Die Kunst des Fragezeichens
Zweites Gespräch im Filmhaus am Potsdamer Platz am 16. 12. 2010
Anke Sterneborg (Süddeutsche Zeitung, rbb Kulturradio), Lars-Olav Beier (Der Spiegel) und Wilfried Reichart (ehemaliger Leiter der WDR-Filmredaktion, Moderator von Publikumsgesprächen) sprechen über das Handwerk des Interviews.
Lars-Olav Beier Wir haben eben gehört, wie eine sehr fruchtbare Interviewkultur entstanden ist. Wie sieht hingegen ein schlechtes Interview aus?
Wilfried Reichart Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit Sofia Coppola, das mit der Frage anfing, ob sie jetzt aus dem übermächtigen Schatten ihres Vaters herausgetreten sei? Darauf bekommt man höchstens eine banale Antwort. Man sollte nicht Gemeinplätze behandeln, man sollte nicht mit Klischees arbeiten. Damit weckt man nicht das Interesse bei dem, mit dem man das Interview führen will und bringt auch nichts aus ihm heraus.
Lars-Olav Beier Ist es wirklich eine so schlechte Idee, Sofia Coppola zum Verhältnis zu ihrem Vater zu befragen?
Anke Sterneborg Für gewöhnlich finde ich Fragen zum Privatleben uninteressant. Aber in diesem besonderen Fall, wo die Art, wie sie mit ihrem Vater aufgewachsen ist, ihr Schaffen geprägt hat, finde ich es keine unberechtigte Frage. Man kann sie sicher etwas glücklicher, raffinierter stellen.
Wilfried Reichart Genau das ist der Punkt: So gestellt ist sie uninteressant. Wird sie nur mit dem Schatten des Vaters konfrontiert, blockiert sie. Das hat etwas mit der Kunst des Interviews zu tun: auf einem anderen Weg dahin zukommen, dass diese Frage beantwortet wird.
Anke Sterneborg Dann würde ich es auch gelten lassen. Es ist wichtig, dass wir diese Leute, die wir an Tagen treffen, wo sie von morgens um acht bis abends um sechs konstant ein Interview nach dem anderen führen müssen, irgendwie aus der Reserve zu locken.
Lars-Olav Beier Das heißt, es ist auch deshalb keine gute Frage, weil sie vollkommen unoriginell ist und tausendmal gestellt wurde? Aber es gibt trotzdem einen ästhetischen Kern darin. Ihr Vater hat sie in DER PATE III besetzt und die Kritik hat sehr hämisch darauf reagiert. Da wäre es interessant zu erfahren, wie sie jetzt mit dieser Erfahrung in ihrer Rolle als Regisseurin umgeht, ob sie sie ihre Schauspieler beispielsweise besonders zu schützen versucht. Die Frage ist aber grundsätzlich: Welches Interesse hat man, wenn man ein Interview führt? Es gibt Interviews, die sich mit einem einzigen Film beschäftigen und Interviews, die das ganze Werk in den Blick nehmen. Es gibt Interviews, die versuchen, dem Künstler auf die Spur zu kommen oder versuchen, dem Menschen nahezukommen. Es gibt also eine Bandbreite. Was ist das Maximum, was man in einem guten Gespräch erreichen kann?
Anke Sterneborg Das Maximale erreicht man, wenn es tatsächlich irgendwann ein Ballwechsel wird und nicht immer nur ein Fragestellen bleibt. Und dann versucht man, möglichst viele Antworten zu bekommen, die nicht auch in allen Konkurrenzblättern vorkommen.
Lars-Olav Beier Es gibt also den Ehrgeiz, dass der Andere in einem Interview etwas sagt, was er womöglich noch nie gesagt hat oder über das er vielleicht noch nie nachgedacht hat.
Anke Sterneborg Wäre doch schön, wenn man das erreicht.
Lars-Olav Beier Muss man die Gesprächspartner überraschen? Mit etwas konfrontieren, das für sie neu ist?
Wilfried Reichart Das muss der Ausgangspunkt sein. Ob man jedes Mal dahin kommt, weiß ich nicht. Aber meine Ambition muss sein, etwas zu erfahren, was ich vorher nicht wusste.
Lars-Olav Beier Ist es so, dass man im Normalfall kein konfrontatives Gespräch führen, aber schon jemanden aus der Reserve locken will? Wie kriegt man das hin?
Anke Sterneborg Die allererste Frage ist wichtig, wenn man diesem Menschen zum ersten Mal oder vielleicht nach ein paar Jahren noch einmal begegnet. Man versucht, sie aus dem Trott herauszuholen. Wenn man es geschafft hat, ihr Interesse zu wecken, kann viel passieren. Dann kann man durchaus bei der dritten oder vierten Frage etwas frecher und provokanter werden. Ich würde das nie als erstes machen, ich will ja nicht, dass er sich zurückzieht, sondern will ihn herauslocken.
Lars-Olav Beier Bedeutet das auch, dass man mit der ersten Frage schon signalisiert, in welche Richtung das Gespräch gehen sollte?
Anke Sterneborg Nicht unbedingt. Es ist ja auch nicht so wahnsinnig leicht, diese originelle erste Frage zu finden. Das würde ich abhängig machen von den ganzen Grundbedingungen. Wie steht der Film zur aktuellen Lage, wie verhält er sich zum Werk? Das ergibt sich spontan.
Wilfried Reichart Ich habe mal ein Interview gelesen, da lautete die erste Frage: „Mr. Stone, sie tragen ja jetzt wieder einen Schnauzbart.“ Und da habe ich mich gefragt, welcher Gedanke ging dem Interviewer durch den Kopf, das zu fragen?
Lars-Olav Beier Der Interviewer war ich, zusammen mit meinem Kollegen Philipp Oehmke. Ich glaube, die Frage haben wir auch als erste gestellt, sie ist nicht erst beim Redigieren an diese Stelle gerückt. Bei einem Spiegel-Gespräch hat man sehr starke Vorgaben. Das Schlimmste, was Redaktion und Verlag befürchten, ist, dass es ein zu filmspezifisches Interview wird. Cinéphilie schadet da eher. Deshalb werden diese Gespräche auch zu zweit geführt. Man nimmt einen Redakteur, der vom Fach ist und einen anderen, der das Thema eher von außen betrachtet, der einen ergänzt und zugleich davon abhält, zu sehr in die Details zu dringen. In diesem Falle war es auffällig, dass sich Oliver Stone im Laufe der Jahre immer mit charismatischen Führerfiguren und Politikern beschäftigt hat und ich den Eindruck hatte, da fände eine Art von Anpassung statt: Er dreht einen Film über Castro und trägt einen Bart, er macht einen Film über Chavez und trägt einen Bart. Ich dachte, probieren wir das mal. Er hat sich dann auch tatsächlich dazu geäußert: „Es stimmt, ich trage jetzt wieder mein Diktatoren-Outfit.“ Und das war eigentlich ein spannender Einstieg in dieser Gespräch, der natürlich erst einmal gar nichts mit den Filmen zu tun hat. Aber als Spiegel-Redakteur muss man auch den Unterhaltungswert beachten. Das war eine lange Stecke für uns – vier Seiten –, und da muss man den Leser von vornherein für den Gesprächspartner interessieren und darf den Unterhaltungsaspekt nicht geringschätzen. Es gibt auch Passagen, in denen wir später intensiver auf sein Werk eingehen. Aber jemanden wie Olivers Stone will man nicht nur als Filmemacher interviewen, sondern als politische Figur – als die er sich selbst ja auch definiert. Natürlich will man auch nicht, dass er sich über Gott und die Welt äußert. Was er ja auch gern tut. Da muss man sich einen Weg bahnen durch das Gespräch. Aber die grundsätzliche Frage dabei ist: Will man dem Künstler auf die Spur kommen? Oder hat man auch den Anspruch, dem Menschen nahe zu kommen?
Anke Sterneborg Das hängt vom Auftraggeber ab. Aus den Interviews, die ich für die Süddeutsche Zeitung führe, bastle ich oft noch fünfminütige Porträts fürs Radio. Da haben die Redakteure oft den Wunsch, dass man den Menschen porträtiert. Die sind nicht so scharf darauf, den Filmemacher mit seinen spezifischen Eigenheiten vorgestellt zu bekommen. Es hängt natürlich auch davon ab, ob einem der Interviewte als Persönlichkeit interessant vorkommt. In der halben Stunde, die man da hat, betrachte ich das Werk, über das wir sprechen, in der Regel als Startrampe.
