Wie Eiswürfel in einem Whiskyglas
Erstes Gespräch im Filmhaus am Potsdamer Platz am 16. 12. 2010
Karlheinz Oplustil (epd Film) und Gerhard Midding (Berliner Zeitung) diskutieren darüber, wie die Cahiers du Cinéma und das „Dictone Gel“ in den 50er Jahren das Filmgespräch veränderten.
Gerhard Midding Frankreich hat den Vorzug, dass sich dort Revolutionen leicht an einem bestimmten Datum festmachen lassen; man denke nur an den 14. Juli. Der Tag, um den es heute geht, ist der 20. Januar 1954. Was ist da passiert?
Karlheinz Oplustil Revolution ist wahrscheinlich etwas hoch gegriffen. Aber an diesem Tag fand ein Interview mit einer wichtigen technischen Neuerung statt. Es war ein langes Gespräch, das zwei Filmkritiker der Cahiers du Cinéma, François Truffaut und Jacques Rivette, mit dem Regisseur Jacques Becker führten. Es wurde mit einem Tonbandgerät aufgenommen, dessen Namen man heute noch kennt. Lange Zeit erschien nämlich in den Cahiers eine Anzeige, in der damit geworben wurde, dass die dort veröffentlichten Gespräche etwa mit Jacques Becker, Luis Bunuel, Howard Hawks und Alfred Hitchcock mit einem „Dictone Gel“ geführt wurden. Es war ein relativ kleines, offenbar handliches, jedenfalls aber transportables Tonbandgerät. Das Gespräch mit Jacques Becker wurde dann im Februar-Heft 1954 veröffentlicht. Es nimmt zehn, zwölf Seiten ein, ist also ein sehr ausführliches Gespräch. Auch in der Folge führten Rivette und Truffaut solche Gespräche, zunächst mit französischen Regisseuren wie Jean Renoir, später auch mit amerikanischen. Neu war, dass diese Gespräche sehr ausführlich und detailliert geführt wurden. Man muss sich das einmal aus dem zeitlichen Abstand vorstellen: Die Technik der Tonaufnahme war damals noch nicht sehr entwickelt. Truffaut war damals Anfang 20, Rivette nur ein paar Jahre älter.
Gerhard Midding Was bedeutete es, dass diese Gespräche mit einem Tonband geführt wurden?
Karlheinz Oplustil Das bedeutete einerseits, dass sie auch in der Wiedergabe eine bestimmte Länge haben konnten. Die Antworten, die Rede des Interviewten, konnten relativ original erhalten werden, auch mit verschiedenen Denkbewegungen, Abschweifungen und Pausen. Ein Lachen oder ähnliches wird auch kenntlich gemacht, das Spontane wird erhalten. Um das erste Gespräch einzuordnen, muss man erwähnen, dass im Heft zuvor, im Januar 1954, Truffauts berühmter Aufsatz „Eine gewisse Tendenz im französischen Kino“ erschienen war, eine Polemik gegen das französische Qualitätskino, in der er mit verschiedenen Regisseuren und vor allem Drehbuchautoren hart ins Gericht ging. Es hatte also einen bestimmten Stellenwert, wenn er und Rivette sich mit Becker und Jean Renoir beschäftigten. Ihre Gespräche waren eine folgerichtige Konsequenz der Autorentheorie, die sie vertraten. Sie geht davon aus, dass ein Regisseur, der als auteur angesehen wurde – und das waren eben nicht alle Regisseure –, in jeder Hinsicht interessant ist, auch noch in seinem schwächsten Film. Die Qualitäten, die er als Person besitzt, kann er eben auch in einem Gespräch offenbaren. Truffaut und Rivette wurden dabei zu einem eingespielten Team, fast einem Markenzeichen. Man hat dann ein Wortspiel erfunden und ihre beiden Namen zusammengezogen: Trufette und Rivaut. Es wird übrigens nie ausgewiesen, wer welche Frage gestellt hat.
Gerhard Midding Gab es in der Zeitschrift davor schon Interviews?
Karlheinz Oplustil Ich habe nur zwei entdeckt, die wohl anhand von Notizen und Gedächtnisprotokollen verfasst wurden. Das ist einmal ein Aufsatz von Jacques Rivette, der „Begegnung mit Otto Preminger“ heißt: ein längerer Bericht, in dem er schildert, wie er Preminger gegenüber sitzt, ihm Stichworte gibt und ihn bittet, aus seinem Leben zu erzählen. Und es gibt einen sehr hübschen Bericht von Jacques Doniol-Valcroze über eine Begegnung mit Jean Renoir, der 1951 aus den USA nach Frankreich zurückgekehrt war. Er berichtet, wie er ihn im Hotel aufsucht und dass eigentlich auch André Bazin dabei sein sollte, der sich aber verspätete. Später fügt er dann auch zwei Passagen ein, die Frage und Antwort enthalten. Als direkte Vorläufer dieses ersten, mit dem Tonband aufgenommenen Interviews gab es nur Gespräche in Rundfunksendungen, die aufgezeichnet und zum Teil auch veröffentlicht wurden. Es ist bekannt, dass Truffaut eine besondere Wertschätzung für ein Gespräch mit dem Schriftsteller Paul Léautaud hegte. Diese Tradition gibt es ja auch bei uns immer noch. Im Deutschlandfunk beispielsweise werden Sonntagnachmittags schöne Gesprächssendungen mit interessanten Gästen ausgestrahlt.
Gerhard Midding In ihrer Truffaut-Biographie schreiben Antoine de Baecque und Serge Toubiana, dieses erste Interview habe den filmkritischen Ansatz völlig umgekrempelt. Ich habe ein paar Zeitzeugen und Historiker zur Interviewtradition in Frankreich befragt, darunter Jean-Pierre Jeancolas, der in einem Buch über die französische Filmkritik genau über diese Epoche geschrieben hat. Er war Autor der Konkurrenzzeitschrift Positif, bestätigte mir aber, dass die Cahiers diese neue Form durchgesetzt haben. Bis dahin gab es so genannte Interviews allenfalls in Tageszeitungen, nicht in der Fachpresse. Er erinnerte sich an Artikel aus den späten 30er Jahren, in denen es kurze Zitate von Renoir oder Julien Duvivier gab, oft nur Anekdoten. Für ihn stoßen wir mit den Interviews der Cahiers in eine neue Dimension beim Umgang mit dem Werk eines Regisseurs vor: Man versucht zu verstehen, wie ein Filmemacher arbeitet.
Karlheinz Oplustil Man muss natürlich auch sehen, dass die Interviewer der Cahiers entsprechend vorbereitet waren – und es auch sein mussten, um solche Gespräche zu führen. Was wir hier betreiben, ist ja Archäologie. Heute kann man mit Hilfe von DVDs im eigenen Wohnzimmer eine Retrospektive mit Filmen von zum Beispiel Apichatpong Weerasethakul oder Hong Sang-soo veranstalten. Aber damals waren die Filme nicht so leicht zugänglich. Truffaut und Rivette, später auch Claude Chabrol und andere Autoren, brachten jedoch die nötigen Kenntnisse mit. Diese Art von vertieftem Gespräch setzt voraus, dass der Interviewer mit dem Werk gut vertraut war. Das war damals nur möglich, wenn man ein eifriger Besucher von Filmclubs und der Cinématheque Française war.
Gerhard Midding Gab es eine Programmatik, die in der Zeitschrift auch öffentlich gemacht wurde? Es wäre ja zu vermuten, dass eine gewisse Interviewpolitik betrieben wurde. Karlheinz Oplustil Zu Anfang wurden die Interviews nur mit Regisseuren geführt, niemals mit einem Schauspielern. Später einmal wurde Gene Kelly interviewt, allerdings nicht als Tänzer oder Choreograph, sondern zu einem Film, bei dem er Regie geführt hat. Im Januar 1955 erscheint ein Interview mit Abel Gance, in dessen Einführung kurz angesprochen wird, nach welchen Prinzipien die Interviewer vorgehen. Die erste Regel besteht darin, nur Regisseure zu interviewen, die sie schätzen. Die zweite Regel ist, dass sie keine bösartigen, hinterhältigen Fragen stellen wollen. Das dürfte den Hintergrund haben, dass Abel Gance zwar mit Stummfilmen wie NAPOLEON berühmt geworden war, aber aktuell einen ziemlichen Schmachtfetzen gedreht hatte, DER TURM DER SÜNDIGEN FRAUEN. Offenbar war es den Cahiers eher peinlich, diesen Film zu mögen. Es gab zwar einige Fragen zu ihm, aber nur sehr höfliche.
