Wir brauchen die Medienindustrie nicht: Fünf Thesen über Aufgaben und Funktion der Kritik
Von Ulrich Greiner
Ich möchte Ihnen Thesen über die Aufgabe und Funktion der Kritik, d.h. der Kunstkritik generell vortragen. Hintergrund sind Film- und Literaturkritik, die beiden Gebiete, in denen ich mich zu Hause fühle.
Erste These: Kritik wird es immer geben
Es wird sie geben, solange es Kunst gibt. Kunst bringt die Kritik automatisch hervor, weil die Kunst vieldeutig ist. Wenn sie es nicht wäre, wäre sie keine. Die Vieldeutigkeit verlangt nach dem Austausch, nach dem Gespräch darüber. Kritik ist nichts anderes als die Form des intelligenten Austauschs über die Kunst.
Dies bedeutet nicht – hier muss ich mich vor Selbstmitleid hüten -, dass es immer Zeitungen geben wird. Kritik existierte, bevor es Zeitungen gab, und es wird Kritik geben, wenn es keine Zeitungen mehr gibt. Sie wissen, dass die Lage de das viele Verlage. Es gibt einen Verdrängungswettbewerb, in den sich die Zeitungskonzerne freiwillig hinein begeben haben. Es gibt eine Veränderung der Mediengewohnheiten und das Internet. All dies setzt den Zeitungen sehr zu. Das muss jedoch nicht ihr Ende bedeuten. Auch die Kritik wird es weiter geben, unter anderem im Internet. So lange es Kunst gibt, wird es Kritik als Auseinandersetzung über Kunst geben. Und das bedeutet Gespräch, auch im Sinne von Streit.
Kritik muss herabsetzend sein, wenn der Gegenstand danach verlangt. Wenn ich einen schlechten Film schlecht finde, muss meine Kritik herabsetzend sein, sie kann gar nicht anders. Der Wunsch nach Fairness, den z.B. Anke Zindler fordert, ist unangemessen. Das einzige, was Sie verlangen können, ist Kompetenz. Allerdings muss ich zugeben, dass diese nicht immer vorhanden ist.
Zweite These: Kritik und Erfolg haben nichts miteinander zu tun.
Das hegt so klar auf der Hand, dass ich mich fast schäme, es zu sagen. Wir kennen große Werke der Kunstgeschichte, der Weltliteratur, der Filmgeschichte, die erfolgreich geworden sind ohne das Zutun der Kritik, sogar gegen die Kritik. Kafka war in den 50er, 60er Jahren ein Autor, der es zu Millionen, fast Milliarden-Auflagen gebracht hat, in seinen Anfängen wurde er dagegen von der Kritik nahezu nicht wahrgenommen. Herman Melville ist mit seinen Südsee-Romanen „Omoo“ und „Taipi“ berühmt geworden, die heute auf der Bestsellerliste stünden. Als er gewagt hat, „Moby Dick“ zu schreiben, hat ihn die zeitgenössische Kritik vernichtet und davon hat er sich nie mehr erholt. In den 20er Jahren erst ist er zu einem Autor von Weltruhm und Millionen-Auflagen geworden. Auch in der Gegenwart gibt es viele Beispiele von Kunstgegenständen, die ohne unser Zutun das Licht der Welt erblickt haben und erfolgreich wurden, das muss ich als Kritiker mit einem gewissen Missvergnügen sagen. Das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Harry Potter. Joanne K. Rowling ist, glaube ich, ziemlich gut und hat Erfolg, ohne dass wir etwas dafür getan hätten. Und wenn wir versucht hätten, etwas dagegen zu tun, wäre es uns missglückt.
Dritte These: Die Kritik als Institution ist der Sache verpflichtet.
Die Kritik ist also der Kunst verpflichtet – und natürlich nicht dem Leser. Das wäre ein vollkommenes Missverständnis. Die Kritik hat mit dem Leser nichts zu tun. Die Kritik ist dazu da, dieses Gespräch über Kunst in Gang zu setzen. Und wenn sie das schafft, dann wird der intelligente Leser – ich glaube, es gibt ziemlich viele intelligente Leser in diesem Land – sich an diesem Gespräch beteiligen. Günter Rohrbachs Polemik in seinem Spiegel-Artikel formuliert einen Selbstwiderspruch. Er kann sich nicht darüber beklagen, dass die armen deutschen Filme auf die Hilfe der Kritik angewiesen seien und dann voller Stolz erzählen, Das Parfum habe fünfeinhalb Millionen Zuschauer gehabt, obwohl die Kritik dagegen war.
Kritik ist, um es noch mal zu sagen, der Sache verpflichtet, der Kunst. Dazu gehört, dass sie anders als jeder einzelne von uns ein historisches Gedächtnis haben muss. Es könnte ja sein, dass die Gegenwart, in der wir leben, nicht zu den Höhepunkten der Kunst- und Filmgeschichte gehört. Dann wäre es die Aufgabe der Kritik, in uns das Gedächtnis, d.h. die Erinnerung an die Höhepunkte wach zu halten und das, was jetzt im Film, in der Literatur, in der Kunst geschaffen wird, an den großen Zeugnissen des Films und der Kunst zu messen. Das kann manchmal ungnädig klingen, das gebe ich zu.
Die Kritik muss die Standards der Qualität hochhalten. Sie ist nicht dazu verpflichtet, das was ohnehin geht, zu verstärken. Wenn ich die Wahl hätte – manchmal muss man sich als Redakteur ja entscheiden, der Platz ist nicht unbegrenzt -, ob ich dem Herrn der Ringe eine große Kritik widme oder Amores Perros, dem ersten Film von Alejandro González Iñáritu, gibt es überhaupt keine Frage, wer den längeren Platz braucht: Der Film von Iñáritu ist natürlich interessanter und ästhetisch bedeutender ist als Der Herr der Ringe.
Vierte These: Die Kritik braucht die Medienindustrie nicht.
Bücher kann jeder schreiben, Filme kann jeder drehen, es ist immer leichter geworden im Lauf der Jahre. Wo die Kritik erscheint, ist unabhängig von der Medienindustrie. Ob die Kritik ihre Zukunft in den Zeitungen findet, ist eine ganz andere Frage. Prognosen sind schwierig. Ich selbst bin optimistisch. Ich glaube, dass es weiter intelligente Zeitungen geben wird, ich glaube auch, dass dies der Filmindustrie nutzen kann.
Fünfte These: Die Medienindustrie braucht die Kritik nicht.
Das ist die Umkehrung der vorigen. Die Medienindustrie braucht die Kritik nicht. Das macht sie immer wieder deutlich, z.B. mit der Marketingaktion, mit der ein unsäglicher Film wie Der Untergang in die deutsche Medienlandschaft bugsiert worden ist. Es sind in der Tat Chefredakteure auserlesener Zeitungen, nicht der Zeit, worauf ich stolz bin, vorher zu privaten Vorführungen eingeladen worden, um ihnen einen zeitlichen Vorsprung zu verschaffen. Ich missbillige das gar nicht, das ist eine übliche Praxis.
Die Medienindustrie ist an Kritik nicht interessiert, weil Kritik Einspruch und Widerspruch bedeutet. Die Medienindustrie hat gerne, dass die Sache läuft, ich kenne das aus der Buchbranche besonders gut. Wie das gemacht wird, ist hier beschrieben worden. Die Aufgabe des Kritikers besteht ganz simpel darin, dem einfach zu widerstehen – so schwer ist das nicht. Die Bestechungssummen, mit denen gearbeitet wird, sind doch – denken wir an Siemens – extrem gering. Der Traum von der Abschaffung der Kritik führt also zu nichts, glaube ich. Allein deshalb, weil jedes Kunstwerk seine Kritik notwendig hervorbringt.
Aber der Traum von der Abschaffung könnte insofern in Erfüllung gehen, als es die qualifizierte Kritik infolge der ökonomischen Veränderungen und Zwänge in den Medien immer schwerer hat. Ich fände es schade, wenn sie dort verschwände. Aber angenommen, sie verschwände (was ich nicht glaube), dann bin ich sicher, dass sie andernorts wieder auftauchen wird. Auch dann wird sie Herrn Rohrbach nicht gefallen.
Ulrich Greiner ist Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit.