Begegnung mit ungewissem Ausgang
Viertes Gespräch im Filmhaus am Potsdamer Platz am 16.12. 2010
Der Filmemacher Andres Veiel ("Black Box BRD", "Wer, wenn nicht wir") berichtet im Gespräch mit Gerhard Midding über seine Erfahrungen mit Interviews
Gerhard Midding Um direkt an das vorangegangene Gespräch anzuknüpfen: Was hältst Du vom Gegenlesen, siehst Du es als eine Notwendigkeit an?
Andres Veiel Manchmal bestehe ich darauf. Vor allem, wenn ich nicht nur für mich die Verantwortung trage, sondern auch für die Protagonisten, die in meinem Film auftreten. Oft geht es einfach nur darum, kleine Fehler, einen falsch geschriebenen Namen etwa, zu verbessern, manchmal aber auch um richtige Missverständnisse, wo sich ein Protagonist sich angegriffen fühlen könnte oder der Sinngehalt in eine falsche Richtung geht. Das wird aber nicht durch lange Verträge geregelt, sondern läuft eigentlich immer auf Vertrauen und Zuruf. Den Journalisten wird dann klar, dass es noch einmal eine zusätzliche Dimension gibt: dass ich die Hand über die Menschen halten muss, die in dem Film vorkommen, weil ich da an heiklen Punkten operiere, sozusagen am offenen Herzen. Ich schaue dann noch einmal drauf, bin aber auch nicht jemand, der das Interview neu formuliert. Es ist im Interesse von beiden Seiten, dass bestimmte Daten stimmen. Das ist vor allem nötig, wenn jemand mitschreibt und dabei den einen oder anderen Gedanken verkürzt, weil er eine zehnzeilige Antwort auf eine fünfzeilige bringen will. Und in der Kürzung entsteht dann vielleicht, gar nicht mutwillig, eine Verfälschung.
Gerhard Midding Bei Interviews setzt sich also eine Sorgfaltspflicht fort, die aus der Art erwächst, wie Du bisher deine Dokumentarfilme gemacht hast?
Andres Veiel Ja. Sie entsteht, wenn ich mit Protagonisten wie Traudl Herrhausen aus BLACK BOX BRD oder den Eltern der Täter in DER KICK über zwei Jahre einen Kontakt aufbaue, und gewisse Zusagen treffe, über was gesprochen wird und was nicht. Wenn sie selbst nicht vor die Presse gehen, ich aber zu der Arbeit mit ihnen befragt werde, zu Hintergründen, Zusammenhängen, dann kommt es sogar vor, dass ich sie bitte, noch einmal auf das Interview zu schauen: Ich sage das und das über euch, ist das in Ordnung? Es ist wichtig, genau zu sein.
Gerhard Midding Es gibt da also einige Filter.
Andres Veiel Aber nicht im Sinne von Zensur, sondern von sachlicher Genauigkeit. Ich habe auch nie erlebt, dass Protagonisten sagen: So geht’s aber nicht. Oder ich mich schäme, etwas gesagt zu haben.
Gerhard Midding Du wirst schon bald wieder in der Pflicht sein, Interviews zu führen, wenn WER WENN NICHT WIR auf der Berlinale läuft und danach im Kino startet. Wie wappnest Du dich für den Tag, wenn Du weißt, Du hast jetzt zehn Interviews vor dir?