Gerhard Midding In welchem Tonfall wurden diese Gespräche geführt?
Karlheinz Oplustil Es geht oft ums Werk, um praktische Dinge, es wird viel zu produktionsgeschichtlichen Hintergründen gefragt. Es fehlt etwas an kritischen Fragen. Eher zeigt sich eine Haltung von Bewunderung. Oft schmeicheln sie den Regisseuren, die dann bereitwillig erzählen.
Gerhard Midding Stellen sie ihre Fragen nur als Journalisten, oder bereits als zukünftige Filmemacher?
Karlheinz Oplustil Das könnte man vielleicht erwarten, aber ich kann es nicht ganz nachvollziehen. Es sind meistens Fragen, die von Journalisten gestellt werden. Man findet selten konkrete Fragen zur Inszenierung, wie man sie vielleicht von einem zukünftigen Regisseur erwarten würde. Die Interviews von Truffaut, Rivette und Chabrol gehen nur bis 1957/58. Danach haben sie andere Interessen, denn es beginnt die Zeit, in der sie selbst ihre Filme machen. Chabrol taucht noch einmal als Interviewer auf, nachdem er schon einen Film gedreht hat. Diese Art von Gespräch wird aber von anderen Redakteuren weiterhin geführt.
Gerhard Midding Truffaut kehrt allerdings mit seinem Buch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ noch einmal zum Interview zurück, nachdem er schon Regie geführt hat. Die Überschrift unseres Gesprächs geht auf eine Anekdote zurück, die er im Vorwort erzählt. Beim Warten auf einen Interviewtermin stürzten er und Chabrol in einen zugefrorenen Swimming Pool, eine Episode, die Hitchcock bei einer späteren Begegnung aufgriff, in dem er sagte: „Meine Herren, ich muss jedes Mal an Sie denken, wenn ich in einem Whiskyglas Eiswürfel aneinander stoßen sehe.“
Karlheinz Oplustil Truffauts große Sorge war, ob das Tonband heil geblieben sei. Chabrol hielt es dann hoch und das Wasser lief in Strömen daraus. Das Buch ist natürlich die Apotheose dieses Interviewstils. Es widmet sich einem Regisseur und seinem Werk in einer Ausführlichkeit, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Das brauchte eine enorme Vorbereitung. Alles fing 1962 an mit einem 50 Stunden langen Interview, das innerhalb von einer Woche geführt wurde. Daran schlossen sich nachträgliche, ergänzende Interviews an. Beachtlich ist, dass Truffaut sich als ein etablierter und erfolgreicher Regisseur die Zeit nahm und noch das Interesse daran hatte. Es war eine äußerst mühevolle Arbeit, die sich über Jahre hinzog. Es gab eine endlose Korrespondenz. Das Buch ist dann erst 1966 erschienen. Die beiden drehten in der Zwischenzeit natürlich auch noch eigene Filme. Truffaut wollte dabei auch etwas lernen; zwischen beiden bestand ja eine Art Lehrer-Schüler-Verhältnis. Das hat Truffaut später in seine Filme eingebracht. Und Truffaut war bekanntlich von Büchern besessen, er wollte ein großes Buch machen. Und es wurde eines, das Folgen hatte.
Gerhard Midding Ja, es verdeutlicht, wie einflussreich dieser Interviewstil war. Ich habe mal stichprobenartig in Großbritannien, Amerika und Deutschland nach den Spuren gesucht. In der britischen Zeitschrift Sight and Sound fand ich bis Mitte der 50er Jahre ganz, ganz wenige Interviews. Das waren, wie für Frankreich beschrieben, eher Berichte über Begegnungen. Ich fand nur ein Porträt, für das Karel Reisz Anfang der 50er Jahre John Huston interviewte. Erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre erscheint erstmalig ein Frage-Antwort-Interview, das geführt wurde, als die Schauspielerin Lilian Gish in London auf der Bühne gastierte. Der Kritiker David Thomson erzählte mir, welchen Eindruck das Buch „Picture“ auf ihn gemacht hatte, das die Reporterin Lilian Ross über die Dreharbeiten zu John Hustons DIE ROTE TAPFERKEITSMEDAILLE geschrieben hatte. Das sei das erste Mal gewesen, dass er das Gefühl hatte, da hat jemand zugehört, wie Filmleute wirklich über ihre Arbeit sprechen. Bis dahin gab es eher Porträts, wie wir sie schon beschrieben haben und bei denen man nie sicher sein konnte, ob die Zitate nicht aus den Publicityabteilungen der Studios stammten. Aber Ross‘ Buch enthält keine Interviews, das Beobachtete und Belauschte geht in eine andere literarische Form ein. Für Deutschland gilt ein ähnlicher Befund. Die Filmkritik veröffentlicht die ersten Interviews erst 1961, vier Jahre nach ihrer Gründung. Oft sind das noch Übernahmen aus Frankreich. Bei der Zeitschrift Film sieht das schon anders aus, da erscheint bereits 1963 in der zweiten Nummer ein Interview. Auch dort werden anfangs oft Interviews aus Frankreich und Italien übernommen. Es fällt auf, wie häufig Alain Resnais in dieser Zeit interviewt wird. Filme wie LETZTES JAHR IN MARIENBAD waren offenbar kulturelle Ereignisse, die im Gespräch entschlüsselt, ergründet werden mussten. Wie sind deine Leseerinnerungen aus dieser Zeit?
Karlheinz Oplusti Außer der Filmkritik gab es in den 50er und 60er Jahren zunächst keine anderen Filmzeitschriften, auch später ist es ja nicht so üppig. Wobei man der Filmkritik zugutehalten muss, dass sie ab Mitte der 60er Jahre die Entstehung des Neuen Deutschen Films auch mit Interviews sehr intensiv begleitete. Die Zeitschriften waren natürlich finanziell nicht so gut gestellt, dass sie sich Reisen leisten konnten.
Gerhard Midding Das Filminterview setzt sich in Deutschland also erst spät durch. In der DDR-Zeitschrift Film und Fernsehen ist es ein integraler, wichtiger Bestandteil. Dass in den Filmbüchern der „Blauen Reihe“ bei Hanser das Werkstattgespräch obligatorisch wurde, zeigt dann aber, wie sehr das Genre akzeptiert wird. Worin siehst Du heute das Vermächtnis der Cahiers-Interviews?
Karlheinz Oplustil Es gibt auch ein gewisses negatives Erbe. Diese Art von Gesprächen brachte natürlich eine Aufwertung des Regisseurs, was aber auch die Eitelkeit von Regisseuren bedient. Das hat dazu geführt, dass man bei jeder Gelegenheit und zu den lächerlichsten Filmen lange Interviews mitgeliefert bekommt. Oft sind das Interviews, in denen die Absichten des Films ganz wunderbar geschildert werden, von denen im Film selbst aber wenig zu sehen ist. Andererseits sind ausführliche und sachkundige Interviews immer noch Standard bei anspruchsvollen Filmzeitschriften oder auch online. Und in der Nachfolge von Truffauts Hitchcock-Buch sind schöne Interview-Bücher entstanden, die wunderbare Quellen sind. Ich denke an Rui Nogueiras Gespräche mit Jean-Pierre Melville,„Kino der Nacht“, oder die Bücher zu Michael Ballhaus von Tom Tykwer oder zu Walter Murch von Michael Ondaatje.
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