Notizen zum Kino # 7: Podiumsdiskussion

Auf den zweiten Blick
Ist die DVD-Kritik eine andere Art von Filmkritik?
Podiumsdiskussion im Goethe-Institut Hamburg am 17.11.2010

  Forum 2010

An dem Forum im Rahmen des Cinefest Hamburg nahmen teil (von rechts):
Jan Distelmeyer
(Medienwissenschaftler, Universität/FH Potsdam, Buchautor)
Robert Fischer (Filmhistoriker, Bonusfilme für DVDs, Autor, http://www.fictionfactoryfilm.de),

Peter Delin
(Videolektorat an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, http://dvdbiblog.wordpress.com),

Gerhard Midding (Kinokritiker, Moderator)
Andrea Dittgen
(Kinokritikerin, Redakteurin, Tageszeitung "Die Rheinpfalz)




Gerhard Midding  Anstatt Ihnen die Teilnehmer vorzustellen, bitte ich diese, ihre Arbeit im Bezug zu unserem Thema darzulegen. Jan Distelmeyer, magst Du den Anfang machen?

Jan Distelmeyer Ich bin Professor für Medientheorie und Mediengeschichte im Studiengang „Europäische Medienwissenschaft“ in Potsdam. Ich habe lange Zeit auch als Filmkritiker gearbeitet, mache es auch immer noch. Ich habe mich in den letzten vier Jahren intensiv mit DVD und Blu-Ray beschäftigt und ein Buch geschrieben, das sich mit Ästhetik und Geschichte der DVD auseinandersetzt.   

Gerhard Midding  Robert Fischer, man kennt dich eigentlich als Kritiker, auch als Herausgeber und Übersetzer der Schriften von Truffaut. Nun produzierst Du Bonusmaterial für DVDs.

Robert Fischer Ja, das mache ich seit etwa zehn Jahren. Das letzte, was ich vor zehn Jahren für epd Film geschrieben habe, waren interessanterweise die ersten DVD-Kritiken. Ich habe dort lanciert, dass eine neue Rubrik dafür eingeführt wird. Die erste Besprechung habe ich damals über die Oliver-Stone-Box geschrieben, die gerade in den USA herausgekommen war. 1999 kam ich in den USA zum ersten Mal mit dem Medium in Berührung und erkannte sofort sein Potenzial. In der ersten Rezension ging es auch spezifisch um das Medium, um Bonusmaterial, Audiokommentare, neu gedrehte Dokumentationen. Mich hatte das Fieber gepackt und ich fing an, als Consulting Producer für die Criterion Collection zu arbeiten. 2002 gründete ich meine eigene Produktionsfirma in München, Filmfictionfactory, und fing an, längere Dokumentationen für Labels in England, Frankreich, Australien und anderswo zu drehen. In Deutschland erhielt ich bis vor einigen Jahren noch Aufträge von Kinowelt, seit die allerdings an Studio Canal verkauft wurde, herrscht dort eine andere Politik. Ich könnte nicht überleben, wenn ich allein für deutsche Firmen arbeiten würde. Ich betreibe eigentlich filmhistorische Forschung in Form von Dokumentarfilmen, die in der Regel auf Interviews beruhen. Ich betreibe also richtig klassische Oral History, interviewe Leute, die an den Filmen beteiligt waren oder Filmhistoriker, die sich als Spezialisten zu dem betreffenden Thema hervorgetan haben.

Gerhard Midding  Peter Delin, erklären Sie uns bitte, welche Aufgabe Sie an der Zentralbibliothek in Berlin haben.

Peter Delin Ich mache seit 16 Jahren die Bestandaufnahme unserer Bibliothek für Filme, die wir erst als Videokassetten, ab 1999 dann auf  DVD gesammelt haben. Unser Bestand ist mittlerweile auf 55.000 Filme angestiegen. In deutschen Bibliotheken ist es nicht üblich, eine öffentlich zugängliche Filmsammlung zu haben, die jeder kostenlos benutzen kann. Wir haben einen Etat 48.000 bis 50.000 Euro im Jahr, und wenn man weiß, wie wenig DVDs kosten, dann kann man sich vorstellen, was man bewerkstelligen kann. Es ist eigentlich eine klassische Lektoratsarbeit, wie man sie in Bibliotheken macht. Der Einzugsbereich ist allerdings weltweit, das heißt wir kaufen alles, was relevant ist und weltweit erscheint. Dadurch gibt es in Berlin einen Ort, an dem Filmgeschichte für alle zur Verfügung steht. Ich sitze hier aber auch als jemand, der Filmkritiken für seine Arbeit braucht und nutzt.

Gerhard Midding  Das ist aber nur ein Grund, aus dem wir Sie eingeladen haben. Als wir recherchierten, wo es in Deutschland im Netz gute DVD-Kritiken gibt, verwies uns jeder auf Ihren  DVD-Blog.

Peter Delin  Das ist ein Abfallprodukt meiner Arbeit, die letztlich banal ist. Man sitzt den ganzen Tag in dieser Bestandsaufnahme am PC und arbeitet jeweils pro Land Listen ab. Da lese ich auch Kritiken, wofür ich bestimmte Standardadressen habe, in Deutschland zum Beispiel den filmdienst oder das Lexikon des internationalen Films und international beispielsweise die Internet Movie Database und Variety. Jeder Film wird also nicht nach eigenem Gusto erworben, sondern wird auf seine Qualität geprüft. Wenn ich Besonderheiten finde, die nirgendwo publiziert werden, erwähne ich sie dann diesem Blog.  

Gerhard Midding  Sie tun das allerdings mit einem Kenntnisreichtum und einem genauen Blick, der eine Art von Kritik darstellt. Andrea Dittgen, nun erzähl Du, welche Beziehung Du als Redakteurin zur DVD hast.

Andrea Dittgen  Seit 20 Jahren bin ich Redakteurin bei der Tageszeitung Die Rheinpfalz, wo wir sehr viel im Filmbereiche machen, auch abseits vom Tagesgeschäft.  Mindestens einmal im Monat haben wir Sonderseiten. Auf unserer DVD-Seite mischen wir filmhistorische Themen und die Besprechung aktueller DVDs, und zwar vorwiegend mit Filmen, die vorher nicht im Kino waren. Ich berate auch unseren Nachwuchs, Volontäre und Praktikanten, darin, wie man darüber schreibt.

Gerhard Midding  Für mich hat die DVD eine Art Wiedererweckung der Cinéphilie bedeutet. Ich kaufe gezielt DVDs von Filmen, die ich in Deutschland nicht zu Sehen bekomme, oder um historische Lücken zu schließen und Entdeckungen zu machen. Handwerkszeug sind sie natürlich auch, denn aus diversen Gründen sieht man Neustarts oft nicht auf Pressevorführungen, sondern als DVD. Als Medium hat sie für mich eine zentrale Rolle gewonnen, die die Videokassette nicht hatte. Was ist für uns der wichtigste Zugewinn, den die DVD darstellt?

Jan Distelmeyer  Ich gehöre zu einer Generation, die mit nicht-deutschem Kino als synchronisiertem Kino aufgewachsen ist. Das hat sich mit der DVD verändert. Der zweite Punkt ist, dass die DVD die Formatfrage stark verändert hat. Heute muss man keine Filme mehr kaufen, die automatisch vom Cinemascope-Format in 4:3 umgewandelt worden sind, wobei die Hälfte des Bildes verlorengeht oder das Bild im Pan&Scan-Verfahren abgeschwenkt wird. Das hat mit der DVD ein Ende gefunden. Für mich persönlich ist die DVD wichtig, weil sie mir die Möglichkeit gibt, Vergleiche zwischen verschiedenen Versionen anzustellen. Sie ermöglicht es, völlig neu mit Film umzugehen. Die DVD hat verschiedenste Facetten, die das Medium von der VHS-Kassette weit entfernen. Das hat meist zu tun mit dem Selling Point in den 90er Jahren: Interaktivität. In Hollywood hat man sich gefragt: Wie kriegen wir unsere alten Filme mit Interaktivität zusammen? Und da waren Menüs das Mittel der Wahl. Die wurden damals als Bonus hinter die Filme gepackt. Sie waren das Extra schlechthin. Man kann per Knopfdruck bestimmte Szenen regulieren oder etwas anderes einbauen kann, etwa ein Making-Of.

