Notizen zum Kino 6: Podiumsdiskussion 2

Kommt es noch darauf an?
Die professionellen Standards des Filmjournalismus
Zweite Diskussion im Filmhaus am Potsdamer Platz am 11. Dezember 2009

 

An dem Podium nahmen teil:
Dietmar Kammerer, Der Standard, Die Tageszeitung, Tip Magazin (VDFK)
Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung  (VDFK)
Sascha Westphal, www.mehrtheater.de, Ruhr Nachrichten, Die Welt (VDFK)
Moderation: Gerhard Midding, epd-Film, Die Welt (VDFK)

Gerhard Midding: Was fehlt, jenseits der Vielfalt, wenn die regionale Filmkritik verschwindet: ein persönliches Gegenüber für Leser und Kinobesitzer, eine Meinung, die nicht aus einer Agentur in Hamburg oder Berlin stammt?

Sascha Westphal: In Dortmund zum Beispiel hat es nie den Kontakt der Redaktion oder des Kritikers zum Kinobesitzer gegeben, weil die Kinosituation dort sehr mager ist. Als ich angefangen habe, mich für Film zu interessieren, gab es in den Programmkinos zumindest noch thematische Reihen mit Filmen, die gerade nicht aktuell waren. Das ist alles weggefallen. Dadurch ist auch eine direk­te Anbindung zwischen Kritik und Öffentlichkeit und dem Kino weggefallen, denn die Filme, die heute laufen, kann jeder besprechen, egal, ob er aus Dortmund und Umgebung oder aus Berlin kommt.

Gerhard Midding: Andreas und Dietmar, ihr arbeitet zwar für überregionale Zeitungen. Aber was ist eure Einschätzung?

Dietmar Kammerer: Wenn es in den meisten Städten und Regionen nur noch eine Zeitung gibt und die Leser nur – wenn man das Internet einmal ausblendet – eine Stimme hören, kann man ohnehin nicht von Vielfalt sprechen. Aber wenn jetzt alle Zeitungen ihre Texte von Agenturen übernehmen, kann sich der Leser auch nicht mehr mit dieser individuellen Stimme auseinandersetzen. Dann fehlt nicht nur jemand, der die Filmstarts bespricht. Nach meiner Vorstellung vom Beruf des Kritikers sollte er sich auch mit den Bedingungen der Film- und Kulturpolitik vor Ort auskennen. Deshalb fand ich eben im Vortrag auch das Beispiel der Filmförderung interessant: Wie engagiert sie sich, was hat das mit unserer Region zu tun? Wenn man nur über Filmstarts redet, ist das wie Gastro-Kritik.

Andreas Kilb: Man muss auch einmal fragen: Wo kommen Filmkritiker her? Die fallen ja nicht vom Himmel und werden auch nicht alle in Berlin-Charlottenburg geboren. Und obwohl wir alle online sind, leben wir ja noch in einer räumlichen Welt. Und da geht man in der Stadt ins Kino, in der man aufwächst. Wenn man in Tübingen oder Berlin studiert, nimmt man das Kino erst einmal dort wahr. Und wenn man es da nicht mehr schafft, seine ersten Filmkritiken zu schreiben, ist die erste Stufe in vielen Filmkritiker-Karrieren gekappt. Ich bin in Frankfurt geboren und habe auch nicht gleich bei der FAZ angefangen, sondern erst für ein Stadtmagazin gearbeitet. Die FAZ hat ja auch einen Lokalteil, der nur in Frankfurt erscheint, da habe ich die meisten meiner ersten Texte geschrieben. Aber da gibt es mittlerweile praktisch auch keine Filmkritiken mehr. Die Frage, wie man eigentlich Filmkritiker wird, ist immer schwieriger zu beantworten. Und ich glaube, wir sehen das alle, dass es kaum noch Nachwuchs gibt.

Gerhard Midding: Den könnte es im Netz geben. Und da gibt es ihn auch.