Andres Veiel Gar nicht. Wenn man so lange an einem Projekt arbeitet wie ich, hat man einen Fundus von Dingen, die wichtig sind und die sich in Sedimenten in der Arbeit abgelagert haben. Und dann hängt es sehr von der Neugierde desjenigen ab, der mir gegenüber tritt. Ich erwarte natürlich, dass er den Film gesehen hat. Auch das Gegenteil ist schon vorgekommen, und ich merke, die Fragen sind angelesen. Dann ergibt das Gespräch keinen Sinn, aber das ist von hundert Fällen vielleicht einer. Es ist in der Regel so, dass die Journalisten ein Interesse haben, wissen und begreifen wollen, was noch hinter dem Film steht, hinter den Räumen, die nur angetippt werden, vielleicht auch widersprüchlich und im produktiven Sinne verwirrend sind. Es ist wichtig, dass ich selbst auch neugierig bin. Die gelungenen Gespräche sind immer die, die wachsen. Im guten Fall entdecke ich durch die Perspektive des Fragenden einen Gedanken, den ich in einer Szene, einem Komplex selbst noch nicht gesehen habe. Das finde ich eigentlich immer das Beste: Wenn ich selbst überrascht werde, etwas Neues entdecke, weil ich den geometrischen Messpunkt nach außen verlagere. Jemand blickt auf den Film und überrascht mich durch eine Frage, eine Zusammenfassung, eine Analogie, die vielleicht in eine ganz andere Richtung führt, zu einem Film oder einem historischen Ereignis. Mein Wunsch ist auch, eines auf jeden Fall zu vermeiden: den automatischen Piloten. Was nach dem 50. Interview natürlich eintritt: Es kommt die Frage und dann kommt mein Textmodul dazu. Dann versuche ich, das gegen den Strich zu bürsten und eine Antwort zu geben, in der ich einen Nebenaspekt nach vorne hole. Und dann sehe ich, ob dazu eine andere Frage kommt, bei der ich mich dann von einer anderen Seite der Antwort nähern kann. Ich glaube, für beide Seiten ist wichtig, dass es nicht nur ein Abhaken von Fragen und Antworten wird. Es irritiert mich, wenn Journalisten schon während meiner Antwort auf ihren Zettel schauen und durchstreichen. Das Beste ist, wenn der Katalog beiseite geräumt wird und wirklich ein Gespräch entsteht. Ich antworte auch schon mal länger. Und dann am Ende, nach einer Stunde, wird der Zettel noch mal herausgeholt und festgestellt, dass eigentlich alles beantwortet wurde. Das ist für mich auch die Kunst des Gesprächs. Wenn ich merke, es läuft zu standardisiert ab, stelle ich Gegenfragen und probiere, das aufzubrechen. Deshalb ist es mir auch lieber, es läuft ein Tonband. Wenn ich den Eindruck habe, der Fragende kommt gar nicht mehr mit, weil er mitschreibt und ich sehe, der entscheidende Kontext fällt heraus, weil er sich auf eine bestimmte Formulierung konzentriert, mache ich mir große Sorgen.
Gerhard Midding Gibt es das heute tatsächlich noch, dass Journalisten kein Band laufen lassen, sondern Notizen machen?
Andres Veiel Ja, häufig. Das ist offenbar auch eine Frage der Effizienz. Manchmal frage ich nach, und bekomme dann zu hören: Auf diese Weise habe ich dann schon alle Punkte, die ich brauche. Es sagt keiner direkt, aber anscheinend wollen sich viele Kollegen nicht noch einmal durch den ganzen Sermon durchhören müssen.
Gerhard Midding Du hast eben von dem geometrischen Außenpunkt gesprochen. Das ist natürlich der heimliche Wunsch, die uneingestandene Koketterie des Interviewers: dem Gesprächspartner etwas über sein Werk mitzuteilen, was er selbst noch nicht wusste. Kannst Du Beispiele nennen, wie sich dein Blick auf den Film durch Fragen verändert hat?
Andres Veiel Es ist bei fast jedem Film so, dass bestimmte Akzente ihn verändern. Bei DIE ÜBERLEBENDEN gab es am Ende den Satz eines Protagonisten, der „Manche leben nur Sekunden“ lautete. Über diesen diesem Satz, den ich eigentlich nur aus einer Not hineingeschnitten hatte, dachte ein Journalist intensiv nach und hat ihn über seine eigenen Lebenserfahrungen noch einmal ganz neu beleuchtet. Ein Satz, von dem ich mich eigentlich schon verabschiedet hatte, war für ihn der wichtigste im ganzen Film. Es gibt solche Bedeutungsverschiebungen, bei denen etwas für mich Marginales plötzlich ins Zentrum gerückt wird. Dann interessiert mich natürlich das Warum. Dieses Nachhaken ist in kurz taktierten Interview-Slots natürlich nicht möglich. Deshalb sage ich zu den Agenturen immer, ich will mehr als eine halbe Stunde für ein Interview, ich brauche Luft.
Gerhard Midding Hast Du auf den Zeitplan wirklich so viel Einfluss?
Andres Veiel Bei der Berlinale wird es sicher nicht so leicht. Aber wenn ich zum Beispiel weiß, wir haben in München einen Tag mit acht Interviews, dann konzipiere ich das nicht auf vier, sondern auf sechs Stunden. Das ist mir lieber, weil ich sicher sein kann, es entstehen wirkliche Gespräche und es wird nicht nur dieses Frage-Antwort-Spiel.
Gerhard Midding Hattest Du schon einmal das Bedürfnis, aus einer Fließbandsituation auszubrechen?