Gerhard Midding  Robert, ich könnte mir vorstellen, für dich ist der große Zugewinn das, was man in der Literaturwissenschaft den kritischen Apparat nennt.

Robert Fischer  Unbedingt. Ich glaube, dass ich so früh darauf angesprungen bin, hat etwas damit zu tun, dass ich vorher sicher ebenso bibliophil wie cinéphil war. Die Verbindung von Beidem hat sich überhaupt erst mit der DVD ergeben. Denn es gibt Editionen von DVDs und Blu-Rays, die wirklich bibliophile Qualitäten haben. Das reicht vom Optischen bis zum Taktilen. Die beiliegenden Booklets sind zum Teil richtige kleine Büchlein. In diesem besonderen Anreichern und Zusammenstellen von DVDs in historisch-kritischen Editionen sehe ich eine große Chance des Mediums, eine Chance, sich mit Filmgeschichte mit Mitteln zu beschäftigen, die es vorher so noch gar nicht gab.

Gerhard Midding  Bibliophil ist für Sie, Herr Delin, ein Stichwort.

Peter Delin  Der Film wird durch die DVD in einen anderen Aggregatzustand überführt. Er wird plötzlich zu einem persönlichen Gegenstand wie das Buch. Ich kann mit ihm einen ganz anderen Umgang pflegen kann, der eine enorme Bedeutung für das Verstehen des Films bedeutet. Das Stichwort lautet: intim. Ich bin ganz nah an dem Film dran, kann mich intensiv mit ihm beschäftigen, ich kann ihn in Kapitel aufteilen, kann das einzelne Bild herausnehmen und darüber nachdenken. Der zweite Punkt ist, dass die DVD mehr oder weniger gleichzeitig mit dem World Wide Web entstanden ist. Die ersten DVDs kamen 1997 in den USA heraus, das World Wide Web entstand 1994. Dieser Zusammenhang ist ganz wichtig für die Entwicklung dieser Filmkultur, weil der Austausch über die Filme, die auf DVD erscheinen, über das Web passieren kann. Der Vertrieb geschieht darüber, indem ich sie mir in Webshops bestelle. Ich kann diese Filme kommentieren, ich kann mich darüber austauschen im Web. Manche User erstellen sogar eine eigene Untertitelungen für Filme, die sonst für weite Kreise gar nicht verständlich wären. Die Kritik an der Publikationspraxis der DVD ist über das Web gelaufen. Natürlich wurden am Anfang nur die billigen Master verwendet. Das wurde im Web kritisiert. Und daraus entwickelte sich ein intensiver Austausch zwischen Produzenten, Veröffentlichern und Käufern.  

Gerhard Midding  Andrea, welche Rolle spielt da noch die Zeitung?

Andrea Dittgen  Durch die DVD sind viele Filme überhaupt erst zugänglich, weil sie nur kurze Zeit im Kino sind. Wenn man nicht in einer Großstadt lebt, sondern in einer filmischen Diaspora wie in Rheinland-Pfalz, ist die Zugänglichkeit der Filme wirklich ein wichtiger Aspekt. Seit etwa fünf Jahren lässt sich beobachten, dass in ganz normalen Büchereien die DVD-Ausleihen höher sind als die Buchausleihen. Es ist also eine gesellschaftliche Notwendigkeit, sich damit zu befassen und das auch in der Zeitung darzulegen. Wir machen das natürlich auch zielgruppengerecht, etwa auf Kinderseiten.

Gerhard Midding  Wir haben eben aus Robert Fischers Äußerung erfahren, dass er international arbeiten muss, um davon leben zu können. Wie stellt sich in Deutschland das DVD-Angebot im Vergleich zu anderen Ländern dar? Offenkundig scheint der deutsche Markt auf die DVD-Kultur, die man durch die hochwertig und anspruchsvoll ausgestatteten Editionen von Criterion, Eureka und anderen kennt, keinen großen Wert zu legen.  

Robert Fischer  Das hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Ich glaube gar nicht mal, dass sich die Zahl der Interessenten hier von der Zahl der Interessenten in Frankreich unterscheidet. Ich denke eher, dass die Verantwortlichen bei den DVD-Editionen ihrem eigenen Publikum zu wenig zutrauen. Wenn der Verkauf unter einer zu erwartenden Zahl von 5000 DVDs liegt, wird der Film gar nicht herausgebracht. Und die Ausgaben für Bonusmaterial werden insgesamt auf ein Minimum beschränkt. Die Franzosen blicken auch auf eine andere Tradition zurück. Das hat Parallelen in der Filmpublizistik. Es gibt in Frankreich eben eine ungebrochene Tradition von Cinéphilie, was Filmzeitschriften und Filmliteratur angeht. Das ist bei uns alles ein bisschen mühsamer. Natürlich setzt sich das auch in der Art fort, wie in Frankreich DVDs ausgestattet werden. Ich arbeite für das Pariser Label Carlotta und bin immer wieder überrascht, wie viel Mittel sie zur Verfügung stellen. In den USA ist das ohnehin so, weil da der Nischenmarkt bei der Größe des Landes immer noch anständig ist. Auch in England ist mehr Interesse da als bei uns.

Gerhard Midding  Ich könnte mir vorstellen, dass man als Produzent durch eine gute Ausstattung ein Markenzeichen und eine Käuferbindung schafft.

Jan Distelmeyer  Ja, aber als Käufer bin ich gezwungen, mich international umzuschauen. Ich weiß, dass Criterion einfach die besseren DVDs macht. Dieser Moment, dass Filmgeschichte internationaler wird, passt auch zu den Kongressen von Cinegraph: Wenn man versteht, dass man Filmgeschichtsschreibung nicht national betreiben kann, dann kommt eine interessante Dimension hinzu.   

Gerhard Midding  Herr Delin, Sie geben in Ihrem Blog einen internationalen Überblick. Weshalb scheint es anderswo ein stärkeres Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit dem Werk von Filmemachern zu geben?

Peter Delin  Deutschland ist das größte Land in Europa, es hat aber nur den drittgrößten DVD-Markt. Der größte ist Großbritannien, der zweite ist Frankreich. Mein Eindruck ist, die Produzenten, die DVDs herausbringen, sind noch stark von der VHS-Zeit geprägt. Den Schritt zu einer Cinéphilie hin, den die DVD als Medium und als neuer Markt ermöglicht, hat man noch nicht vollzogen. Dabei wird im Repertoire auf dem internationalen Markt viel mehr Geld verdient als mit den Neuerscheinungen.

Robert Fischer  Wobei man Repertoire noch genauer definieren muss: Filme, die fünf Jahre alt sind.

Peter Delin  Die Nutzung in unserer Bibliothek in Berlin zeigt jedenfalls, dass auch in Deutschland das Publikum dafür eigentlich existiert. Deshalb setzt man natürlich die Hoffnung auf die Filmkritik, die mehr publiziert in dieser Richtung. Um diese Kultur zu fördern, würde ich mir wünschen, dass regelmäßiger über Neuerscheinungen berichtet wird. Die Listen, die man in der Zeitschrift Film Comment liest, finde ich wunderbar. Das sind nur vier Seiten, aber die Leute wählen aus, was wirklich wert ist, angesehen und gekauft zu werden. Und es gibt kurze Kritiken zu herausragenden Angeboten. So etwas fehlt uns. Der Markt müsste im Ganzen transparenter werden.