Andreas Kilb: Richtig. Aber es ist die Frage, wie sich das organisiert. Ich nehme zum Beispiel Filmkritiken im Netz nur über www.critic.de oder www.imdb.com wahr, wo sie verlinkt sind. Aber im Schritt vom lokalen zum überregionalen Journalismus existierte noch ein klarer Karriereweg, eine feste Form, die nicht so zufällig war.

Gerhard Midding: Eine klassische, Balzac'sche Karriere-Vorstellung: die große Stadt erobern! Beim Vortrag von Florian Vollmers habe ich an einer Stelle gestutzt, wo ihm ein Redakteur offen sagt, es würden nicht mehr analytische, differenzierte Texte geschätzt. Da wäre interessant zu erfahren: Von wem eigentlich nicht? Von der Redaktion oder tatsächlich von den Lesern?

Dietmar Kammerer: Ich weiß nicht, ob das nicht eine Phantomdiskussion ist. So etwas habe ich noch nie von einem Redakteur zu hören bekommen. Sowohl die taz als auch Der Standard haben noch Redakteure, die differenzierte Texte schätzen und mit ihnen arbeiten. Mir ist es vielleicht passiert, dass ich zu akademisch geschrieben habe. Das sehe ich ein, man muss auch eine gewisse Einfachheit der Sprache haben, die nicht eine Einfachheit des Gedankens ist wohlgemerkt.

Sascha Westphal: Mir ist gerade bei einer Theaterkritik etwas passiert, das auch in unserem Kontext vielsagend ist. Ich bekam einen Anruf von der Vertreterin eines Redakteurs, die sich darüber aufregte, weil ich das Wort "Score" verwandt hatte. Sie wüsste nicht, was das ist, und der Leser wüsste es auch nicht. Ich hatte es aber bewusst gewählt, weil es mir sehr filmisch erschien, wie in dieser Bühneninszenierung mit Musik umgegangen wurde. Ich schlug "Soundtrack" vor. "Das verstehen unsere Leser auch nicht", erwiderte sie und fügte hinzu: "unsere alten Leser." Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich Redakteure sich da einen imaginierten Leser zusammenkonstru­ieren. Das ist nichts Anderes als Arroganz gegenüber dem Leser. Und die ist in regionalen Zeitungen, die ein ganz bestimmtes Bild ihres eigenen Profils haben, womöglich als konservative Fami­lienzeitung, noch extremer.

Gerhard Midding: Ein Phänomen, das Florian Vollmers beschrieben hat, ist die Sichtverengung auf den einen Film der Woche, an dem man vorgeblich nicht vorbeikommt. Gibt es nach euren Er­fahrungen gegen solche womöglich willkürlichen Verabredungen überhaupt noch Widerstände?

Dietmar Kammerer: Es gibt allerdings zugleich eine regelrechte Filmflut. Ich hab das einmal für die taz untersucht, da ermittelte ich einmal für eine Woche 16 Filmstarts. Das war zwar ein Rekord, aber insgesamt steigt die Zahl neuer Filme. Das ist in vieler Hinsicht für uns ein Problem.

Sascha Westphal: Die kleinen Filme finden in den Regionen aber praktisch überhaupt nicht mehr statt. Wenn in einer Woche in Berlin acht oder 16 Filme anlaufen, kommt davon in Nordrhein Westfalen nur ein Bruchteil an. Insofern reduziert sich schon einmal die Möglichkeit, worüber man schreiben kann. Wenn ein Film erst nach drei Monaten kommt, haben die Ruhr Nachrichten im­merhin noch einen Text gebracht, die Zeitungen der WAZ-Gruppe aber schon nicht mehr. Das liegt natürlich auch an den fehlenden Redakteuren, die aus ihrer Kenntnis gewisse Gewichtungen vor­nehmen könnten. Aber meist sind sie nur damit beschäftigt, Seiten zu machen und Texte zusam­menzustellen.

Andreas Kilb: In der FAZ war der Film der Woche früher immer ein Kampfmittel, um eine möglichst gute Platzierung im Feuilleton zu bekommen. Aber ich würde einen ganz anderen Trend beschreiben. Auch in überregionalen Zeitungen werden Filmkritiken von der Länge her einfach eingedampft. Jetzt gibt es auch in der FAZ Kurzkritiken, die früher nur im Lokalteil erschienen. Viele Filme, die man früher mit einer ausführlichen Kritik gewürdigt hätte, kommen nun nur noch in dieser Kurzform vor. Ich hätte als Redakteur Probleme damit gehabt, sie einzuführen. Es gibt natürlich einen objektiven Druck, der daher rührt, dass der Platz insgesamt weniger wird. Komischerweise betrifft das – und das finde ich besorgniserregend – weniger die klassischen Künste, Theater, Oper und Literatur. Ich finde das beunruhigend, weil damit eine Werteskala zurückkehrt, von der ich dachte, dass sie längst in den 70er Jahren verabschiedet wurde: Filmkritik, das ist etwas fürs Volk, das kann jeder, das wird von den Agenturen auch nicht schlechter gemacht. Und dann sparen wir Geld für unsere Hochkultur.

Gerhard Midding: Bei der Berliner Zeitung habe ich eine Erfahrung gemacht, die in eine ähnliche Richtung geht. Wann immer der Eigentümer wechselte, wurde ein Sparzwang mit immer unre­alistischeren Renditezielen verordnet. Diese Entwicklung verlief in Wellenbewegungen. Eine der ersten Maßnahmen bestand darin, die anderen Mitglieder der personell sehr gut ausgestatteten Feuilleton-Redaktion auf Filme anzusetzen. Für mich war diese Besetzungspolitik nicht nur be­fremdlich, weil mir Aufträge entgingen, sondern weil mit ihr auch ein altmodischer, kunstrichterlicher Tonfall in die Filmkritik zurückkehrt.

Sascha Westphal: Für eine Form von Filmkritik, die weiter sieht, über das Geschmacksurteil hinaus, ist es schwieriger geworden. Ich nehme nur meine eigene Erfahrung bei der Frankfurter Rundschau. Seit der Umstellung auf das Tabloid-Format sind die Längen im Schnitt um 50 Prozent reduziert worden. Früher hatte selbst der kürzeste Text noch 90 bis 110 Zeilen mit 40 Anschlägen. Heute haben sie 60 Zeilen mit 30 Anschlägen. Die längste käme heute auf den Umfang, den früher die kür­zeste hatte. Diese Ausführlichkeit habe ich an der Zeitung früher sehr geschätzt und deshalb gern für sie geschrieben. Es gab eben die Möglichkeit, weiter zu sehen, Beobachtungen in filmhistorische oder gesellschaftliche Kontexte zu stellen. Wie mache ich das, wenn ich nur noch den halben Platz dafür zur Verfügung habe? Diese Entwicklung finde ich neben allen finanziellen Bedrohungen, denen wir als Freie ausgesetzt sind, fast die gefährlichste. Filmkritik verliert an Bedeutung, wenn sie reduziert wird auf leichtverständliche Inhalte.

Gerhard Midding: Als gelegentlicher Autor und regelmäßiger Leser der Frankfurter Rundschau fühle ich mich ebenso betroffen. Aber ich entdecke da noch einen anderen Aspekt, eine Spannung zwischen der Reduktion der Länge und der Ambition der Autoren. Oft spürt man einen Widerstand gegen die Form. Diese Ambition kann nicht mehr wirklich ausformuliert werden, weil sie mit der Kürze kol­lidiert, die auf eine Dienstleistungsfunktion zielt. Diese Konsumierbarkeit kann nicht wirklich im Sinne einer Feuilletonredaktion sein. Wobei ich finde, dass die kurze Form mitunter eine schöne Herausforderung sein kann: als Stolperstein, als Auseinandersetzung mit einem bestimmten äs­thetischen Aspekt.

Sascha Westphal: Sie wird dann interessant, wenn man nicht mehr an die Service-Funktion gebunden ist, wenn man versucht, sie für einen ganz eigenen Blick zu nutzen, der einen Punkt herausgreift aus dem Film und sich ihm darüber nähert. Was aber bedeutet, dass Service und Kritik wegfallen. Dieser Blick ist implizit natürlich auch kritisch, aber unter solche Texte kann man schlecht ein Werturteil mit ein bis fünf Sternen oder Kästchen setzen. Aber dadurch, dass sich in überregionalen Feuilletons diese Mentalität durchsetzt, fällt auch die Möglichkeit fort, kurz, aber anders zu schreiben.

Andreas Kilb: Während der Vorträge habe ich überlegt, wie das alles angefangen hat. Vor 13 Jahren war ich auf einer Tagung über Filmkritik in Bremen. Daran nahm ein junger Filmwissenschaftler teil, der behauptete: In zehn Jahren gibt es euch alle nicht mehr. Bezahlte Filmkritik brauchen wir dann nicht mehr, das gibt es alles im Internet. Aber es ist dann doch nicht passiert. Allerdings gibt es seither haufenweise Filmkritik im Internet, die zum Teil akademischer und auch viel länger ist als die, die in den Zeitungen steht. Das hat dazu geführt, dass Filmkritik in der Werteskala der Zeitungsmacher nicht mehr so viel wert ist. Man sieht, das kann es ja auch alles umsonst geben – und auch sehr, sehr kundig. Und dadurch nimmt der Wert von Filmkritik zunächst in den Regionalzeitungen und vielleicht auch verstärkt in den Überregionalen ab.

Gerhard Midding: Ist nicht auch die Popularität verdächtig? Wenn man reader scans betrachtet, stellt sich heraus, dass Filmkritiken zehnmal so häufig angeklickt werden als Ausstellungs- oder Thea­terkritiken. Die Filmkritik wird nicht unbedingt als Prunkstück des Feuilletons angesehen, ist aber offensichtlich sein attraktivster Bestandteil.

Dietmar Kammerer: Wenn man die Zuschauerzahlen der Kinos mit denen der Theater oder Kon­zertsäle vergleicht, ist der Film die eindeutig populärste Kunstform. Ich bin nicht nur aus Liebe zum Film Kritiker geworden, sondern weil ich finde, dass er in unserer Gesellschaft die wichtigste Funktion hat: Weil er so populär ist, sagt er am meisten über unsere Gesellschaft aus, bildet sie ab. Dadurch wird auch ein Film wie Avatar wichtig. Egal, ob man ihn gut oder schlecht findet, muss man sich die Frage stellen, was ist das für eine Welt, die sich einen solch teuren Film leistet?

Andreas Kilb: Es gibt ja tatsächlich zwei Aspekte. Der eine ist die Frage, wie man davon leben kann. Und der andere ist die Frage nach der Qualität von Filmkritik. Beides hängt eben doch nicht unmittelbar miteinander zusammen. Es gibt eine sehr qualifizierte Kritik im Internet, von der man aber überhaupt nicht leben kann. Ich fand zum Beispiel eine der interessantesten filmkritischen Debatten in diesem Jahr die zwischen Wolfram Schütte und Ekkehard Knörer über Das weiße Band in www.perlentaucher.de: absolut verrückt, wie sich da ein vollkommen idealistisches Kunstverständnis manifestierte, zu dem man sich sonst nie bekennen würde! Beide haben auf gewisse Weise die Hosen heruntergelassen, wie es in der Zeitung nie mehr stattfinden würde, und das war so interessant, weil es zwei intelligente Leute sind. Zugleich frage ich mich, ob es nicht ein Formverlust ist, ein Verlust von gedanklicher und formaler Disziplin, wenn so etwas nur noch in einem Blog stattfinden kann und nicht mehr in der Zeitung? Ich denke wiederum an Wolfram Schütte, der zu seiner klassischen Zeit in der Frankfurter Rundschau auch mal 300 Zeilen über einen einzigen Film geschrieben hat – und dann hat Peter Buchka implizit darauf geantwortet. Das alles zu einer Zeit, die wir bio­graphisch noch erlebt haben. Das scheint jetzt endgültig gestorben zu sein.

Gerhard Midding: Ich möchte zur Grundfrage unserer Diskussion kommen: Welche Standards sind für euch in der Filmkritik gültig? Wie wurden sie gesetzt, wie haben sie sich entwickelt?

Dietmar Kammerer: Ganz simpel beim Lesen von Autoren, nicht nur Filmkritikern, die gut schreiben können. Auch durch Absetzbewegungen. Standards setzt man sich selbst. Was soll Filmkritik leisten? Das muss man sich jedes Mal fragen, wenn man sich zum Schreiben hinsetzt. Warum braucht die Welt diesen Text? Darauf gibt es un­terschiedliche Antworten, sie müssen nicht immer auf die große Gesellschaftstheorie hinauslaufen. Es muss auch Kritiken geben, weil bestimmte Filme gut sind und man sie verteidigen will. Diese Haltung muss man aufrechterhalten, trotz allem Druck. Ein guter Kritiker muss sich sagen können, dass er es besser kann als der Durchschnitt. Er muss Grundlagen haben, es ist natürlich wichtig zu sehen, ob ein Darsteller gut spielt oder der Regisseur eine gute Schauplatzrecherche gemacht hat. Es ist wichtig, sich im Filmkanon auszukennen, Motive wiederzuerkennen.

Sascha Westphal: Natürlich habe ich bestimmte Vorstellungen, wie ein Text werden sollte, was der Film aus mir herausholen könnte und wie nahe ich dem komme. Sie hängt leider auch von den Produktionsbedingungen ab, denen man ausgesetzt ist, mit Zeiten und Längen, mit der Möglichkeit, sich in einen Text zu vertiefen. Deshalb fand ich die Äußerung von Rüdiger Suchsland so be­merkenswert, der zugab, manchmal auch schludern zu müssen. Ich würde sagen, dass ich meine persönlichen Standards nur zu einem gewissen Prozentsatz erfüllen kann.

Andreas Kilb: Ich würde mich immer hüten, Standards zu setzen, also das Professionelle allzu eng zu fassen. Interessant kann in einer Kritik ja oft ein ganz anderer Gesichtspunkt sein, der von außen kommt, der nichts mit der Story oder der Kameraarbeit zu tun hat. Selbstverständlich muss eine Kritik einen bestimmten Informationsgehalt besitzen. Aber ich würde eher mit Freiräumen argumentieren: Eine Filmkritik hat eine Freiheit, die eine Opernkritik vielleicht nicht hat. Das As­soziieren ist wichtig. Deshalb ist die Platzdiskussion nicht so ganz überflüssig: wie viel man noch sagen darf.

Gerhard Midding: Also sind nicht die Standards, sondern die Freiräume bedroht?

Andreas Kilb: Man muss sich nur einmal eine Agenturkritik anschauen. Die erfüllt gewisse Standards, wie sie auch an Journalistenschulen vermittelt werden. Die klappert sie ab und hüllt sie sozusagen in eine nette Form. Das ist sehr professionell, aber eben auch sehr steril. Gedanklich steril.

Gerhard Midding: Heute Morgen wurden viele Möglichkeiten aufgezeigt, die das Internet verspricht. Die alten Formen des Schreibens werden nicht nur ins Netz hineingetragen, es gehen auch neue aus ihm hervor. Spürt ihr eine Herausforderung durch eine ungekannte Beweglichkeit des Lesers oder Users, der an vielen Stellen kluge Dinge über das Kino erfahren und folglich andere Ansprüche formulieren kann?

Dietmar Kammerer: Ich denke ja. Zwar sehe ich keine allzu große Wesensdifferenz der beiden Medien. Aber je mehr ich im Internet auf Texte stoße, die reflektiert oder auch versponnen an einem Film entlang schreiben, desto mehr traue ich mich manchmal, andere Formen beim Zei­tungsschreiben auszuprobieren. Man kriegt beim Schreiben eine andere Wendigkeit rein, das Inter­net hat eine Vielfalt von Formen aufgemacht, auf die man Zugriff hat. Und es ist gut, wenn man sich als Autor verändert, hinzu lernt.

Andreas Kilb: Ich lese zumindest viel mehr über Filme, seit es das Internet gibt. Früher gab es die Cahiers du Cinéma, epd Film, Film Comment. Und jetzt lese ich auch, was Roger Ebert in Chicago schreibt oder die Filmkritiker der New York Times. Von der Kernfrage führt das aber weg. Wir können im Internet superintelligent schreiben und bloggen. Aber es ist ja ein Beruf. Wenn wir damit nichts verdienen können, ist es ein Hobby. Das bedeutet im Gegenzug aber auch, dass das, was wir beruflich tun, immer weniger mit dem zu tun hat, was man alles schreiben könnte. Das Berufliche darin besteht, Förmchen zu backen. Die inhaltliche Weiterentwicklung fände dann sozusagen als Liebhaberei im Netz statt.

Gerhard Midding: Das könnte in der Konsequenz bedeuten, dass man als Kritiker seine Cinéphilie fortan zweiteilt: in das, was uns erlaubt ist und in das, was wir gern über das Kino schreiben würden. Dann wären wir leider beim Flüchten, nicht beim Standhalten.

Andreas Kilb: Ich kann nur von einer relativ luxuriösen Warte darauf antworten. Ich bin nicht mehr Filmredakteur, weil ich nicht in Frankfurt arbeiten wollte, sondern in Berlin als Kulturkorrespondent. Das führt dazu, dass ich über bestimmte Filme nicht mehr schreiben kann, obwohl ich dazu vielleicht eine Meinung habe. Ich habe mir schon überlegt, wie ich die – sei es über eine persönliche Website oder einen Blog – äußern kann. Es kommt nicht so oft vor, aber ich könnte mir auch vorstellen, dass daraus eine Gewohnheit wird.

Dietmar Kammerer: Wir reden eigentlich die ganze Zeit über Bedingungen, die guten Journalismus verhindern. Die Frage ist, wie können wir unser Selbstverständnis von Filmkritik ändern, um der neuen Situation zu begegnen. Aber damit kommen wir natürlich nicht weiter, solange nicht die Ökonomie hier mit am Tisch sitzt. Ich stehe den Zukunftsmodellen, von denen heute Morgen die Rede war, skeptisch gegenüber. Wenn jeder freie Journalist zum Unternehmer werden soll, wird es am Ende auch nur eine kleine Spitze geben, die davon leben kann. Man kann das nicht skalieren. Das ist nicht die breitflächige Lösung, denn es ändert die Strukturen nicht. Vieles von dem, was heute Morgen gesagt wurde, trifft ja auf den Kulturjournalismus insgesamt zu. Mich würde interessieren, ob unsere Kollegen in der Literatur, dem Theater und der Oper nicht genauso reden würden wie wir. Gibt es eigentlich einen Verband der Kulturjournalisten?

Gerhard Midding: Meines Wissens hier zu Lande nicht. Vielleicht gibt es unseren Verband, weil wir uns mehr verteidigen müssen. In England existiert seit fast 100 Jahren der Critics' Circle, in dem sich Journalisten aus allen Disziplinen zusammengeschlossen haben. Diese Dachorganisation ist aber ein konservativer, eher exklusiver Club.

Andreas Kilb: Die haben auch nicht verhindert, dass die Filmkritik großflächig eingedampft wurde.

Dietmar Kammerer: Trotzdem wäre der Aufruf, dass man sich vereint. Wenn man sich als Lobby organisieren will, vertritt man mit einer größeren Mitgliederzahl auch eine größere Meinungsmacht.

Andreas Kilb: Mal ganz konkret. Es gibt ja in allen großen Zeitungen Medienseiten, auf denen erscheinen immer wieder Meldungen, wenn Redakteure entlassen werden. Dort müsste man ein größeres Bewusstsein schaffen für das, was passiert. Ich habe zum Beispiel erst aus dem Vortrag von Florian Vollmers erfahren, wie schlecht es um die Berichterstattung in den Regionalzeitungen bestellt ist. Unser Kulturminister will ja immer den Filmstandort Deutschland stärken. Weiß der eigentlich, wie sehr die Filmkritik bedroht ist?

© VDFK 2010

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