Lars-Olav Beier Wenn ich berühmte Leute interviewt habe, werde ich oft gefragt; Wie ist der eigentlich so? Ich antworte dann immer: Das weiß ich nicht. Ich habe ihn halt nur zwanzig Minuten erlebt. Es wäre anmaßend, zu behaupten, man habe ihn kennengelernt.
Wilfried Reichart Wir sind doch Journalisten und keine Psychologen. Natürlich kommen wir da nicht so weit. Aber es fehlt immer etwas, wenn ich mich nur mit dem Werk beschäftige. Es hat immer auch mit dem zu tun, der das gemacht hat. Mich hat stets interessiert, Regisseure zu treffen, wenn sie in einer neuen Phase waren. Godard habe ich öfters interviewt. Einmal, als er anfing, politische Filme zu machen, um mit ihm darüber zu reden, was das bedeutet. Und dann habe ich ihn später besucht, als er sich mit Video beschäftigt hat. Es gab immer ein konkretes Thema, was ich sehr wichtig finde. Michel Piccoli habe ich einmal interviewt, als er nur ausgeflippte Bourgeois-Rollen gespielt hat: TRIO INFERNAL, THEMROC, DAS GROSSE FRESSEN. Da wollte ich wissen, was ist los mit diesem Bourgeois, der in einer tollen Wohnung in Paris lebt, und nun plötzlich Lust hat, diese Anti-Bürger zu spielen? Kehren wir die Interviewsituation aber auch einmal um. Wir wissen, was wir über den denken, der uns gegenübersitzt. Aber denken wir auch darüber nach, was er über uns denkt? Will man Freund sein, Komplize oder Gegner? Wenn er uns interessant findet, hilft das dem Interview natürlich. Wie kann man das herstellen?
Anke Sterneborg Man kann es versuchen mit interessanten Fragen. Natürlich gefällt es denen immer, wenn sie merken, dass man sich vorbereitet hat – was anscheinend bei vielen Kollegen gar nicht selbstverständlich ist. Wenn sie merken, dass man sich mit ihrem Werk beschäftigt hat und sie mit Fragen konfrontiert, die für sie vielleicht noch einmal ein neues Licht auf ihre Arbeit werfen. Ja, definitiv, man muss interessant sein. Das ist die oberste Pflicht als Interviewer. Aber darüber hinaus ist es mir egal, was sie von mir denken.
Lars-Olav Beier Als ich anfing, Interviews zu führen, hatte ich vielleicht noch einen falschen Ehrgeiz. Ich hatte die Erwartung: Der soll mich jetzt respektieren und sehen, wie gut ich darin bin, seine Filme zu analysieren. Ich werde ihm jetzt Dinge zeigen, die hat er selbst noch nicht begriffen. Und er soll mich nicht vergessen. Das ist natürlich idiotisch. Es gelingt ja auch im Regelfall nicht. Man muss sich davon verabschieden, einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu wollen.
Wilfried Reichart Ist es eigentlich so, dass es nur Interview-Verabredungen zu aktuellen Filmen gibt? Ich kenne das anders. Beim Fernsehen hatte ich das große Privileg, mir aussuchen zu können, wen ich überhaupt interviewen will. Und dann habe ich vorher auch mit denen telefoniert. Dieses Vorher finde ich unendlich viel wichtiger als die erste Frage.
Anke Sterneborg Aber dieses Vorher gibt es in unserem Geschäft eigentlich gar nicht. Normalerweise arbeite ich so, dass ich Angebote kriege im Zusammenhang mit einem Filmstart, und dann überlege ich mir, ob ich es interessant finden könnte, mit demjenigen zu sprechen und halte dann Rücksprache mit den Redaktionen, über die das Gespräch veröffentlicht werden kann. Wir sind dann schon relativ privilegiert, wenn wir 20 oder 30 Minuten allein mit den Herrschaften haben. Für die meisten Kollegen läuft es auf eine Gruppensituation hinaus, wo es gar nicht zu einem richtigen Gespräch kommen kann.
Wilfried Reichart Und führt man nur Interviews mit Leuten, die man interessant findet? Wie redet man mit Jemandem, den man für keinen guten Filmemacher hält und dessen Film man nicht mag?
Anke Sterneborg Das findet glücklicherweise selten statt.
Wilfried Reichart Florian Henckel von Donnersmarck hat uns in dieser Woche doch eine Steilvorlage für diese Problematik geliefert. Ich würde beispielsweise jetzt sehr gern einmal mit Johnny Depp sprechen, was er sich dabei gedacht hat, diesen Film zu machen? Ob er zufrieden ist mit dem, wie es abgelaufen ist, ob der Regisseur eingehalten hat, was er versprochen hat? Das könnte ein ungeheuer interessantes Interview werden – wenn er überhaupt dazu bereit wäre.
Anke Sterneborg Er wird jetzt und auch später bestimmt nicht gegen den Film sprechen. Vielleicht gibt’s dann andere Regisseure, die das lesen und denken: Mit dem können wir aber nicht arbeiten. Ich glaube, die müssen auch bestimmte Regeln einhalten.
Lars-Olav Beier Mich würde interessieren, was sich verändert, wenn man jemanden im Laufe der Jahre häufiger trifft? Werden die Interviews besser? Oder verliert man da auch was?
Anke Sterneborg Die können schon besser werden. Ich höre mir die alten Interviews in der Regel noch einmal an und nehme unter Umständen auch Bezug auf etwas, das damals gesagt wurde.
Lars-Olav Beier Was gehört zu einer guten Vorbereitung? Was macht man, damit ein Gespräch richtig gut wird?
Wilfried Reichart Man muss die Filme und die Biographie kennen. Man liest, was über ihn geschrieben wurde. Man sammelt sehr viele Informationen, um in seine Welt einzutreten. Und dann wartet man auf die Inspiration, dass daraus was entsteht.
Lars-Olav Beier Wenn man mehre Interviews gelesen hat und einschätzen kann, wie derjenige eine bestimmte Frage beantworten wird: Stellt man sie nicht oder Umständen gerade dann?
Anke Sterneborg Erstens täuscht man sich oft. Manchmal kommt doch etwas völlig anderes, als erwartet. Zweitens kommt es auch da wieder auf den Verwendungszweck an. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen Radio und Print. Bei einem Radiobeitrag kommt es vor, dass ich ein bestimmtes Zitat tatsächlich aus dem Munde des Gesprächspartners hören und nicht selbst schreiben möchte. Auch in einem einzigen Medium kann es Unterschiede geben: Im Feuilleton der Süddeutschen habe ich zum Beispiel eine ganz andere Aufgabe als im Service-Teil SZ extra, wo ich den Film mit nur vier Fragen vorstellen muss.
Lars-Olav Beier Geht es auch darum, diese Frage zu stellen, weil bei ihr zentrale Aussage des Filmemachers herauskommt?
Wilfried Reichart Ich denke, man kann sie stellen, obwohl man weiß, was herauskommt. Wenn er seine gestanzte Antwort gibt, wäre das auch Ein Anlass, sie zu reflektieren: Warum sagst Du immer dasselbe, hat sich nicht vielleicht etwas verändert in der Zwischenzeit, in der andere Filme entstanden sind? Man kann also einen Mehrwert herstellen mit bereits bekannten Antworten.
Lars-Olav Beier Ist ein solcher Diskurs möglich in 20 Minuten?
Anke Sterneborg Manchmal ja. Es gibt natürlich hundert Möglichkeiten, weshalb das nicht zustande kommt: Er ist müde, ausgelaugt. Aber es passiert schon, dass sich ein Gespräch von einer zentralen Frage in unbefahrene Gewässer bewegt.
Lars-Olav Beier Kann man sich in der Interviewsituation gehen lassen, wenn ein Gesprächsstrang interessant läuft, aber keine Zeit für andere Themen mehr bleibt? Fragt man sich nicht: Wie bekomme ich das nachher in ein lesbares Gespräch?
Anke Sterneborg Für die Süddeutsche ist so ein Gespräch in der Regel immer abdruckbar. Die mögen es, wenn man sich konzentriert mit einem bestimmten Thema beschäftigt.
Wilfried Reichart Beim Fernsehen nimmt man ja die Antworten als Statements und arbeitet mit Filmausschnitten. Wie ist das bei Zeitungen? Werden die Interviews in ihrem tatsächlichen Ablauf veröffentlicht? Oder verändern Sie den Ablauf eines Gesprächs, damit es besser funktioniert?
Anke Sterneborg Man muss meist an der Dramaturgie etwas feilen. Manchmal setze ich eine Zwischenfrage, wenn mir die Antwort zu lang erscheint. Es ist oft so, dass die erste Frage, wenn sie nicht funktioniert hat, keineswegs die erste ist, die dann in der Zeitung steht. Oder sie fällt ganz weg.
Lars-Olav Beier Beim Spiegel redigieren wir extrem stark, weil wir einen bestimmten Rhythmus haben wollen. Bei langen Antworten schieben wir ständig Fragen dazwischen. Daher haben wir aber auch seit ewigen Zeiten das Prinzip, das fertige Gespräch dem Gesprächspartner oder dessen Repräsentanten noch mal zum Gegenlesen zu geben. Nicht weil wir denken, sie nehmen etwas zurück – das tun sie beim Spiegel eher selten –, aber sie sollen fairerweise das Endergebnis zu lesen bekommen.
Anke Sterneborg Gilt das auch für ausländische Gesprächspartner?
Lars-Olav Beier Ja. Prinzipiell ist es so, dass die Leute in den von uns redigierten Gesprächen deutlich besser wegkommen, als im Originaltext. Ein klassischer Fall ist Tom Cruise, der keinen Satz zu Ende bringt. Man könnte das so wirklich nicht drucken. Wir wollen aber, dass es ein gutes, lesbares Gespräch ergibt. Deshalb müssen wir dem Gesprächspartner zuliebe oft relativ stark eingreifen, Sätze zu Ende führen, auch Gedanken zu Ende führen. Eine andere Frage: Muss man sich manchmal auch dumm stellen, um etwas herauszubekommen?
Anke Sterneborg Das mache ich ungern. Ich glaube nicht, dass wir das müssen.
Lars-Olav Beier Bei uns herrscht die große Angst, der Interviewer könnte als Spiegel-Schlaumeier erscheinen, der abgehobene Fragen stellt. Ich bin selbst Teil dieses Systems, ich verteidige es gar nicht. Aber wir verfolgen die Idee, dass jeder, der sich halbwegs für das Thema interessiert, auch in der Lage sein sollte, dem Gespräch zu folgen, ohne weitergehende Kenntnisse zu haben. Das ist ganz klar die Politik und geht durch alle Bereiche.
Wilfried Reichart Ich habe vor kurzem ein Interview gesehen, dass der Francois Bondy mit Jean Genet geführt hat. Das war extrem kompliziert, das versteht sicher nicht jeder, aber etwas kann auch dann absolut spannend sein, wenn man nicht alles sofort nachvollziehen kann. Es sollte möglich sein, es so nuanciert wie möglich zu machen.
Lars-Olav Beier Das ist auch vom Publikum abhängig. Du arbeitest ja für verschiedene Medien. Überlegst Du dir vorher, für welches Publikum du schreibst und überlegst dir die Fragen dementsprechend?
Anke Sterneborg Ja, das geht ja gar nicht anders. Wobei die O-Töne fürs Radio nur ein Nebenprodukt sind der anderen Verwertungen. Natürlich muss es für die Süddeutsche allgemeinverständlich sein. In einer Zeitschrift wie epd Film hat man einen anderen Freiraum, da kann man spezifischere Fragen stellen.
Lars-Olav Beier Gibt es dabei auch Fragen, die Du nicht aus eigenem Interesse, sondern als Stellvertreter des Lesers stellst?
Anke Sterneborg Ich glaube nicht, dass ich eine Frage stellen würde, deren Antwort mich nicht interessiert.
Lars-Olav Beier Für mich ergibt sich dieser Konflikt gelegentlich. Wenn man Fragen am Leser vorbei stellt, würde das Interview beim Spiegel sicher nicht gedruckt. Ich muss mich schon fragen, von welchem Interesse ist das für den Leser? Aber eine Frage zu stellen, die mich per se gar nicht interessiert? Das würde ich nicht tun. Ich glaube, es gibt Wege, das in Einklang zu bringen. Es gibt einen inhaltlichen Kern, auf den man hinauswill und ganz unterschiedliche Wege, dorthin zukommen. Wie war das bei Ihren Fernsehinterviews? Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, wie viele Leute einschalten oder wer da einschaltet?
Wilfried Reichart Ich habe ja noch zu privilegierten Zeiten gearbeitet, wo man die Sendungen machen konnte, die man machen wollte. Mir ging es darum, dass ich das verstehe, was ich tue. Ich habe mich da aber schon in einer Gemeinschaft von vielen Interessierten gesehen. Ich wollte etwas Bestimmtes herausfinden und das war Gegenstand meiner Fragen. Es ist nicht zu elitär, wenn man versucht darzustellen, wie ein Film von Rivette oder von Steven Soderbergh funktioniert.
Lars-Olav Beier Bei Fernsehinterviews gibt es ja noch eine Ebene mehr als im Rundfunk und der Zeitung: das Gesicht und etwas Atmosphärisches. Hast Du schon einmal das Gefühl gehabt, es ist schade, dass der Leser daran nicht teilhaben kann?
Anke Sterneborg Ehrlich gesagt, nein. Im Print fehlt mir nichts. Ich habe es vielmehr immer als Freiheit empfunden, dass man ganz anders schneiden und redigieren kann.
Lars-Olav Beier Die Leute reden ja auch freier mit Printmedien. Die Interviews in TV- Boulevardmagazinen beruhen heute auf Drei-Minuten-Slots. Da antworten die Interviewten dementsprechend, sie müssen in dreißig Sekunden alles unterbringen. Das können sie meist auch, wenn sie Schauspieler sind. Aber es kommt inhaltlich natürlich nichts dabei mehr heraus.
Wilfried Reichart Ich habe beim Lesen der Interviews in der Wochenendbeilage der Süddeutschen die Erfahrung gemacht, dass ich das Vorwort sehr gern lese. Ich glaube, dass es wichtig ist zu erfahren, wo haben sie sich getroffen, was war sein erster Eindruck. Das Vorwort setzt das Gespräch in ein bestimmtes Licht. Dadurch entsteht ein Bild.
Lars-Olav Beier Aber zeugt das nicht schon von einem gewissen Misstrauen gegenüber dem Genre, wenn man dem Interview etwas voranstellen muss?
Anke Sterneborg Aber das schadet doch nichts. Es führt auch zu dem Kern, den wir alle zu ergründen versuchen: mit wem man da redet. Das kann man kurz anspielen, aber es muss sich im Gespräch natürlich auch einlösen.
Lars-Olav Beier Hast Du bei einem Interview manchmal das Gefühl, es läuft nicht optimal, aber als Porträt wäre es besser?
Anke Sterneborg Natürlich gibt es Interviews, die in Frage und Antwort nicht funktionieren, weil kein Fluss, keine Spannung drin ist. Das kann man dann in der Regel der Redaktion auch ansagen. Da ist das Porträt oft eine Rettung. Man muss dann klug auswählen, was man zwischen Anführungsstriche setzt, es muss eine relevante, pointierte Aussage sein.
Wilfried Reichart Ich finde das Porträt ein interessantes Genre: die Statements und das Werk in einem Text zusammenbringen, in dem die Person anwesend ist.
Lars-Olav Beier Diese Form ist in den USA sehr beliebt. Einer der Gründe ist, dass die Amerikaner mit Zitaten ganz anders umgehen. Für sie zählt wirklich der Wortlaut. Wir machen aus einem unvollständigen Satz einen vollständigen, aber sie nehmen den Satz und setzen dann in Klammern, was auch noch hätte gesagt werden müssen. In Interview-Form könnte man das gar nicht lesen, das wäre Nerv tötend. Deshalb wählen sie häufig die Form des Features. Ich finde es immer schwierig, die Sätze, die man selbst schreibt, in das richtige Verhältnis zu den Zitaten zu setzen. Es müssen zwei Ebenen sein, die unabhängig voneinander funktionieren. Wenn das Zitat nur etwas belegt, finde ich es unbefriedigend.
Wilfried Reichart Haben Sie eigentlich auch Interviews geführt, die nicht veröffentlicht wurden, weil sie so uninteressant waren?
Lars-Olav Beier Haufenweise. Was sicher auch manchmal an mir lag. Aber wir drucken auch nur ganz wenig. Weniger denn je, dafür aber länger. Und da liegt die Messlatte wahnsinnig hoch.
Anke Sterneborg Es passiert, aber nicht wahnsinnig häufig. Dann hat man immer noch die Möglichkeit, es auf den Vermischten Seiten zu bringen.
Lars-Olav Beier Ich habe den Eindruck, dass auf diesen bunten Seiten viel mehr Interviews zum Kino veröffentlicht werden als in den Feuilletons.
