der Bestimmungen oder rechtlichen Folgen, die sich auf den Schutz von Filmschaffenden vor Nötigung, sexualisierter physischer und psychischer Gewalt, sexueller Erpressung, verbaler Belästigung, Beleidigung und Demütigung am Arbeitsplatz beziehen. Das Thema der Schutzlosigkeit der Frauen und die rechtlichen Sanktionen für die Täter werden in der Öffentlichkeit oder in den Medien auch nicht behandelt.

Das Verfahren, das die Gewerkschaften und Verbände seit Jahren in der Filmbranche praktizieren, endet oft zu Gunsten der Täter, die den Frauen Schmerzen, Leid und Unrecht zugefügt haben, da die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und durch Vermittlung zwischen Opfer und Täter stattfinden.

Unter solchen Umständen und trotz der ungleichen Machtverhältnisse als Folge der ungleichen Geschlechterverhältnisse in der Filmindustrie haben wir Filmemacherinnen in all den Jahren unser Bestes getan und unsere Phantasie, Kreativität und physische und psychische Stärke für die Bereicherung der Filmwelt eingesetzt. Und das obwohl unsere Kompetenz stets aufgrund der herrschenden Misogynie in Frage gestellt, unsere hart erkämpften Möglichkeiten dauernd beschnitten wurden und weiter eingeschränkt werden – vor allem weil unser Anteil an Schlüsselpositionen, Entscheidungsgremien und finanziellen Zuwendungen in dieser Branche sehr gering ist.

Wir haben aber einen berechtigten Anspruch auf ein sicheres Arbeitsklima als ein grundlegendstes Menschenrecht, das frei von Mobbing, Gewalt und sexueller Erpressung sein soll. Deshalb fordern wir vom Verband der Filmemacher*innen, allen Cineast*innen, Filmkritiker*innen und damit verbundenen zuständigen Stellen:

Die Errichtung eines unabhängigen Überprüfungsgremiums, angesiedelt beim Verband der Filmemacher*innen, dessen Mitglieder mehrheitlich aus ausgewählten Vertreterinnen verschiedener Bereiche der Filmindustrie zusammengesetzt ist. Sie sollten zum Thema sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen geschult sein und über Fachwissen und Kompetenz in ihrem Berufsfeld verfügen, damit sie ihre vorgeschriebenen Aufgaben umsetzen können.

Diese lauten: die Beschwerden von Betroffenen bezüglich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu untersuchen. Zu den Fällen gehören: sexualisierte verbale Gewalt und Erpressung; d. h. die Filmemacherinnen durch Zwang, Bedrängen und Drohen hinsichtlich jeglicher Art von finanziellem Verlust und negativer Auswirkungen auf den Beschäftigungsstatus zum Geschlechtsverkehr zu bewegen, Mobbing und psychischer und physischer Druck, unerwünschte Berührung, Vergewaltigung und sexualisierte Körperverletzung.

Das Komitee sollte über ein einfaches und für alle Mitglieder zugängliches Kommunikationsmedium verfügen, z. B. eine Gruppen-E-Mail-Adresse oder ähnliches, damit alle Mitglieder gleichzeitig die Nachrichten oder Beschwerden der Frauen erhalten und vollständig bearbeiten können.

Während des Überprüfungsprozesses müssen die Personalien der betroffenen Person geheim gehalten werden. Ohne Zustimmung der Betroffenen dürfen weder die Angaben zur Person noch ihr Fall weitergegeben oder veröffentlicht werden. Während des Verfahrens muss der Schutz ihrer Privatsphäre gewährleistet sein. Alle Mitglieder bestätigen ihr Einverständnis mit dem von allen bereits ausführlich beratschlagten Ergebnis der Überprüfung mit ihrer Unterschrift.

Das Komitee hat darüber hinaus noch die Aufgabe, den Betroffenen rechtliche Beratung und nach Wunsch anwaltliche Unterstützung anzubieten, wenn sie sich entscheiden, rechtliche Schritte gegen den Täter einzuleiten.

Eine weitere Aufgabe des Komitees ist es, ein Konzept zur Aufklärung und Ermutigung der Betroffenen zu erstellen, damit es von Verbänden und Vereinen in der Filmindustrie umgesetzt wird. Das Komitee ist nicht befugt, die Rolle eines/r Mediator*in zu übernehmen, um eine Begegnung oder Versöhnung zwischen Angreifer und Opfer zu veranstalten. Dies schadet nur der Psyche der Betroffenen und muss unbedingt vermieden werden.

Das Verbot des sexuellen Missbrauchs am Arbeitsplatz muss außerdem im Arbeitsvertrag festgehalten werden. Das gilt auch für die Gegenmaßnahmen im Falle eines Verstoßes.

Im Falle eines Verstoßes ist das Komitee befugt, den Angreifer zur Rechenschaft zu ziehen, zu rügen, Sanktionen wie Geldstrafen oder einen zeitlich begrenzten Ausschluss von Tätigkeiten im künstlerischen Bereich gegen ihn zu verhängen.

Wir Filmemacherinnen erklären hiermit entschieden, dass unsere Bemühungen, sexuellen Missbrauch am Arbeitsplatz zu unterbinden, bis zum Erreichen der konkreten Errungenschaften fortgesetzt werden. Das ist ein bescheidener Beitrag zu Ehrung der Betroffenen, die unter der systematischen sexuellen Gewalt in diesem Bereich gelitten und das auch zum Ausdruck gebracht haben. Uns ist bewusst, dass es nur der erste Schritt ist. Dennoch hoffen wir, dass wir in der Zukunft in einem geschützten, gleichberechtigten und gewaltfreien Arbeitsklima arbeiten können, in dem wir unsere Energie, Kraft und Zeit nur dafür aufwenden, kreativ zu sein und Spaß an unserer Arbeit zu haben, statt gezwungen zu sein, sexuelle Angriffe und Mobbing abzuwehren. Das schaffen wir nur mit Solidarität und gemeinsamer Anstrengung.

Abschließend möchten wir unsere Kolleginnen und Kollegen sowie Kino- und Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer daran erinnern, dass eine sichere, verantwortungsbewusste und gewaltfreie Gesellschaft sicherlich eine bessere Gesellschaft für alle ist.

Die Namen einiger der Unterzeichnerinnen:

Niki Karimi, Hedyeh Tehrani, Hengameh Ghaziani, Pouran Derakhshandeh, Ehteram Boroumand, Tina Pakravan, Behnoosh Tabatabai, Nasim Adabi, Taraneh Alidosti, Lily Rashidi, Sahar Dolatshahi, Prynaz Izdiar, Galareh Dehghani, Tavassoli, Fereshteh Hosseini , Katayoun Riahi, Tahmineh Milani, Vishka Asayesh, Mehraneh Mahintorabi, Mitra Hajar, Shabnam Moghaddami, Negar Javaherian, Panthea Panahiha, Melika Sharifinia, Azadeh Samadi, Setareh Eskandari, Sara Bahrami, Setareh Pesyani, Shabman …

Übersetzung von Fahimeh Farsaie, 11.04.2022