Gerhard Midding  Andrea, gibt es bei euch auf der DVD-Seite auch die Möglichkeit, über nicht-deutsche Editionen zu schreiben?

Andrea Dittgen  Nein, wir beschränken uns im Prinzip auf DVDs, die in Deutschland erhältlich sind.

Gerhard Midding  Ich habe auch andere Erfahrung mit Redaktionen gemacht. Als es die DVD-Seite der Welt noch gab, konnte ich bei einem interessanten Thema auch über eine DVD schreiben, die in Frankreich erschienen ist. Mitunter konnte ich auch Vergleiche der Editionen anstellen. Als die Fox zum Beispiel eine Film-Noir-Reihe herausbrachte, habe ich natürlich die Ausgaben in Frankreich empfohlen, die ein spannenderes Bonusmaterial besitzen. Wenn etwa Jean Douchet in einem Essay über einen Preminger-Film das Verhältnis von bewegten und statischen Einstellungen analysiert, betrachtet man den Film mit ganz anderen Augen.

Robert Fischer  Man muss aber auch die Produzentenseite verstehen. Wenn ein deutsches Label wie Koch Media, das sich wirklich dreimal überlegen muss, ob es in den USA eine Lizenz für teures Geld erwerben will, in einer Tageszeitung liest, dass statt ihres Produkts eine ausländische Ausgabe angepriesen wird, ärgert man sich dort natürlich.  

Peter Delin Ich finde es aber wichtig, dass die globale Filmkultur sich durch diese Medium erschließt, auch Ostasien, Lateinamerika. Ich meine, die DVD-Kritik darf sich nicht auf das nationale Territorium beschränken, sondern muss mehr und mehr die Welt im Blick haben und schlaglichtartig Editionen vorstellen. In Brasilien wird das Werk von Glauber Rocha restauriert und es kommen fantastische Boxen heraus. Das sind große Highlights, die man auch in den Feuilletons rausstellen kann.

Hans Michael Bock (Cinegraph, aus dem Publikum)  Beim Einkauf hat man auf deutschen und internationalen Portalen große Probleme, die richtigen Informationen zu erhalten. Bei Amazon zum Beispiel hängen dann Kritiken und Kommentare darunter, die sich oft überhaupt nicht auf die Edition beziehen, sondern auf eine ganz andere, die fünf Jahre alt ist, so dass man gar nicht genau weiß: Ist das jetzt die Edition, die ich haben will?

Jan Distelmeyer  Das ist ein Riesenproblem, wenn man sich dafür interessiert, wie sich dieses Medium sich überhaupt entwickelt hat, wenn man recherchieren möchte, wie sehen die fünf, sechs Versionen aus, die von 1997 bis 2010 von diesem bestimmten Film erschienen sind?

Gerhard Midding  Ist es unsere Aufgabe als Kritiker, in diesem Dschungel eine Orientierung zu schaffen?

Gerhild Krebs (Filmhistorikerin, aus dem Publikum)  Das ist fast eine rhetorische Frage. Zumal wir ja über einen wichtigen Anwendungsbereich noch nicht gesprochen haben: Ich meine die Möglichkeit, gerade anhand des Bonusmaterials, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aller Bildungsstufen über Film zu arbeiten. Dann ist ganz entscheidend, dass die DVD-Kritik erwähnt: Was gibt es an Bonus-Material? Und dann vielleicht noch zwei Sätze zu der Frage: Wie gut ist es? Eigentlich müsste die DVD-Kritik die ganze Tiefe des Bonus-Materials mit abbilden. Und vielleicht sollte man noch einen Praxistext hinzufügen: Funktionieren die Menüs?

Robert Fischer  Peter Delin, wie verhalten Sie sich, ein Film in einer neuen, besseren Version auftaucht? Kaufen Sie ihn nochmal?

