Notizen zum Kino 5: Es wirkt zurück

Es wirkt zurück
Beeinflusst das Internet das Schreiben über Film in den Printmedien?
Von Barbara Schweizerhof

Früher, in jener gar nicht mal so fernen Epoche vor dem Internet, war man als Kritiker nach einer Pressevorführung zunächst mit sich und dem Film alleine. Das hieß vor allem, dass man bei der Urteilsfindung auf sich allein gestellt war. Sicher, man konnte sich mit den Kollegen austauschen. Es gab das Presseheft, in dem der Film mit stereotypen Formulierungen angepriesen wurde. Vielleicht hatte man an anderer Stelle schon einmal etwas in der Zeitung über den Film gelesen, etwa wenn er im Rahmen eines Festivalberichts erwähnt worden war. Aber diese Artikel waren Erinnerung und selten als Zitat verfügbar, dafür hätte man schon ein spezialisiertes Archiv aufsuchen müssen.

Diese splendid isolation gibt es heute nicht mehr, und das ist eine Veränderung, die mir ebenso radikal erscheint, wie sie sich unbemerkt vollzogen hat. Dank dem Internet ist heute jeder Film schon gesehen, mit einer Wertung versehen, mit einem Etikett gelabelt. Wer heute im Netz etwas zu einem Film sucht, der noch nicht in unseren Kinos lief, wird fündig: Da gibt es die zahlreichen Festivalberichte von fleißig reisenden Kritikern. Je nachdem, welcher Sprachen man mächtig ist, kann man sich nach der Meinung der englischen, französischen, italienischen oder russischen Kollegen erkundigen. Und selbst wenn diese Quellen alle einmal versagen, dann gibt es immer noch die Erlebnisberichte von Menschen, die einer «Preview» beigewohnt haben oder dieses zumindest behaupten.

Natürlich gab es den Ruf, der einem Film vorauseilt, auch schon vor den Zeiten des Internets, doch was einst die Ausnahme war – und schon für sich gesehen als Ereignis galt ist heute die Regel. Die Ausgangslage des Kritikers hat sich damit meiner Ansicht nach entscheidend verändert: Man schreibt mit der schon vorhandenen Meinung im Kopf, auch wenn man gegen sie anschreibt; man trägt dem Ruf Rechnung, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger deutlich. Mit anderen Worten: man reagiert mit seinem Schreiben über einen Film mehr als dass man agieren, also analysieren, entschlüsseln oder entdecken würde. Das bedeutet aber auch, dass die Meinung zu einem Film – also seine Bewertung, seine Etikettierung – einen immer größeren Platz in der durchschnittlichen Filmkritik einnimmt. Dieser Trend zur Meinungsfreude und -stärke wird in den Printmedien heute oft genug noch zusätzlich verstärkt von Seiten der Redaktionsleitungen, die mehr „Leser-Service“ wollen. Man soll dem Leser Orientierung bieten, und das nicht in Form von Filmanalyse, sondern in Form einer schnell zu erfassenden Meinung: gut, schlecht, mittelmäßig.

Was dabei zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird, ist die Tatsache, dass die Meinung zu einem Film noch keine Filmkritik ist. Man betrachte zum Beispiel die verschiedenen Kritikerspiegel, die während der Berlinale in den Tageszeitungen erscheinen. Namhafte Autoren bewerten dieselben Filme – und das Ergebnis ist derartig unterschiedlich, dass der Außenstehende, der doch davon ausgeht, dass professionelle Autoren nach einigermaßen objektiven Kriterien urteilen, zum Schluss kommen muss: Filmkritik ist ein denkbar unseriöses Gewerbe. Da werden zukünftige Preisträger mit null Sternen bewertet, und Werke, die keine Chance auf Kinoauswertung haben, mit der Höchstwertung – und umgekehrt. Doch was heißt das? Nicht die Kritiker sind unfähig oder unseriös, die pure Meinung und Bewertung ist einfach nicht das Wichtigste, das es zu einem Film zu sagen gibt. In einer Filmkritik, vor allem in den Printmedien, ist sie sogar der langweiligste Aspekt des Textes. Interessant sind eigentlich ganz andere Dinge, und darin gleichen sich die Kritiken der Profis schon eher: das Herausstellen von Schlüsselszenen, die Beschreibung der „Gestalt“ eines Films, seiner speziellen Herangehensweise, dem komplexen Zusammenspiel von Regie, Schnitt, Kamera, Musik, Schauspiel und was nicht noch alles.

Einerseits macht das Internet eine Menge Texte der zuletzt beschriebenen Art einer großen Menge an potenziellen Lesern zugänglich. Immer mehr davon werden heute sogar exklusiv fürs Internet geschrieben, weil sie in den Printmedien keinen Platz mehr finden. Andererseits aber ist das Internet das zentrale Medium der Meinungsfreude und -Verstärkung. Und als solches wirkt es längst auf die Printmedien zurück.

Besonders stark ist dieser Einfluss, da wir uns gegenwärtig in einer Phase befinden, in der die Grenzen von Print und Internet im Fließen sind: Wer heute für ein Printmedium schreibt, schreibt gleichzeitig für dessen Internet-Ausgabe. Da er in der Internet-Ausgabe vorher erscheint, bedeutet das oft genug, dass man eigentlich fürs Internet schreibt, obwohl man noch die „alten Regeln“ wie die Einhaltung der vom Redakteur vorgegebenen Zeilenzahl befolgt. Mit der Flüssigkeit dieser Grenzziehungen mag zusammenhängen, dass man sich den Vorgaben des Internets schlecht ent­ziehen kann, gerade weil sie kaum greifbar sind, sondern von der mehr oder weniger imaginären Größe eines Internet-Lesers ausgehen.

Diesen Internet-Leser stellt man sich als Masse vor. Auch wenn viele das Internet als Heimat der Nischen beschreiben und seine grenzenlosen Möglichkeiten feiern, Texte in beliebiger Länge, beliebigem Schwierigkeitsgrad und Aktualitätsbezug zu veröffentlichen, so findet für die überwälti­gende Mehrheit das eigentliche Internet dort statt, wo es rechts die Liste gibt mit den Artikeln, die am häufigsten angeklickt wurden. Die harten Zahlen werden gleich mit angegeben, und wo die „Views“ Millionenhöhe erreichen und die Kommentare dazu ins Sechsstellige gehen, ist die Versuchung, selbst einmal nachzusehen und drauf zu klicken, umso größer.

Diese Schwärm- und Lawinenlogik – gelesen wird das, was gelesen wird – wirkt als Konformitätsdruck zurück in die Printmedien. Nicht dass es den nicht auch schon vorher gegeben hätte, doch das Netz hat ihn dynamisch verstärkt. In fast schon unheimlicher Einigkeit besprechen die großen Tageszeitungen heute alle denselben «wichtigsten» Film schon am Mittwoch, und wählen denselben „zweitwichtigsten“ Film aus für die große Aufmacherkritik am Donnerstag. Die Begründung dafür? Man muss machen, was alle machen…

Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass die Uniformität weiter um sich greift: So gleichförmig die Gewichtung von großen und kleinen Filmbesprechungen in den Printmedien heute ist, so gleichförmig ist zunehmend auch das Urteil über die Filme. Bis hin zu den Sprachformeln, in denen über Film gesprochen wird: Das Netz mit seiner Verbreitung des frühen Urteils macht es offenbar immer schwieriger, sich von den einschlägigen Etikettierungen abzusetzen und eigene Formulierungen zu finden.

Noch andere Eigentümlichkeiten des Internets greifen auf den Printbereich über: weil es im Netz so viel Information gibt, muss der eigentliche Text einerseits oft keine Grundinformationen mehr liefern, man bezieht sich auf die Masse dessen, was schon geschrieben wurde. Andererseits er­möglicht es eine Datenbank wie imdb.com jedem Schreiber, seinen Text mit Informationen anzu­füllen, die früher das Privileg der echten Kenner waren und für den Leser ein Signal, dass er es mit dem Text eines Profis oder zumindest eines Cinephilen zu tun hatte. Diese Unterscheidung fällt heute weg. Ob jemand wusste, dass ein Regisseur vor seinem Debüt als Assistent bei soundso gearbeitet hat, oder ob er es während des Schreibens in der imdb nachgeschlagen hat – für den Leser mag es keine Rolle spielen, für den Beruf des Filmkritikers ist das eine einschneidende Wende. Mit dem Internet hat sich auch die Spoilerwarnung enorm verbreitet. Man kann dem durchaus etwas Positives abgewinnen: Heute ist auch der Printkritiker zunehmend sensibilisiert für das Bedürfnis des Lesers, von einem Film noch selbst überrascht zu werden.

Bei anderen Auswirkungen auf die Papierform fällt es schwerer, ihnen etwas Positives abzugewinnen. Die Länge eines Textes mag im Netz keine Rolle mehr spielen, trotzdem ist das Netz alles andere als das Medium der langen Texte. In jenen Redaktionen, die mit Internet-Ausgaben Profit machen wollen, gilt das Diktum, dass der Internet-User ungern scrollt. Tatsächlich regiert im Internet der Teaser, das An-Featuren, die Bildstrecken mit Kurztext darunter. Für die Texte selbst heißt das: Es lohnt sich immer weniger, „durchzukomponieren“. Man kann im Internet viel weniger mit dem Leser „spielen“, man kann sich viel weniger auf seine Aufmerksamkeit verlassen als noch auf der alten Printseite, wo man wusste, dass der Leser bestimmt noch den Schlusssatz eines Textes liest, selbst wenn er dazwischen Zeilen auslässt.

Der Schluss eines Textes im Internet ist unwichtig, oft genug findet man ihn gar nicht, weil Anzeigen dazwischen geschaltet sind und weil man tatsächlich ungern scrollt. Das Wichtigste wird nach oben gesetzt, um augenblicklich Aufmerksamkeit zu erregen, auch das liest man heute zunehmend in den Printmedien, die wie oben beschrieben ja meist den eigenen Internetausgaben hinterherlaufen.

Allerdings sind auch schon die Alternativen zu diesem Hinterherlaufen sichtbar. Das Überangebot an Subjektivismus im Netz scheint hier und da im Printbereich bereits eine bewusste Gegenreaktion hin zu mehr Sachlichkeit und einer Aufbrechung der Selbstbezüglichkeit des Filmdiskurses mit seinen Sprach-Codes zu inspirieren. Natürlich liest man auch das wiederum im Internet, weshalb man es auf keinen Fall mehr missen möchte…

Barbara Schweizerhof ist freie Filmkritikerin und Redakteurin bei der Zeitschrift epd Film.

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