Andres Veiel Eben deshalb nicht, weil ich es vorher regle und nicht in eine solche Situation kommen möchte. Ich halte auch nichts von Gruppeninterviews, weil die Dinge dabei meist aus dem Fokus geraten. Der Eine fragt dies und der Andere das, ein Dritter hört nicht zu und fragt ganz was anderes. Man hüpft dann so durch den Film. Das ist eine Frage des Zeitkontingents: Wie oft kann man es teilen? Es geht auch gar nicht darum, einige Leute zu versorgen und andere dann nicht. Die Dreiviertelstunde habe ich immer durchsetzen können. In den 20 Jahren, in denen ich Filme mache, haben sich ja auch einige lang andauernde, kritische Arbeitsbegleitungen durch Journalisten ergeben. Aus gegenseitigem Respekt finde ich es ein Unding, eine Diskussion, die auch in der Referenz zu früheren Begegnungen entsteht, einfach abzuhaken. Wir Beide verfügen über einen Fundus von geteilten Erfahrungen, da geht es für mich nicht darum, das hinter mich zu bringen. Das ist ja auch Lebenszeit. Da habe ich den Anspruch, dass sie sinnvoll gefüllt wird. In den schmalen Taktierungen geht das nicht.
Gerhard Midding Wie viel Einfluss nimmst Du auf die Auswahl derjenigen, die dich interviewen?
Andres Veiel Ich kann das und will das auch nicht beeinflussen. Aber ich freue mich natürlich, wenn sich eine Kontinuität fortsetzt.
Gerhard Midding Wie hoch ist nach 50 Interviews die Toleranz für Wiederholungen?
Andres Veiel Man kann es niemandem vorwerfen, wenn sich nach einer Zeit Fragen wiederholen. Wenn jemand mich zu einem Film wie BLACK BOX BRD fragt, wie sind Sie auf das Thema gekommen, ist das eine Frage, die er stellen muss. Da liegt es an mir, mich nicht zu wiederholen. Es gibt ja auch da fünf Antworten, die alle richtig sind und die ich anders akzentuiere. Es ist auch viel erträglicher, wenn ich merke, hinter der Frage gibt es ein wirkliches Erkenntnisinteresse. Umgekehrt ist eine vermeintlich originelle Frage, die demonstrativ abgeschickt werden soll, obwohl deren Antwort den Interviewer nicht wirklich interessiert, viel eher ein Gesprächskiller.
Gerhard Midding Also ist die originelle erste Frage, um die wir in einer früheren Diskussion gerungen haben, gar nicht so ausschlaggebend?
Andres Veiel Es kann natürlich gut sein, dass ich früh provoziert werde mit einer Frage, die mir zuvor noch nie gestellt wurde. Das ist die Spiegel-Methode. Eine Frage am Anfang, mit der ich gar nicht gerechnet habe, kann manchmal etwas aufreißen, wenn bei mir auch eine gewisse Müdigkeit entsteht. Dann zwingt mich das, mich neu zu sortieren. Das ist wie ein Squash-Ball, den man an dieser Stelle nicht erwartet, und anders zurückspielen muss.
Gerhard Midding Wie wichtig ist das Atmosphärische?
Andres Veiel Das fängt an mit der Aura des Raumes. Es macht viel aus, wenn eine gewisse Intimität herrscht. Statt einer unpersönlichen Suite in einem Hotel mache ich Interviews lieber bei mir um die Ecke, in einem Café, das ein verlängertes Wohnzimmer für mich ist. Da fühle ich mich wohl. Das ist erst einmal das Ambiente. Und natürlich gibt es Interviewer, bei denen merke ich, sie haben eine vorgefasste Meinung. Das ärgert mich. Mich regt auch auf, wenn ein Interview nur ein Herumgestochere ist. Aber meist haben wir ja ein beiderseitiges Interesse. Es ist mir wichtig, mich zu öffnen, wenn das sich Vertrauensverhältnis ausbalanciert hat. Ich habe ganz selten Interviews erlebt, wo es erst einmal mit einem Affront losgeht. Was auch spannend sein kann, dass man zunächst einmal in den Ring steigt, um dann vielleicht wieder zu einer Verständnisebene zu kommen. Ich stelle dann natürlich Gegenfragen: Welchen Film haben Sie erwartet? Für was steht diese Kritik, hinter der ich eine starke Emotionalität spüre, die Wut, ein Tabu gebrochen zu haben oder etwas so dargestellt zu haben, wie man es nicht darf. Ich habe einmal auch gespürt, dass ein Journalist seine Wut beherrschen musste, und sich danach – es war das letzte Interview an dem Tag – noch einmal ein zwei-Stunden-Gespräch ergab, weil ich wissen wollte, woher diese Wut stammte. Danach hat mit ihm nie wieder ein Interview stattgefunden, was ich sehr bedaure.
Gerhard Midding Gibt es eine Dramaturgie des Gespräches, einen Bogen, den Du gern schlagen möchtest?
Andres Veiel Für mich ist wichtig, dass nicht gesprungen wird. Wenn mich jemand an einem Punkt, an dem es um Inhalte geht, nach dem nächsten Projekt oder nach dem Budget fragt, weiß ich, das Gespräch muss mies gelaufen sein und er will es schnell beenden.
Gerhard Midding Wie führst Du ein Gespräch zurück auf Kurs, wenn Du den Eindruck hast, nun läuft es aus dem Ruder und führt ganz am Film vorbei?
Andres Veiel Ich finde es ja gut, wenn man vom Film weggeht. Aber wenn sich jemand partout verweigert, wenn ich das Gefühl habe, er hat das Entscheidende nicht gesehen oder empört sich über etwas, das angeblich fehlt, im Film aber drin ist, dann kann es schon vorkommen, dass ich einen Brass kriege. Wenn ich eine Schlampigkeit oder Mutwilligkeit spüre, mit der jemand etwas nicht wahrnimmt, um ein eigenes Vorurteil bestätigt zu wissen, das ist nicht gut fürs Gespräch. Wenn hingegen jemand dezidiert anderer Meinung ist und sie begründen kann, wird es ja auch für mich interessant. Wenn man mir sagt, etwas sei formal ein falscher Ansatz, mit dem ich mir selbst ein Bein stelle, ist das gut zu wissen. Ich muss dann begründen, weshalb ich ihn gewählt habe. Das ist dann Schuss-Gegenschuss. Man bleibt auf Augenhöhe. Mir ist es lieber, das Unbehagen an einer Arbeit wird offen ausgesprochen, als wenn es hintenherum kommt, wenn also das Gespräch lächelnd geführt wird, und dann kommt im Artikel der Dolchstoß. Wenn der Text meine Zitate in einen anderen Zusammenhang stellt, oder ich beim Lesen auf Punkte stoße, die wir besser im Interview hätten behandeln sollen, bringt das die Situation nachträglich in Schieflage.
Gerhard Midding Ein Journalist, der dich interviewt, sollte also kein Opportunist sein.
Andres Veiel Er sollte – ich weiß, das ist ein blödes Zitat – hart, aber fair sein. Es ist aber auch vorgekommen, dass ich von meiner Seite sage, so darf das aber nicht stehen bleiben und den Journalisten dann bitte, wir setzen uns bei einem Kaffee noch einmal auseinander. Ich will nicht aus Prinzip Feindschaften pflegen.
Gerhard Midding Du hast von den Sedimentschichten gesprochen, die sich bei der langen Arbeit ablagern. Ist es dir auch einmal passiert, dass die erhoffte Frage nicht kam, ein Aspekt nie angesprochen wurde?
Andres Veiel In der Regel ist das Repertoire so groß, dass nie alles abgedeckt wird. Es ist in Ordnung, wenn es Leerstellen gibt, über die bei den Interviews nicht gesprochen wurde. Viel enttäuschender ist es, wenn ich ein Ressentiment spüre, das sich an Vorurteilen festhakt und nichts mit den Gründen zu tun, aus denen ich den Film gemacht habe. Bei DER KICK war ich beispielsweise oft mit einem Blickwinkel auf meine Arbeit konfrontiert, der nicht der meine ist: eine Vorverurteilung der Täter, eine Haltung, dass sie Monster sind, denen man keine Biografie geben darf. Wenn man so grundsätzlich auseinander liegt, kann man über diese Differenz schwer diskutieren. Man merkt, es gibt eine Haltung, die zementiert wird und kein offenes Nachdenken möglich macht. Das ist dann nicht das Gespräch, das ich suche.
Gerhard Midding Du bist dann also in einem geschlossenen System, aus dem es keinen Ausweg gibt. Was sind die Untugenden, die Du am wenigsten verzeihst? Nicht vorbereitet zu sein?
Andres Veiel Das steht ganz klar an erster Stelle. Es ist meine Lebenszeit und ich erwarte, dass der Andere auch Lebenszeit investiert. Wir müssen die Chance haben, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen. Auch Dummheit verzeihe ich auch nicht. Ich meine nicht angeborene Dummheit, sondern Kurzschlüsse, bei denen man merkt, da ist kein zweiter Gedanke. Wenn also eine Überschrift genommen wird und kein weiteres Interesse besteht. Dann merke ich, es langweilt mich. Rein äußerliche Fragen ärgern mich. Ich denke dann: Wie kann man nur so fragen, wenn man einen Beruf hat, bei dem das Fragen ja eigentlich die Kunst ist? Es muss doch darum gehen, etwas zu erfahren. Wenn jemand nichts wissen will, warum übt er dann diesen Beruf aus?
© VDFK 2011