Peter Delin  Man hat einen Kanon, bestimmte Kriterien. Der Kanon ändert sich durch Diskussion über die Jahrzehnte. Wenn eine Edition verbessert wird und einen Mehrwert bringt, dann kauft man die natürlich. Von den großen Klassikern haben wir vier, fünf Ausgaben, so dass wir auch ein bisschen Editionsgeschichte abbilden können. Wir kaufen immer die höchstwertige Fassung, die weltweit auf dem Markt erhältlich ist. Man sollte an dieser Stelle die die unbesungenen Helden des Internets erwähnen. Es gibt international sehr viele Webseiten, die genau das machen, was Sie sich wünschen: Die Filmkritiken auf diesen Seiten sind oft mangelhaft, aber die DVD-Kritiken dazu sind immer erhellend. Man sollte Ole Kofoed aus Dänemark erwähnen, der die Seite www.dvd-basen.dk  betreibt, auf der inzwischen über 200.000 DVD-Kritiken verlinkt hat. Über den Originaltitel bekommen Sie die Editionen in verschiedenen Ländern angezeigt und können sie anklicken, um zu sehen, was die beste Fassung ist.

Gerhild Krebs (aus dem Publikum)  Ich denke von der filmhistorischen Seite her noch an ein anderes Thema: die Filmzensur in unterschiedlichen Länder. Hier wären DVDs technisch auszubauen, sodass man beispielsweise ein Original, eine Ursprungsversion, und dann kann man die zensurierte Fassung aus anderen Ländern hinzuziehen. Da hätte man für die Forschung und für die Medienpädagogik noch mal eine Ebene erschlossen, die man nur auf diesem Wege erreichen kann. Neben dem Vergleich von Schnittfassungen, den Unterschieden in Unter- und Zwischentiteln könnte man auch nicht-filmische Quellen als Dokumentationsapparat beifügen.  

Gerhard Midding  Eine solche kritische Editionsarbeit würde man nicht unbedingt von Produzenten erwarten. Aber bei uns gibt es ja die Edition Filmmuseum, die in der Kooperation verschiedener Archive entsteht.

Peter Delin  Da ergibt sich ein weites Feld für die Filmkritik, das meiner Meinung nach auch in der Öffentlichkeit auf Resonanz stoßen würde. Denn für dieses Thema gibt es ein Interesse und man kann schöne Geschichten darüber verfassen: Welche Fassungen wurden gefunden, wie wurden sie restauriert, was gibt es für Extras? Das sind Sachen, die sich wunderbar darstellen lassen.

Gerhard Midding  Jan, möchtest Du einmal eine Utopie entwickeln, welchen Mehrwert eine DVD-Kritik enthalten sollte?

Jan Distelmeyer  Um eine provokante These zu formulieren: Ich habe das Gefühl als ob die DVD von der Filmkritik immer noch als eine Videocassette mit mehr Speicherplatz verstanden wird. Die unausgesprochene, theoretische Implikation sieht als das Zentrum der DVD immer noch nur den Film. Ich denke, das ist Quatsch. Ich wünsche mir eine DVD-Kritik, die keine Filmkritik ist, sondern versucht, etwas Neues zu erfinden und eine neue kritische Perspektive entwerfen kann. Ich kenne den Film vielleicht schon, da brauche ich keine Inhaltangabe, da interessieren mich andere Dinge. Welchen Gestus haben die Menüs? Meine letzte DVD-Kritik liegt vier Jahre zurück. Ich war so frustriert, weil ich auf dem wenigen Raum, den man zur Verfügung hat, kaum etwas schreiben konnte. Im Print-Bereich ist er eben noch viel kleiner als der für Filmkritiken. Es würde uns allen gut tun, wenn es eine DVD-Kritik gäbe, die das Medium ernst nimmt und Interesse daran hat, was auf der Silberscheibe wirklich drauf ist. Aber selbst ein geschätzter Kollege wie Ekkehard Knörer, der seit Jahren für die tageszeitung eine DVD-Seite macht, schreibt nicht darüber. Er hat zwar 3000, 4000 Zeichen Platz und schreibt meist über Filme aus der Dritten Welt, die man überhaupt nicht kennt. Das ist sehr verdienstvoll und wichtig. Aber am Ende der Texte liest man dann nur Sätze wie: "So großzügig, wie der Film selbst ist, ist auch seine DVD-Version. Auf drei DVDs verteilt sind der Film und viele Extras." Das ist doch keine DVD-Kritik!

Aus dem Publikum  Ich glaube, die meisten Leute, die eine DVD kaufen, suchen erst mal einen Film und kein Bonusmaterial. Jeden Monat erscheinen etwas mehr als 300 neue Titel auf dem Markt. Welche davon sind eigentlich relevant? Zeitungen sollten möglichst viele davon darstellen. Das wäre ein Service.

Gerhard Midding  Service ist ein rotes Tuch für die Feuilletons! Den Service-Charakter nach amerikanischem Vorbild – Daumen hoch, Daumen runter, geben Sie Ihr Geld aus oder nicht –  sollte man nicht unbedingt bedienen wollen im Feuilleton.

Andrea Dittgen  Was man in Zeitungen und Zeitschriften leisten kann, ist eine Übersicht, was in diesem Monat kommt. Alle zu besprechen, ist nicht machbar. Wie soll man sich die Masse der DVDs, die in einem Monat erscheinen, vor dem Erscheinen kommen lassen, anschauen und dann darüber schreiben? Und dann noch auswählen, welche sich lohnt? Das ist nicht zu leisten.

Gerhard Midding  Helfen da die DVD-Magazine, die oft sehr populär sind?

Jan Distelmeyer Die sind reiner Kommerz. Sie sind weit schlechter als das Web-Angebot. Das ist sehr frustrierend. Die sind auf teurem Papier gedruckt und sind voller Fotos, aber zu den Filmen nur einen kurzen Inhalt. Dann gibt es kleine Kästchen, die das Bonusmaterial erwähnen, aber oft nicht vollständig. Für 4,80 Euro wünsche ich mir mehr Informationen.

Aus dem Publikum  Wenn ich das höre, muss ich ja denken, das ist geradezu eine Marktlücke. Wenn die DVD-Hochglanzmagazine inhaltlich absolut niveaulos sind, warum kommt dann nicht einmal jemand auf die Idee, ein niveauvolles DVD-Magazin herauszubringen?

Jan Distelmeier  Das ist viel Arbeit. Man muss doch allein schon acht Stunden investieren, um die Sprachversionen durchzuschauen. Insgesamt ist Deutschland jetzt auch nicht vorbildlich, was Filmzeitschriften betrifft. Und das Interesse derjenigen, die Film rezipieren, ist im Augenblick nicht riesig.

Gerhild Krebs (aus dem Publikum)  Vorhin fiel das Stichwort: Inhaltswiedergabe braucht man eigentlich nicht. Ich finde das falsch.  Bei so vielen Neuerscheinungen muss eine gute Kritik doch auch in Erinnerung rufen, worum es in dem Film geht. Das möchte ich gerne habe, und wenn es nur zwei Sätze sind. Und genauso wenig würde ich entfallen lassen, was Bestandteil der klassischen Filmkritik ist, nämlich die Einbettung in Genre, Werk und Länderproduktion. Ich würde eine DVD-Kritik staffeln: Inhaltswiedergabe, künstlerische Beurteilung, Produktionsbeurteilung, technische Praktikabilitätsbeurteilung und dann eben auch ein Preis-Leistungs-Urteil. Ich möchte als User, als einfacher Konsument, auch wissen: Das, was ich da kaufe, ist es das wert? Oder kriege ich dasselbe für weniger Geld?

Gerhard Midding  Ich würde eine solche Kritik nicht gerne schreiben. Eine Kritik muss ihre eigene innere Logik haben, nicht einen Katalog von Pflichtübungen abarbeiten. Natürlich soll die Kritik vermitteln, ob es sich lohnt, diese DVD zu kaufen, aber das kann sie durch die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Film. Ich denke nicht, dass heutzutage, wo alles mit einem Fingertipp im Netz abrufbar ist, wirklich noch die Handlung erzählt werden muss.

Gerhild Krebs (aus dem Publikum)  Warum sollte man sich dieser kleinen Inhaltsangabe  verweigern?

Gerhard Midding  Weil man wenig Platz hat und den vielleicht lieber nutzen würde für das, was bei Ihnen an zweiter oder dritter Stelle kommt.

Gerhild Krebs (aus dem Publikum)  Sie denken im klassischen journalistischen Sinn an den Zeilenumfang. Das Problem hat man aber nicht im Web, wenn man das Ganze über Teaser und Langfassung macht.

Gerhard Midding  Aber im Netz kann man mit Kulturinhalten bislang kein Geld verdienen, weder in Deutschland noch anderswo. Das macht das eine zur Liebhaberei und das andere zum Beruf.

Aus dem Publikum  Eingangs erwähnten Sie, dass auch Filmkritiken geschrieben werden nach dem Sehen von Presse-DVDs. Die Rezeptionssituation, die zu der Bewertung des Films führt, ändert sich. Abgesehen davon, dass ich Zweifel daran habe, dass es objektive Filmkritik überhaupt gibt, weil die subjektive Rezeptionssituation immer eine Rolle spielt, habe ich den Eindruck, dass sie sich durch DVD noch einmal stark verändert. Die Emotionen verändern sich noch einmal ganz erheblich. Wandelt sich dadurch nicht auch die Filmkritik?

Gerhard Midding  Da stimme ich Ihnen zu. Ein klassisches Beispiel wäre eine Komödie, wo wir im besten aller Fälle bei der Pressevorführung im Kino die Lacher dazwischen hätten, auf der DVD aber nicht. Deshalb funktioniert vielleicht Blake Edvards auf DVD nie so gut wie im Kino. Aber als Kritiker muss man sich der Differenz immer bewusst ein.

Aus dem Publikum  Mich würde nach die Frage nach der Lebensdauer von Kopien interessieren. Welchen Träger wird man da zukünftig wählen?

Karl Griep (Bundesarchiv-Filmarchiv, aus dem Publikum)  Wir kopieren auf Polyester um. Das hält 800 Jahre.

Gerhard Midding  Die Frage nach der rein physischen Lebensdauer beschäftigt mich auch zunehmend. Wir wissen aus der Überlieferungsgeschichte der Menschheit, dass sie immer kürzer wird. In Stein gehauene Inschriften haben sich immer noch gehalten, Bücher schon nicht mehr so lang, Filmkopien halten sich länger als Videocassetten. Eine französische Archivarin sagte einmal zu mir, sie rechne bei der DVD mit einer Haltbarkeit von zehn Jahren.

Robert Fischer  25.

Gerhard Midding  25 Jahre sind schon besser. Aber trotzdem ist sie kein verlässliches Medium der Überlieferung.

Robert Fischer  Die Frage ist nicht, wie lange hält die DVD, die ich mir als User kaufe, sondern wie lange hält das Master dieser DVD, die der Lizenzinhaber besitzt. Und jeder Lizenzinhaber wäre bescheuert, wenn er sich nicht alle paar Jahre seine Ausgangsmaterialien erneuern würde. Das eigentliche Trägermedium ist die ursprüngliche digitale Abtastung, die man alle paar Jahre selbstverständlich erneuert. Auch mit entsprechend größerer Auflösung. Und noch größerer Auflösung. Und noch größerer.

Peter Delin  Aber der entscheidende Punkt ist doch, dass man die Filme sieht. Es geht nicht darum, sie aufzuheben. Filme sind wie Orientteppiche, je mehr man sie benutzt, umso besser werden sie. Wir wollen Filme sehen und unser Leben ist endlich. Ich bin heute 62 geworden. Wie viele Filme sehe ich in meinen Leben noch? Man muss sich sehr genau aussuchen: Was sehe ich mir an? Was ist mir wichtig?

© VDFK 2011

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