Anke Sterneborg Das ist schon sehr getrennt voneinander. Diese Seiten machen ihre eigenen Interviews, oft mit Stars und unter anderen Bedingungen. Es ist eher selten, dass ein Feuilleton-Interview dorthin rutscht. Der neue Feuilletonchef der Süddeutschen findet, dass es beim Film zu viele Dopplungen von Interviews und Rezensionen gibt. Deshalb erscheinen auch weniger Interviews dort.
Lars-Olav Beier Das Stargespräch wirft noch einmal ein anderes Problem auf. Ich finde es tendenziell beunruhigend, wenn normale Leser sie zum Maßstab für ein Interview nehmen. Ist es nicht meist dankbarer, mit Regisseuren zu sprechen, weil sie ohnehin ihren Film stärker reflektieren müssen?
Anke Sterneborg Generell würde ich schon sagen, dass Regisseure die interessanteren Gesprächspartner sind, oder Vertreter von anderen kreativen Bereichen wie Kameraleute oder Kostümbildner. De langweiligeren Interviews habe ich immer mit Schauspielern geführt. Das hat mich zu Anfang auch wahnsinnig enttäuscht: Man trifft Schauspieler, die man unheimlich mag, und dann sind sie so einsilbig! Aber man muss differenzieren: Schauspieler, die vom Theater kommen, reflektieren ganz anders, wie sie zu den Rollen stehen.
Wilfried Reichart Ich habe zum Beispiel einmal zusammen mit Hans-Christoph Blumenberg Lino Ventura interviewt. Wir saßen in Paris vor seinem Empire-Schreibtisch und er hat uns sofort als Cinéphile erkannt. Er bekam eine unglaubliche Angst, dass er mit seinem populären Kino in die Mangel genommen wird. Wir haben Fragen und Fragen gestellt und er hat nur das Notwendigste geantwortet. Es ist uns nicht gelungen, ihn zu öffnen. Andere hätten es vielleicht geschafft. Gespräche mit Schauspielern sind etwas, das in Talkshows stattfindet. Mich interessiert generell die Frage, ob man zwischen Gespräch und Interview unterscheiden muss. Vielleicht ist das sogar ein Widerspruch. Geht man in einem Gespräch eher auf den Interviewten ein? Folgt man ihm stärker, arbeitet man mit dem, was er einem anbietet? Das ist doch viel besser, als einen Fragenkatalog abzuhandeln.
Anke Sterneborg Ich glaube, der Übergang kann fließend sein. Ich habe immer einen Not-Zettel, einen Katalog, der auch eine gewisse Dramaturgie besitzt, von dem ich aber meistens nur die erste und zweite Frage stelle. Danach lasse ich es dann laufen. Genau in dem Moment ergibt sich doch schon ein Gespräch. Ich lese die Fragen auch nicht vom Zettel ab.
Lars-Olav Beier Das wäre ja auch tödlich. Das Schlimmste, das passieren kann, ist es, den Blickkontakt zu verlieren.
Wilfried Reichart Führt zum Beispiel der Alexander Kluge in seinen Fernsehsendungen Interviews oder Gespräche? Wenn er mit Heiner Müller redet, hat man eher den Eindruck, da entsteht verbale Literatur. Müller hat selten über seine Werke, sondern über andere Dinge geredet. Da wird das Interview als literarische Gattung gestellt.
Lars-Olav Beier Bei Kluge ist das schwer zu unterscheiden, weil er die Sendungen natürlich auch immer nutzt, um zu zeigen, wie schlau er selbst ist.
Wilfried Reichart Es gibt bei Kluge aber etwas, das mich immer sehr beeindruckt hat. Der hat mal ein Interview gemacht mit einem Banker, von dem man wusste, er hat die Kunden betrogen und kommt vor Gericht. Er hat nicht mit ihm darüber gesprochen, wie er betrogen hat oder wie die Gier des Kapitalismus alles kaputtmacht. Sondern er hat ihn gefragt, was er anziehen würde, wenn er morgen vor Gericht erscheint. Ganz konkret: im Anzug oder im Pullover, mit Krawatte oder nicht. Und plötzlich, in der Beschreibung, wie er dort auftreten wird, welchen Eindruck er machen will, lieferte er viele interessante Antworten, die Kluge sonst nicht bekommen hätte.
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