Notizen zum Kino 5: Im Netz der Möglichkeiten

Im Netz der Möglichkeiten
Filmkritik im Zeitalter des Internet
Von Gerhard Midding

In seinem Essay „Why I Blog“, der im November 2008 auf der Website des Magazins The Atlantic erschien, leitet der amerikanische Publizist An­drew Sullivan den Begriff „Weblog“ etymologisch aus der christlichen Seefahrt ab. Das „log“ ist ein Holzscheit, der an einem Seil achtern über Bord geworfen wird, um die Fahrtgeschwindigkeit zu messen. Das Substantiv „log“ lässt sich auch als „Fahrtenbuch“ übersetzen, das Verb bedeutet „eine Entfernung zurücklegen“. Ein Logbuch, das man im World Wide Web anlegt, müsste somit stofflich weitaus solider sein als das Feuilleton, das Blättchen.

Tatsächlich sieht Sullivan mit dem Aufkommen des Blogs ein neues Goldenes Zeitalter für den Journalismus anbrechen. Er preist es als eine poröse, spontane, mithin authentische Ausdrucksform, die dem vorbehaltlichen Charakter von Wahrheiten und der Unbeständigkeit der Gedanken Rechnung trägt. Er selbst hat entscheidend dazu beigetragen, das Blog in den USA zu einem angesehenen Medium avancieren zu lassen: als Form des persönlichen Ausdrucks, in der ein Autor gleichwohl, wie in einem klugen Essay, auch reflektierend Abstand gewinnen kann zur eigenen Person.

Der deutsche Filmkritiker Josef Schnelle mag derlei Enthusiasmus nicht teilen. In einer am 14. August 2008 in der Berliner Zeitung veröffentlichten Polemik vertritt er eine emphatisch gegensätzliche Position: Er geißelt Blogs als eine Bedrohung der seriösen Kritik und sieht den professionellen Filmjournalismus von einer Diktatur der bloßen, unkundigen Meinungsäußerung im Netz ins Abseits gedrängt. Er verlieh einem Argwohn Ausdruck, den wahrscheinlich viele seiner Kollegen in den Printmedien teilen. Das Blog steht unter dem Verdacht, eine nicht nur ungebundene, sondern nachlässige Form zu sein. Der Schreibprozess, der meist ein mehrfaches Umschreiben des eigenen Textes bedeutet, scheint von der Verpflichtung entlastet, die Wege der eigenen Argumentation nachvollziehbar zu machen. Eine Subjektivität, die sich allein der unmittelbaren Reaktion verant­wortlich fühlt, muss sich um redaktionelle Sorgfalt nicht scheren: Niemand misst nach, wie lang oder kurz die Entfernung war, die der Gedanke vom Impuls bis zur Veröffentlichung im Blog zurückgelegt hat.

Genauer betrachtet, ist die Filmkritik allerdings weniger durch die Vielzahl von privaten, autorengetriebenen Blogs bedroht, sondern durch einen Verdrängungsprozess, der auf den Websites der Tageszeitungen stattfindet. In England und Amerika ist diese Entwicklung längst abzusehen. Auf der Seite des britischen Guardian etwa muss man sich durch ein wahres Sperrfeuer von Blogs kämpfen, um zu den Rezensionen zu gelangen. Die Online-Redaktionen kalkulieren mit einem flüchtigeren Verweilen ihrer Leser und bevorzu­gen hastigere, populärere Formate. Wer hätte es sich vor den Zeiten des Internet träumen lassen, dass es einmal das Genre der Trailer-Kritik geben würde, der spekulierenden Urteilsbildung auf Grundlage von Werbematerial?

Nicht zuletzt durch die ökonomische Krise der amerikanischen Presselandschaft sehen sich dort Filmkritiker (sofern sie nicht schon entlas­sen wurden) einem zunehmenden Legitimationsdruck ausgesetzt. Ihr Status und ihre Autorität stehen durch den freien Zugang zum Schreiben über Film im Netz auf dem Prüfstand. Das Publizieren ist kein Privileg mehr, das sie sich durch ihr Expertenwissen sichern können. Verleger und Redakteure wollen ihren Lesern offenbar immer seltener eine ästhetische und inhaltliche Auseinandersetzung mit Filmen zumuten und spornen diese vielmehr immer häufiger an, selbst Kritiken zu schreiben. Diese schleichende Amateurisierung des Feuilletons (die übrigens bereits im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als Spannung zwischen Aristokratie und bürgerlicher Öffentlichkeit diskutiert wurde) hat zum Teil verheerende Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Kritik. Eine der gefährlichsten ist gewiss die Anbiederung der gelernten Kritiker an ihre Leserschaft, die vermeintlich gleiche Augenhöhe, auf der sie deren Geschmacks- und Vorurteilen (zumal gegenüber dem Arthouse-Kino) zu schmeicheln trachten und damit einer Multiplex- Moral das Wort reden. Es braucht Selbstbewusstsein, diesen Tendenzen zu widerstehen.

Der Plan, ein Symposium zum Verhältnis von Filmkritik und Internet zu veranstalten, reicht weit vor die Veröffentlichung von Schnelles Pamphlet zurück. Im Vorstand unseres Verbandes werden bereits seit längerem die Kriterien diskutiert, nach denen man Blogger aufnehmen oder nicht aufnehmen soll. Es herrschen durchaus wechselseitige Berührungsängste. Im Interesse einer Annäherung haben Frédéric Jaeger, Claudia Lenssen, Hanns-Georg Rodek und ich bei der Konzeption der Veranstaltung Wert darauf gelegt, dass nicht die Mitgliedschaft im Verband, sondern die Kenntnis der Szene ausschlaggebend für die Auswahl der Referenten und Diskussionsteilnehmer sein sollte. Ohne dünkelhaften Kulturpessimismus wollten wir überprüfen, wie sich eine anspruchsvolle Filmkritik in den unterschiedlichen Medien definiert.

Das am 20. November 2008 im Filmmuseum Berlin veranstaltete Symposium ist Grundlage dieses Breviers. Eine wenige Monate zuvor in den USA geführte Diskussion über die Krise der internationalen Filmkritik wurde von einem Beobachter noch als «Showdown zwischen Dinosauriern und Bloggern» beschrieben. In Berlin wurde jedoch deutlich, dass sich kein unüberbrückbarer Generationskonflikt manifestierte, sondern das Zusammentreffen vielmehr als Chance zu regem Austausch begriffen wurde. Die gut besuchte Veranstaltung traf offenbar einen Nerv: Das Bedürfnis, sich in der unüberschaubaren Vielfalt des Schreibens über Film orientieren zu können, ist groß.

Aus Platzgründen konnten nicht alle Vorträge, die im Verlauf des Symposiums gehalten wurden, ins Brevier aufgenommen werden. Aber die Positionen der Referenten Thierry Chervel (der einen Einblick in die ökonomischen Mechanismen des Kulturjournalismus im Netz lieferte), Sascha Keilholz (der das weit über die Aktualitätskritik und den Mainstream hinausgehende Selbstverständnis des Projekts critic.de darlegte) sowie meine eigene (die Befürchtungen eines Zeitungslesers im Netz) sind in den Diskussionen lebhaft präsent. Da die Vorträge von Ekkehard Knörer und Volker Pantenburg bereits im Netz publiziert wurden, bat ich die Autoren, ihre Manuskripte zu überarbeiten und zu ergänzen. Barbara Schweizerhofs Essay wurde exklusiv für das Brevier geschrieben. Die Resonanz auf unsere Veranstaltung in der Presse und im Internet war groß; Thomas Groh hat ei­nen umfassenden Überblick auf seiner Seite www.filmtagebuch.blogger.de zusammengestellt. Auf www.critic.de, www.daily.greencine.com, der Seite des Amerikaners David Hudson und in anderen Blogs wurde sehr kontrovers weiter debattiert. Im Gegensatz zum Internet gibt es in Büchern keine Kommentarfunktion, die sich mit einem einzigen Klick bedienen lässt. Gleichwohl hoffe ich, dass dieses Brevier die Leser dazu ermutigt, die Diskussion fortzusetzen.

Gerhard Midding ist freier Filmjournalist und Vorstandsmitglied des Verbandes der deutschen Film­kritik.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis