Notizen zum Kino 5: Anlass zur Kritik

Anlass zur Kritik: Schreiben über Film im Netz
Eine Bestandsaufnahem
Von Ekkehard Knörer

1. Fehlstart

Vor drei Monaten gab es, online und offline, eine kleine Debatte um das Verhältnis von Internet- und Print-Filmkritik. Ausgelöst hatte sie der Film­kritiker und langjährige Vorsitzende des Verbandes der deutschen Filmkritik, Josef Schnelle, mit dem Artikel „Warum wir die Filmkritik brauchen“ in der Berliner Zeitung (14.8.2008), dessen Untertitel (der wahrscheinlich nicht einmal von Schnelle selbst stammte) lautete: „Die Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil“. Der Vorwurf ging, kurz zusammengefasst, so: Mit der Möglichkeit für jedermann, im Internet eigene Texte zu Filmen zu veröffentlichen, geraten die Qualität und der Anspruch und die Standards seriöser Filmkritik unter Druck. Eine Meinung ist keine Kritik, ein Unterschied, der aber angesichts massenhafter unqualifizierter Äußerungen ver­wischt zu werden drohe. Deshalb, so die mindestens implizite Schlussfolgerung, solle die qualifizierte Printkritik die Linie im Sand deutlich markieren, jenseits derer amateurhaftes Bloggen beginnt.

Ich würde die Voraussetzungen der im Gefolge dieses Artikels kurz aufgeflackerten Auseinander­setzung gerne möglichst schnell hinter uns lassen, indem ich die Linie im Sand anders ziehe. Oder genauer: Indem ich andere, mehrere Linien ziehe und über die eine oder andere Linie auch mal springe, um zu sehen, wie die Wirklichkeit von der einen und der anderen Seite aus aussieht. Be­ginnen möchte ich mit einem sehr einfachen und für jeden, der sich ein wenig in der Internet-Filmschreiber-Szenerie auskennt, überaus trivialen Hinweis, dem später Beispiele folgen werden. Der Hinweis ist dieser: Die Grenze zwischen Schreiben über Film mit professionellem Anspruch und amateurhaftem Schreiben ist mit der Grenze zwi­schen Online und Print alles andere als identisch. Das war sie nie, das ist sie nicht und sie wird es – alles mit guten Gründen – nicht sein.

Zwei falsche Prämissen mindestens enthielt meiner Ansicht nach Josef Schnelles Text. Die Un­terstellung zum einen, dass das nicht-professionelle, schnelle, unreflektierte Äußern von Meinungen (über Film, aber auch über alle anderen Künste) im Internet in irgendeiner Weise illegitim und ein Problem sei. Ganz normale Zuschauerinnen und Zuschauer geben nun eben auch schriftlich kund und zu wissen, was sie sich denken, wenn sie Unterhaltung und/oder Kunst konsumieren – und oft genug denken sie sich halt wirklich nicht viel. Das mag bedauern, wer sich Illusionen über stinknormalen Unterhaltungskonsum macht, es muss diejenigen nicht weiter kümmern, die für ein an der Sache ernsthaft interessiertes – bzw., der Unterschied ist für den Filmjournalisten natürlich entscheidend, ein daran ernsthaft interessierbares Publikum schreiben. Auch die Zahl der grundsätzlich für ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Kino Interessierbaren ist begrenzt und, das sei gleich dazu gesagt, auch nicht dadurch beliebig zu erweitern, dass man vom gedruckten Papier ins von Zugangs-Schwellen und Zugangskosten we­niger belastete Medium Internet wechselt.

Für seine zentrale, durch nichts belegte Behauptung versteckte sich Schnelle hinter dem US-Print-Kritiker Richard Schickel, der nämlich dekretiert: „Blogs gehören eher zum gesprochenen Wort. Das ist flüchtige Gesprächskultur. Mit der geschrieben Filmkritik, einem respektablen Literaturgenre hat das nichts zu tun.“ Das ist als Behauptung falsch schon deshalb, weil es pauschal ist. Es ist doppelt falsch, weil viele Autorinnen und Autoren online beweisen, dass sie sehr wohl Meisterinnen und Meister dieses Literaturgenres sind. Und es ist dreimal falsch, weil das Internet in Blogs und anderen Formaten – die Möglichkeit bietet, viele der Begrenzungen und Zwänge, die für dieses Genre in Form von Zeitungs- und Zeitschriftentexten gelten, zu überwinden und hinter sich zu lassen und dadurch den Formenreichtum des Schreibens und des Denkens sogar zu erweitern: durch größere Freiheiten des Stils und der Textform und prinzipiell veränderte Vor­aussetzungen. Zu diesen gehören multimediale Formate, von denen im Print – anders als im Radio (Peter W. Jansen) natürlich oder, leider nur theoretisch, im Fernsehen – nicht zu träumen ist, weil es da nur Fotos als anderes Medium gibt, das produktiv zu nutzen meist nicht die Zeit und die Gelegenheit ist. Es gehören aber auch und gerade und manchmal, wenn ich an das Ex-Cathedra mancher Feuilleton-Texte denke, scheint mir sogar: es gehören sogar in erster Linie jene von Schickel und Schnelle verachteten neuen Formen der „Gesprächskultur“ dazu. Debatten in Blog-Kommentaren, Hinweise, Diskussionen, zu denen Kenner von allen Seiten etwas beitragen, mögen nicht an die (ohnehin überschätzte) Ewigkeit adressiert sein. Für den Moment bieten sie – bei Glenn Kenny (www.somecamerunning.typepad.com) etwa oder Dave Kehr (www.davekehr.com) – mehr an Witz und Anregung und Intelligenz als schock­weise ins Genre der Filmkritik gehörige Artikel.

Kurzum: Die etablierte Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften kann durch diese im Internet vorgeführten Ergänzungen und Erweiterungen nur gewinnen. Und zwar auch und gerade, weil sie manche per Tradition und manchmal einfach durch Denkfaulheit eingeschliffene Bequemlichkeit als solche erst kenntlich machen.

2. Anlass zur Kritik

Im Jahr 1994 war Matt Zoller Seitz, der damals als Filmkritiker für den Dallas Observer schrieb, Finalist für den Pulitzer-Preis für Kritik. Später wurde er fester Filmkritiker des Stadtmagazins New York Press, Mitglied des ziemlich exklusiven „New York Film Critics Circle“, schrieb für den Newark Star Ledger und auch für die New York Times. Eine ordentliche Karriere, sehr viel höher geht es nicht in der Filmkritikszene der USA. Es gab auch, wie Zoller Seitz in einem vor ein paar Wochen erschienenen Interview meint, erst ein­mal keinen Grund zur Klage: „Ich hatte bei der New York Press und beim Star Ledger unglaubliche Freiheiten und vergleichsweise sehr viel Raum für meine Texte. Aber da war das Problem mit dem Anlass, dem Nachrichtenwert (news hook) … Dabei bin ich der Ansicht, wenn einer gut schreibt und wenn der Autor eine Leserschaft hat, die sich für seine Ansichten und Interessen interessiert, dann ist es im Grunde völlig egal, worüber dieser Autor schreibt.»

Am 1. Januar 2006 setzte Matt Zoller Seitz diese Überzeugung in die Tat um. Ohne jeden weiteren Aufwand startete er beim Bloghoster www.blogger.com unter der Adresse www.mattzollerseitz.blogspot.com ein eigenes Weblog mit dem Titel „The House Next Door“. Schon in einem der ersten Einträge und dann immer wieder befasst sich Zoller Seitz mit Terrence Malicks Film The New World, von dem er glaubt, dass die Kritik ihm nicht gerecht geworden ist und über den immer wieder zu schreiben ihn bis heute nichts und niemand hindern konnte. Ohne dass es geplant war, auch aufgrund eines privaten Schicksalsschlags, hat sich „The House Next Door“ im Laufe der Zeit deutlich verändert und immer stärker in Richtung eines Gemeinschaftsblogs entwickelt.

Heute schreiben hier eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Manche von ihnen mit Print-Hintergrund, die meisten allerdings nicht. Manche Texte haben Anlässe (die Besprechung einzelner Folgen von Fernsehserien wie etwa The Wire, Battlestar Galactica oder Mad Men), andere nicht. Manche sind Übernahmen von anderen Blogs, andere nicht. Es gibt Kritiken, Links und Notizen, es gibt Festivalberichte, Porträts, kurzum: eigentlich alles, was die Filmpublizistik an Genres so hergibt. Und es gibt last but not least den Kommentarbereich, in dem nicht nur immer wieder sehr spannend und auch kontrovers diskutiert wird. Es ist nicht zuletzt der Kommentarbereich, der hier wie in Blogs überhaupt, dafür sorgt, dass ein Blog, eine Website eine soziale Unternehmung, ein Gemeinschaftsprojekt bleibt. Die Texte selbst sind von durchaus unterschiedlicher Qualität, das allermeiste davon könnte aber problemlos zum Beispiel in unabhängigen US-Stadtzeitungen wie dem City Paper von Baltimore, dem Austin Chronicle oder der LA Weekly erscheinen. Eines sind die Texte ganz gewiss nie: nämlich amateurhaft. Es gibt bei „The House Next Door“ keine gemeinsame Ideologie, aber doch etwas wie einen Gruppenzusammenhang, eine Bandbreite des Tons, ein Feld der Interessen, das, nur Beispiele aus den letzten Wochen, von Arnaud Desplechin über Essays zur Politik bis zu ak­tuellen Kino-Starts reicht.

Ich bin auf das Blog näher eingegangen, weil hier zentrale Faktoren dessen, was das Internet an neuen Formen und Chancen bietet, zusammenkommen. Nicht zuletzt macht der Weg von Matt Zoller Seitz aus dem Print ins Internet besonders deutlich, was das Netz über das im Zeitungs- und Magazinjournalismus hinaus Mögliche bietet. In erster Linie: Die völlige Freiheit über das zu sch­reiben, was man liebt, das, was einem wichtig ist, über das, was man und sei’s noch so zufällig neu oder wiederentdeckt. Das alles ohne“news hook“, ohne Relevanzdruck, ohne Zielgruppenfixierung, ohne Anlass zur Kritik.

3. Zwischenbemerkung: Warum Kritiker nicht in erster Linie Journalisten sind

Ich halte es für ein Missverständnis zu glauben, dass Kritiker (seien es Film-, Literatur- oder andere Kritiker) in erster Linie Journalisten sind. Das hieße, einen zu geringen Begriff zu haben vom Geschäft der Kritik. Das ist mir prinzipiell wichtig, weil es heißt, dass der Kritikerin und dem Kritiker mitnichten die handelsüblichen journalistischen Formate die von vorneherein und quasi-natürlich gegebene Ausdrucksform sind. Und sie sind es desto weniger, je stärker die Blätter, in denen sie oder er schreibt, normiert sind in Form, Ausdruck und auch im Gegenstand. Wenn etwa gefordert wird, dass große Produktionen groß besprochen werden müssen, weil sie große Teile des Publikums interessieren. Oder wenn man ganz auf Neustarts fixiert ist, also schlicht auf die Termin-Vorgaben von Wirtschaft und Industrie. Oder wenn Kritik nur noch als Serviceleistung begriffen und ödester Inhaltismus erwartet, dafür jede Abschweifung, jeder Ausflug in Geschichte und Theorie und For­manalyse argwöhnisch beäugt wird.

All dies ist der Kritikerin als Kritikerin, obgleich sie die journalistischen Argumente ja ver­steht, doch von Herzen zuwider. Dies ist eine der für meine Begriffe wirklich scharfen Linien, die es zu ziehen gilt. Und sie verläuft, und zwar weder so noch so, ganz und gar nicht zwischen Online und Print.

Während der Kritiker mit Liebe und Leidenschaft, mit Herz und Verstand an seinem Gegenstand, an dessen Form und Zusammenhang und Geschichte hängt, ist der Journalist in erster Linie ein dem Publikum zugewandter Vermittler. Die Kritikerin ist, kurz gesagt, in erster Linie ihrem Gegenstand verpflichtet, die Journalistin in erster Linie der Leserschaft. Das ist ein gewaltiger Unterschied, der dazu führt, dass der Kritiker als Journalist – und das ist in professionellen Zusammenhängen natürlich die häufigste Auftrittsform – immer, bewusst oder unbewusst, erst einmal in sich selbst abwägen und vermitteln muss: zwischen seiner Treue zum Gegenstand und den Bedürfnissen der nicht spezialisierten Leserschaft.

4. Die totale Freiheit

Außerdem ist die Kritikerin, nimmt man den Begriff so anspruchsvoll, wie man es selbstverständlich tun sollte, immer auch Autorin, d.h. Verfasserin von Texten, auf deren Form es ebenso wie auf den Inhalt ankommt. Auch das macht für den Kritiker im Tages-, im Wochen- und sogar im Monatsgeschäft Kompromisse unausweichlich. Es können dabei natürlich hervorragende Texte entstehen, und sie tun es. Manchmal verdankt sich das sogar den Kompromissen, die notwendig sind, manch einer läuft gerade unter diesen Bedingungen zu höchster Form auf. Das ändert nichts daran: Für den Kritiker als Journalisten sind Kompromisse immerzu nötig.

Als Autorin fürs Netz dagegen sieht man sich mit beinahe unbegrenztem Freiraum konfrontiert. Man kann ganz kurz schreiben und ganz lang, ganz hermetisch oder total populär, poetisch oder banal, assoziativ oder linear. Regelmäßig oder am Rand des Verstummens. Man kann das Gespräch mit der Leserschaft suchen oder verweigern. Oder darauf vertrauen, dass die Leserschaft, die es in­teressiert, schon finden wird, was man schreibt. Auf einem vor wenigen Monaten in New York auf Einladung der Zeitschrift Film Comment stattgefundenen Symposion zur „Krise der Filmkritik“ beleuchtete Pascual Espiritu (www.filmref.com) Veröffentlichen im Netz von ihrer Seite als der Seite der Produktion aus: „Was aber Online-Diskussionen und die Community angeht, so ist das gerade der Reiz: Irgendetwas zu schreiben und auf die eigene Seite zu stellen und du wirst vom Publikum gefunden, statt dass du für ein Publikum schreibst. Das tue ich nämlich nicht.“

Das heißt: Im Netz kann man als Kritikerin nicht nur anders schreiben. Auch die Leserschaft ist potenziell anders strukturiert. Nämlich als zukünftige, nicht als schon ausgemachte Leserschaft. Nicht als Zielgruppe, die es möglichst genau anzusprechen gilt, sondern als kommende, als im Virtuellen zusammenkommende Gemeinschaft von Menschen, die mit einem die Interessen, die Leidenschaften teilen. „Das ist“, meint Espiritu, „einer der Vorteile der Veröffentlichung im Internet, gerade im Vergleich mit einer Tageszeitung, wo dein Text am nächsten Tag schon verdrängt wird oder gleich ins Recycling geht. Im Netz verschwindet zum Glück das meiste praktisch nie mehr.“

Pascual Espiritu ist, obwohl ihre Texte von größter Expertise zeugen, keine „professionelle“ Kritikerin. Sie hat hauptberuflich mit Film sogar überhaupt nichts zu tun. Espiritu arbeitet unter der Woche vielmehr als Design-Ingenieurin bei der NASA und ist derzeit mit deren aktueller Mondmission beschäftigt. Ihre Wochenenden aber verbringt sie im Kino und auf ihrer Website „Strictly Film School“ schreibt sie unter dem Pseudonym Aquarello sehr kluge Texte über die Filme von zum Beispiel Jean Eustache oder Jac­ques Rivette, von Bela Tarr oder Yoshishige Yoshida.

Man kann, als Kritikerin im Netz, ganz auf sich und die kommende Leserschaft gestellt, also wirklich buchstäblich schreiben, wie und worüber man will. Die Frage ist: Tut das dem Schreiben gut? Darauf gibt es ganz sicher keine eindeutige Antwort, aber: Die Erfahrung kann durchaus bestürzend sein. Eine Kritik, wie sie in Zeitungen steht, hat bei aller Variabilität doch einer ganzen Menge Konventionen zu gehorchen. Die Freiheit, die man als Blogger hat, kann selbstverständlich auch lähmen. Man muss sehr wohl seine Stimme erst finden. Man muss sie verlieren und lernen, sie wieder zu finden. Vielleicht kommt so etwas bei ernsthaften Kritikerinnen auch im Alltagsge­schäft der Filmkritik vor. Vor dem leeren WordPress- oder Blogger-Editor zu sitzen und nicht zu wissen, was man da tut, aber doch zu wissen, dass man mehr oder weniger alles wenigstens wollen könnte, das ist eine grundstürzende Schreiberfahrung, die zu machen jenen besonders gut täte – und es sind im Tagesgeschäft so wenige nicht die sich ihrer Sache und ihrer Formen stets sicher sind. Denn zu wissen, dass man die Konventionen auch auf den Kopf stellen kann, nützt bei den si­cher nicht vielen Gelegenheiten, bei denen man es dann wirklich mal tun sollte.

5. Öffentlichkeiten: Publizieren, Aggregieren

Einige der klügsten Kritikerinnen und Kritiker der Netzkultur nennen immer wieder einen zentralen Einwand gegen das Internet: Es verstärkt eine Tendenz zur Aufsplitterung einer Gesamt-Öffentlichkeit in spezialisierte Teilöffentlichkeiten, die einander kaum noch zur Kenntnis nehmen. Ich halte diese Diagnose nicht für völlig falsch, würde aber zu bedenken geben, dass solche Kohäsionsverluste des Öffentlichen erstens längst vor dem Aufstieg des Internet und des World Wide Web begonnen haben und dass das Netz somit abbildet und vielleicht auch verstärkt, was eine sozial, nicht technologisch begründete Tendenz ist. Dass zweitens Kohäsionen vergangener Art immer auch etwas mit mal unwillkürlichen, mal willkürlichen Blindheiten, mit problematischen Deutungshoheiten und Exklusionsmechanismen zu tun haben. Was als Gesamt-Öffentlichkeit ein scheinbar evidenter Zusammenhang eines Großen und Ganzen war, ist immer auch durch hierarchische Machtausübung und durch den Ausschluss von Dingen und Personen, die nicht dazugehören, bestimmt gewesen. Gegenöffentlichkeiten sind als Teilöffentlichkeiten im Netz durchaus ermächtigt durch neue Formen der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung. Und drittens und vielleicht am wichtigsten erzeugt das Internet längst Kohäsionen und Verdichtungen ganz eigener Art.

Jedes einzelne Blog ist in der Regel schon – anders als herkömmliche Medien – kein reiner Sender, sondern ein Knotenpunkt, der im einen Atemzug Leserinnen anzieht, im nächsten vielleicht in Kommentaren zum Sprechen bringt und im übernächsten durch Links ganz woandershin schickt. Es ist absehbar, dass sich die Teilöffentlichkeiten des Netzes in der Zukunft an zentralen Punkten zu großen Verteilerknoten verdichten werden. An diesen Punkten wird gesucht, gesammelt, selektiert und neu aggregiert, was es Neues und Interessantes gibt. Auf dieses Neue und Interessante wird hingewiesen und hingelinkt. Aufmerksamkeit wird verteilt und auch umverteilt. Wir alle kennen die Seiten, von denen ich spreche, wenngleich uns vielleicht noch nicht ganz klar ist, dass dies die teils schon gegenwärtigen und in jedem Fall die zukünftigen Zentren einer netzgestützten Öffentlichkeit sind. Für das Feld der Kultur und der Feuilletons ist das, wie wir wissen, in Deutschland perlentancher.de. Für das Kino hat das im englischsprachigen Raum seine fast perfekte Form bereits gefunden, in David Hudsons zum Jahreswechsel umgezogenem „Daily“, zunächst beim DVD-Verleiher Greencine, nun beim amerikanischen Independent-Multi IFC (www.ifc.com/blogs/thedaily/index.php). Auch in Deutschland gibt es inzwischen Vergleichbares. Erstaunlich medienkonservativ bei www.angelaufen.com, einem Aggregator von Filmartikeln, der sich ganz auf die etablierten Print-Medien konzentriert. Sehr viel interessanter schon bei Ines Walks film-zeit.de: Hier findet sich Tag für Tag alles Lesenswerte aus Print- und Online-Publikationen übersichtlich gesammelt.

Unermüdlich sucht, selektiert und rubriziert Ines Walk hier nach Interessantem, das in deutscher Sprache zum Thema Film in den Zeitungen und im Netz zugänglich wird und zugänglich ist. Ein großer Unterschied zu David Hudson, der wesentlich umfangreicher zum Beispiel auch noch Zeitschriften auswertet, ist freilich: In Deutschland gibt es bisher keine Möglichkeit, jemanden zu finden, der einen für solch spezialisierte Aggregationsarbeit bezahlt: sei es, wie IFC oder Greencine, eine auf Film spezialisierte Firma – oder auch Werbung. Dies sind durchaus signifikante Professionalisierungsrückstände zwischen Deutschland und den USA. Dennoch gilt für alle Aggregatoren, was Jonathan Rosenbaum über David Hudson gesagt hat: „Wenn ich wirklich wissen will, was heute los ist im Kino, dann lese ich nicht mehr die New York Times, sondern ich wende mich an David Hudson, der mir jeden Tag sagen kann, was in der Welt der Filmkritik rund um den Globus los ist.“ Das heißt: Mit menschlicher Intelligenz auswählende und bewertende Aggregatoren wie www.film-zeit.de oder IFC Daily, aber auch reine Kritik- und Bewertungs-Aggregatoren wie www.rottentomatoes.com oder im deutschen Sprachraum moviepilot.de sind die neuen Zentren der spezialisierten Teilöffentlichkeiten.

Sie werden, wenn sie es nicht heute schon tun, die vormaligen Autoritäten wie – exemplarisch – die New York Times oder die FAZ oder Süddeutsche Zeitung als erste Anlaufstellen ersetzen. Konkurrenz erwächst den menschlichen Aggregatoren als neuen Knotenpunkten allerdings selbst, nämlich durch Techniken wie RSS-Feeds, mit denen sich der Leser und die Userin das tägliche bzw. stündliche Menü ganz nach eigenem Gusto, nämlich durch gezielte Auswahl geschätzter Zeitungen, Blogs und Magazine selbst zusammenstellen kann. Kriterium der Aggregation ist dann nicht mehr das wählende Auge und urteilende Hirn eines anderen, sondern das ganz persönliche Spektrum der eigenen Interessen und Vorlieben. Ob Tageszeitungen als an anderen Orten für einen selbst wählende, gewichtende, mit mehr oder minder erkennbarer Blattlinie (nach politischen Vorlieben, nach Wis­sensvoraussetzungen unterscheidbar) arbeitende Institutionen überleben, an denen das Geschehen der Welt Tag für Tag ohne direkten Leserzugriff auf Papier zusammengefasst wird? Vielleicht ja als eine Art Meta-Aggregatoren im Netz, in denen Spezialisten für Ausblick und Übersicht das Zusammengetragene selbst noch einmal in eine Perspektive stellen. Keiner kennt die Zukunft der Zeitung. Dass aber die herkömmlichen journalistischen Formen, zu denen eine rein sendende „Filmkritik“, die sich noch dazu von den beteiligten Industrien vielfach instrumentalisieren lässt, dabei eine rosige Zukunft hat, wird kaum jemand glauben. Aber wer würde das bedauern?

Die Ersetzung hergebrachter Autoritäten durch aufmerksamkeitsleitende Aggregatoren (und auch durch RSS-Selbst-Aggregation) bedeutet in jedem Fall eine gravierende Umwälzung der Aufmerk-Hier­archien. Indem diese Aggregatoren nämlich sammeln, wählen und nebeneinander stellen, was nie nebeneinander stand, tun sie immer auch eines: Sie relativieren und sie unterlaufen jene Sorte Autorität, die sich nicht dem Wissen, dem Können, der schieren Qualität des Geschriebenen verdankt, sondern dem Ort, an dem es geschrieben steht. Die Zeit dieser Art Autorität läuft – Gott sei Dank – ab. Heute schon und in Zukunft erst recht kann, was ein paar Mittzwanziger in Braunschweig in einem Podcast über einen neuen Film von, sagen wir, Christian Petzold, zu sagen haben, genauso viel Interesse finden wie die Ansicht der Kritikerin der Süddeutschen Zeitung. Und im besten Fall durchaus mit gutem Grund, denn im zeitlich nicht von vorneherein begrenzten Podcast und ohne große Rücksicht auf eine Zielgruppe wird der Film im besten Fall viel ausführlicher und komplexer und unbefangener behandelt werden können als in den konventionellen Formen, auf die die Zeitungskritik weithin beschränkt ist, möglich war.

Die Ablösung der alten Autoritäten durch die Aggregatoren bedeutet freilich nicht, dass die letzteren nun die Formen und die Strukturen der Macht der ersteren sich einfach aneignen könnten. Sie sind nicht einsame, aber weithin ausstrahlende Leuchttürme, sondern Knoten- und Passagepunkte. Was bedeutend ist und wichtig, welche Stimmen gehört werden und welche nicht, das hängt deshalb stärker als je zuvor von der Stimme selbst ab. Ob die Stimme nun aus Tokio oder San Francisco, aus Berlin oder Athen oder Manila kommt, ist ziemlich egal. Das Netz ist das Netzwerk und was Real-Life-Netzwerke zu Klüngeln macht, nämlich die Exklusion ohne Begründung, wird in den Internet-Netzwerken jedenfalls schwieriger. Das heißt aber auch: Indem sich der Diskurs globalisiert, wird alles, was nicht in englischer Sprache verfügbar ist, immer provinzieller. Das mag man bedauern oder auch nicht – es ist aber, wie vieles, das man hierzulande noch nicht wahrhaben will, längst ein Faktum. (Das ist ein Plädoyer fürs Englisch-Lernen, vor allem aber heißt es auch: Wir, die wir nicht Englisch-Muttersprachler sind, brauchen dringender denn je Agenturen und Instanzen der Übersetzung.)

6. Schreiben über Film im Netz: Beispiele

Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass alles gut ist oder wird. In den USA wird bereits sehr offen darüber diskutiert, ob es unter den revolutionär sich verändernden Umständen eine Zukunft für hauptberufliche Kritikerinnen und Kritiker geben kann. Die Lage bei den Tageszei­tungen, aber auch den Stadtmagazinen ist prekär und wird beinahe täglich prekärer. Ähnliche Entwicklungen in Deutschland sind, durch die Finanzkrise noch einmal verschärft, absehbar. Ob sich wirtschaftliche Strukturen entwickeln werden, die reinen Internet-Schreiberinnen und -Schreibern das Überleben ermöglichen, das steht auf dem Spezialgebiet Film wie für den Journa­lismus insgesamt durchaus in Frage. Die Berufs- und Interessenverbände werden sich darüber sehr den Kopf zerbrechen müssen.

Absehbar sind, in den USA, aber längst auch in anderen Ländern wie etwa in Deutschland, beunruhigende, aber auch viel versprechende Entwicklungen. Während in den kommerziell be­triebenen Zeitungen und Magazinen in den USA und abseits der großen, überregionalen Qualitätsblätter auch bei uns immer weniger Platz für eine Filmkritik ist, die den Namen verdient, werden andere Stimmen in Blogs und anderen Internet- Publikationen vernehmlicher. So problematisch das ist, weil es ökonomisch prekäre Existenzen hervorzubringen neigt, es zeigt sich doch auch: der Vielfalt der Diskussion und dem Niveau des Diskurses muss es nicht schaden, dass eine Reihe der interessantesten Autorinnen und Autoren von dem, was sie schreiben, weder leben können noch – im Umkehrschluss, sie haben andere Jobs – leben müssen. Lassen Sie mich einige wichtige Publikationen der neuen Art aufzählen. Es ist nicht der Platz für eine eingehendere Auseinanderset­zung, ich will sie deshalb nur ganz oberflächlich und unsystematisch typisieren:

a. Nerdism

Nerds sind, wenn man es zugespitzt formuliert, Spezialisten mit beschränktem Horizont. Sie be­schäftigen sich obsessiv mit ihrem Gegenstand, den sie aber eng eingrenzen – und was danebenliegt, interessiert sie nicht oder lehnen sie ab. Sie sind auf ihrem Spezialgebiet teils unerreicht kenntnisreich, neigen aber zur Fetischisierung einzelner Sachbereiche (z.B. Horror). Im Grunde ist das die Fortsetzung der Fanzine-Kultur nun mit potenziell geradezu unendlich erweiterter Reichweite. Kein Wunder, dass das erfolgreichste und berühmteste Beispiel für Internet-Filmkritik in den USA, das von Harry Knowles gegründet Projekt aintitcool.com aus dieser Ecke kommt. Aber auch die immens erfolgreiche deutsche Plattform fuenf-filmfreunde.de bleibt dem Nerdism letztlich verhaftet. Film als Kunst kommt hier schlicht und ergreifend nicht vor. Ich tendiere nicht dazu, das rein negativ zu sehen – schließlich findet hier, vom Mainstream her gesehen, oft genau Aufmerksamkeit, was die traditionellen Medien übersehen. (Und in vielen Mainstream- Organen dominiert bekanntlich eine noch viel unangenehmere Kombination: Borniertheit mit Dünkel.)

b. Mainstream im Netz

Anders aufgestellt ist die Plattform www.critic.de. Sie will, wie die traditionellen Feuilletons auch, das gesamte Spektrum des Kinos abdecken. Erstaunlicherweise tut sie das aber justament als Fortsetzung des Film-Feuilletons mit denselben Mitteln. Gepflegt werden hier hergebrachte Formen der Kritik, dargebracht von Filmkritikerlnnen-Nachwuchs. Adressat sind nicht die Ränder, sondern ist die Mitte des filminteressierten Teils einer bürgerlichen Öffentlichkeit.

c. Gemeinschafts-Blog

Das von Michael Baute und Volker Pantenburg betriebene deutsche Blog www.newfilmkritik.de (full disclosure: ich habe da auch schon publiziert) bezieht sich bereits im Titel auf die legendärste deut­sche Film-Publikation: die Zeitschrift Filmkritik, www.newfilmkritik.de ist ein Gemeinschaftsblog mit sehr gezielter Auswahl von Autorinnen und Autoren. Es gibt eine Redaktionslinie der „freien Hand“: Den gezielt gewählten Beiträgern bleiben Wahl der Themen, Stil des Schreibens und auch Häufigkeit der Publikation völlig freigestellt. Entsprechend unvorhersehbar ist, was hier publiziert wird.

d. Einzelkämpfer

Am netzspezifischsten scheint mir das Erstarken der Einzelstimme. Blogs sind, soziologisch: nicht zuletzt, Instanzen, die Stimmen hörbar machen, die sonst möglicherweise unbekannt blieben. Etwa, weil sie gar kein Interesse haben, die Kom­promisse, die mit dem Aufstieg im traditionellen Journalismus einhergehen, auf sich zu nehmen. Auch hier gibt es natürlich Vorbilder im Print, man denke – um jetzt so hoch wie möglich zu greifen – an Uwe Nettelbeck, der aus Verdruss sei­ne eigene Republik gründete. So hoch muss man nicht greifen, um zu sehen, dass http://www.academichack.net (Michael Sicinski, USA), www.zohiloff.typepad.com/kuhe_in_halbtrauer (ein Monsieur Zohiloff, Frankreich) oder, leider seit bald einem Jahr ver­stummt, der Autor von http://stephko.blogspot.com/2008/03/21-wochentage-farbige-wnde.html  eine Farbe und einen Ton ins Gespräch bringen, von denen man erst, wenn man sie hört, weiß, dass sie zuvor fehlten.

e. Zeitschriften

Wie (fast) alle anderen Print-Publikationen, suchen auch die auf Film spezialisierten Zeitschriften den Weg ins Netz, epd Film (www.epd-film.de) wie der film-dienst (www.film-dienst.kim-info.de) und Der Schnitt (www.schnitt.de) zeigen sich sichtlich bemüht, die eigene Print-Version nicht durch den Online-Auftritt, der fraglos sekundär ist, zu kannibalisieren. Bei speziellen Gelegenheiten gibt es dann durchaus originäre Netz-Beiträge (das Berlinale- Blog von epd Film zum Beispiel), im Prinzip ist die Website aber für alle drei nur das Stützrad am großen Wagen des Print-Magazins.

Ausschließlich im Netz erscheinende Filmzeitschriften gibt es im deutschsprachigen Raum vor allem im Grenzbereich zwischen Publikumspublizistik und dem Akademischen. Zu nennen ist da neben dem sehr selten aktualisierten Cinetext (http://cinetext.philo.at) in erster Linie das Projekt nachdemfilm.de/, das in nur online publizierten Themenheften (z.B. Nummer 10: Kino zwischen Text und Körper) ein intellektuelles Publikum anspricht und unregelmäßig erscheint. (Im englischsprachigen Raum wären als teils sehr einflussreiche reine Online-Magazine zu nennen: Rouge (www.rouge.com.au), Senses of Cinema (www.sensesofcinema.com/) oder Bright Lights Film (www.brightlightsfilm.com).

Nur erwähnen möchte ich zuallerletzt, auch wenn das vielleicht etwas unfein ist, Cargo (www.cargo-film.de), das von Bert Rebhandl und Simon Rothöhler, Erik Stein und mir konzipierte, neue Filmmagazin. Programmatisch versuchen wir dabei, Online und Offline, Text und Multimedia, Blog- förmiges und Theorieartiges nicht nur zu verbinden, sondern die spezifischen Stärken der Formate zu nutzen. Das Printmagazin setzt deshalb auf aus­führliche Texte, essayistische Formen, das lange In­terview und die gezielte Wahl von Autorinnen und Autoren, die für bestimmte Positionen und Stile stehen. Online ist davon nicht strikt, aber prinzipiell getrennt. Hier stehen der schnelle Kommentar, der Link und der Hinweis (im Blog), das Multimediale (Video-Interviews mit Dominik Graf, Lav Diaz oder Christian Petzold) und das Tagesaktuelle im Vordergrund (nicht zuletzt im Kritikerspiegel, an dem sich neben uns Cristina Nord, Matthias Dell und Michael Althen beteiligen). Die Utopie von Cargo wäre dann tatsächlich: Online und Print nicht als Konkurrenz zu betrachten, sondern eine Hybridform zu entwickeln, die alle Formate, Medien und Möglichkeiten aus beiden Welten in angemessener Weise zum Einsatz bringt.

Ekkehard Knörer ist freier Autor bei www.perlentaucher.de, die tageszeitung und Cargo.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis