Notizen zum Kino 4: Kunst und öffentlicher Raum

Kunst und öffentlicher Raum
Beispiel Filmkritik: Journalismus und PR
Eine Diskussion in der Akademie der Künste in Berlin am 8. Mai 2007

Auf dem Podium nahmen teil:
Heike Melba Fendel, Filmkritikerin und Geschäftsführerin der Agentur Barbarella Entertainment (VDFK)
Ulrich Greiner, Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit
Günter Rohrbach, Filmproduzent und Präsident der Deutschen Filmakademie
Jan Schulz-Ojala, Filmredakteur der Tagesszeitung Der Tagesspiegel (VDFK)
Gregor Schwering, Medienwissenschaftler, Universität Siegen
Rüdiger Suchsland, freischaffender Filmkritiker (VDFK)
Andres Veiel, Filmemacher
Anke Zindler, Geschäftsführerin der PR-Agentur Just Publicity
Moderator: Rainer Rother, künstlerischer Direktor der Stiftung Kinemathek/Film- und Fernsehmuseum

Rainer Rother: Herr Rohrbach, warum haben Sie sich in Ihrem Spiegel-Beitrag Luft gemacht?

Günter Rohrbach: Es gibt nur sehr wenige Filme, die in Deutschland mit einem größeren Marke­tingbudget ausgestattet sind und mit einer Stra­tegie ins Kino kommen, wie sie Frau Zindler für Das Leben der Anderen und Das Parfüm entwickelt hat. Das Geld dafür ist in der Regel nicht vorhanden. Insofern sind die Kritiker für deutsche Filme nach wie vor von elementarer Wichtigkeit.
Ich habe aber das Gefühl, dass die Filmkritiker der Zeitungen und Zeitschriften, die sich Mühe geben, die Ästhetik eines Films zu durchdringen, das Vertrauen ihrer Leser verloren haben. Ich habe versucht, das an den Filmen Das Parfüm und Sehnsucht darzustellen. Beide Feuilletonfilme haben einen hohen ästhetischen Anspruch, sind aber von den Kritikern sehr unterschiedlich behandelt worden. Das Parfüm wurde in den größeren Zeitschriften und Zeitungen im Wesentlichen negativ kritisiert, Sehnsucht dagegen außerordentlich positiv. Oft passiert es, dass Kritiken für einen großen Film viel Platz bekommen und entsprechend weniger für einen kleinen Film. Das war hier nicht so. Auch Sehnsucht bekam in den wichtigen Zeitungen sehr viel Platz.
Am Ende hatte Das Parfüm 5,5 Millionen Zuschauer, Sehnsucht 25.000. Die negative Kritik gegenüber dem Parfüm hat die Zuschauer nicht gehindert, den Film anzusehen. Es ist ja einer, der gerade Menschen interessiert, die Die Zeit, den Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ lesen, kein Actionfilm, der sich an ein Publikum richtet, das gar nicht liest. Es handelt sich um Filme, die ein Publikum interessieren, das potenziell Kritiken liest.
Ich habe mich gefragt, warum die Kritik wirkungslos geblieben ist. Die Leser haben offenbar nicht wirklich Vertrauen in die Filmkritiker. Die Kritiken sind von den Interessen der Leser abgelöst und mit einer gewissen Selbstverliebt­heit geschrieben, so dass die Leser offensichtlich nicht darauf reagieren. Ich könnte andere Beispiele nennen. Wir wissen, dass Kritiker es nicht leicht haben, dass sie in ihren Zeitungen unter Druck stehen und von den Chefredakteuren und Ressortchefs nicht immer bevorzugt behandelt werden. Die Kritiker müssten ein Interesse haben, ihre Leser zu erreichen, wie wir ein Interesse daran haben, die Zuschauer zu erreichen. Insofern haben wir ein gemeinsames Interesse. Wenn dieses Interesse nicht koordiniert ist, findet eine wichtige Kommunikation in unserer Gesellschaft nicht statt.

Rainer Rother: Ich sehe in der Runde Kopfschütteln…

Günter Rohrbach: Lassen Sie mich noch sagen: Ich habe polemisch formuliert, weil man nur so wahr­genommen wird. Aber der Ball, den ich geworfen habe, ist nicht aufgenommen worden. Eine einzige sachliche Reaktion gab es von Jan Schulz-Ojala unmittelbar nach Erscheinen meines Artikels. Dann setzte eine Strategie der Diffamierung ein. Mir wurden abenteuerliche Konspirationen unterstellt, ich hätte Das Parfüm gegenüber der Deutschen Filmakademie promoten wollen, damit die Mitglieder den Film für den deutschen Filmpreis auswählen. Das ist absurd.
Ich bin frei von Omnipotenzfantasien. Als ob ich in der Lage wäre, 900 Akademie-Mitglieder zu manipulieren. Umgekehrt ist das eine Beleidigung dieser selbständigen Menschen, die alles andere tun würden, als sich von einem solchen Versuch beeinflussen zu lassen. Ich bin froh, dass sich in dieser Veranstaltung die Dinge versachlichen lassen.
Wir haben ein vitales Interesse an einer funktionierenden Kritik. Wir haben überhaupt kein Interesse an wohlmeinenden, immerzu netten Kritikern. So schlau sind wir auch: Wenn alle Kritiken gut sind, helfen sie auch nichts. Die Leute wollen unterscheiden können. Sie wollen Kritiker haben, die ihnen sagen: Den Film würde ich euch aus diesen und jenen Gründen nicht empfehlen und diesen solltet ihr aus bestimmten Gründen unbedingt sehen. Nur Kritiker, die eine Stärke und Potenz haben, werden letztlich ihre Leser erreichen. Aber die Leser müssen ihnen vertrauen können im Lauf der Zeit. Es handelt sich da im Wesentlichen um Blätter, die nicht am Kiosk gekauft werden, sondern regelmäßig gelesen werden. Da können sich Vertrauensverhältnisse bilden, da kann man erwarten, dass die Leser sozusagen anbeißen an bestimmte Kritiker ihres Blattes und ihnen folgen.
Bei der Literatur gibt es zumindest zwei Kritiker, die in hohem Maß das Vertrauen der Leser gefunden haben, Marcel Reich-Ranicki und Elke Heidenreich. Sie werden zwar nicht immer respektiert, vielleicht fühlen sich Viele insbesondere Frau Heidenreich gegenüber intellektuell überlegen. Das mag ja auch begründet sein, aber sie bringt das Gefühl des Vergnügens am Lesen mit Leidenschaft und Elan an potenzielle Leser herüber und hat insofern auch eine große Wirkung. Das ist im Filmbereich nicht zu finden. Wir würden uns natürlich Kritiker wünschen, die diese Leidenschaft auch gegenüber dem Kino ausdrücken und die Leser erreichen, indem sie langsam ein Vertrauensverhältnis aufbauen, was ihre Kritiken letztlich wirkungsvoll macht. Dann ertragen wir im Einzelfall auch, negativ behandelt zu werden. Das müssen wir erdulden.

Nestwärme für Journalisten oder: Der Mangel an subjektiver Radikalität

Rainer Rother: Braucht der Autor und Filmemacher die Kritiker? Was wünscht er sich von der Kritik?

Andres Veiel: Ich glaube, dass Filme wie Black Box BRD und andere niemals ohne die Kritik ihre Re­zeption und Öffentlichkeit erfahren hätten. Wenn wir von einer Krise der Kritik sprechen, dann gibt es sie in einem anderen Punkt. Ich möchte Herrn Rohrbach unbedingt widersprechen. Um bei dem Beispiel Sehnsucht zu bleiben: Ohne die breite und differenzierte Berichterstattung hätte dieser Film vielleicht nur 10.000 Zuschauer erfahren. Weil kein Budget zur Verfügung stand, weil keine Vorberichte geschrieben wurden und kein Roman mit Millionenauflage schon vorher durch die Presse gegangen ist, braucht ein Film die Kritik. Deshalb halte ich den Vergleich für untauglich. Die Kritik zu kritisieren, dass sie Das Parfüm zu wenig und Sehnsucht zu viel liebt…

Günter Rohrbach: Das habe ich doch nicht gesagt…

Andres Veiel: Das schwingt mit, wenn Sie in Ihrem Artikel auflisten, was aus ihrer Sicht beim Parfüm übersehen, wie unfair der Film behandelt wurde, wenn im Gegensatz dazu Sehnsucht oder Milchwald hoch geschrieben und als Meisterwerke bezeichnet würden. Citizen Kane sei ein wirkliches Meisterwerk, wie könne man Sehnsucht und Milchwald dann als Meisterwerke bezeichnen. Insofern schwingt das mit, Herr Rohrbach.
Aber ich möchte die Mikrophysik zwischen PR und Filmjournalismus aus meiner Sicht darstellen. Da gibt es eine gefährliche Grauzone. Ich stelle häufig fest, dass Journalisten mit ihrer eigenen Redaktion wenig zu tun haben. Man sagt ihnen: Liefern sie einen Text von 30 bis 50 Zeilen ab, der dann noch auf 20 Zeilen reduziert wird. Der eigentliche Kontakt sind die netten Damen von der Agentur, die nach dem Kino fragen: Wie hat Ihnen der Film gefallen? Die rufen noch einmal an und sorgen möglicherweise dafür, dass es ein Interview gibt. Die Frage ist, ob man ein Interview in einer Sechserrunde macht oder allein. Das ist für viele Journalisten überlebensnotwendig. Dann lasse ich mich auf bestimmte Bedingungen ein, dann sage ich auch mal: Ich finde den Film gar nicht mal so schlecht. Es geht um einen bestimmten Zugang zu Interviews, zu Informationen, zu Empfängen. Es gibt eine Grauzone, die unter der Hand gut funktioniert. Klingt bizarr, ist aber das Zitat eines Journalisten, der mir offen gesagt hat: Die „Nestwärme“ kriegt er eher von der PR als von der eigenen Redaktion.
Ich habe von vielen Journalisten gehört, dass sie als Amateure gelten, als Filmliebhaber, nicht als Journalistenkollegen. Sie sollen Liebhabertexte abliefern. Der starke Druck, unter dem sie stehen, führt dazu, dass im Prinzip das Presseheft abgeschrieben wird. Ich stelle das bei meinen eigenen Filminterviews immer wieder fest. 70 bis 80 Prozent der Kritiken kann man mit Gummibärchen vergleichen: Sie sehen unterschiedlich aus, schmecken aber gleich. Nur der schmale Rest zeugt von Auseinandersetzung.
Ich schließe mich im Prinzip an das an, was Herr Rohrbach fordert, dass Kritik mit Neugierde, mit einer eigenen Position, mit subjektiver Radikalität geschrieben sein soll, so dass neue Gedanken gedacht werden, die ich selbst zu meinem Film noch nicht gefunden habe. Aber aufgrund der prekären Situation der Journalisten und der netten Umarmung der PR gibt es diese Grauzone, die ich für viel bedenklicher halte als das, was Sie als Gefahr sehen, Herr Rohrbach.

Rainer Rother: Herr Schulz-Ojala, wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, die Filmkritik habe das Vertrauen des Publikums verloren?

Jan Schulz-Ojala: Vorweg ein Gedanke im Zusammenhang mit dem „imaginären Tresen“, von dem Anke Zindler in Ihrem Vortrag gesprochen hat. Wir stünden alle gemeinsam daran, an verschiedenen Seiten. Dem möchte ich energisch widersprechen bei aller „Kollegialität“. Wir arbeiten an verschiedenen Schreibtischen in verschiedenen Häusern. Vielleicht in derselben imaginären Stadt, die „Filmliebe“ heißt. Aber schon diese grundsätzliche Trennung scheint mir absolut wesent­lich, um eine Schärfe herzustellen oder zu bewahren. Die Wahrnehmung droht, verloren zu gehen. Wenn Andres Veiel davon spricht, dass freie Filmkritiker mehr Nestwärme bei den PR-Agenturen fühlen als bei der Redaktion, ist das schrecklich. Ich höre das zum ersten Mal. Ich kenne auch die netten Damen, die am Ausgang des Kinos warten und dafür bezahlt werden, zu fragen, wie man den Film gefunden hat. Also freundliche Wegelagerinnen, die einem in dem Augenblick, wo man noch mit dem Film einen Augenblick alleine sein möchte, schon bereits die erste Meinung abpressen – gern eine positive. Das sind Dinge, die extrem stören und davon gibt es Legionen. Auch ich bekomme zu viele E-Mails der PR.
Ich frage mich, wie das Vertrauen des Publikums messbar ist. Vielleicht äußert es sich, wenn man es verloren hat, als Enttäuschung in Form von Briefen, die Einspruch erheben gegenüber dem, was man formuliert hat. Ich glaube, dass man das Vertrauen durch kontinuierliche Arbeit am Gegenstand gewinnt, durch skrupulöses Schreiben, durch engagiertes und Begeisterungsaffines Schreiben, aber auch durch scharfe Distanz, die im Einzelfall genau begründet. Dadurch entsteht beim Leser – im Übrigen ein abstraktes Konstrukt – ein Profil der Person, die sich kontinuierlich äußert.
Es ist ein gedanklicher Fehlgriff, David und Goliath, also Sehnsucht und Das Parfüm in eins zu setzen und eine kurzgeschlossene Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Selbst wenn ich einen Verriss schreibe, heißt das nicht, dass ich meine Leser mit vorgehaltener Pistole vom Besuch des Films abhalten möchte. Der Leser soll sich den Film angucken, er bringt seine eigene Neugierde mit. Im Fall von Das Parfüm eine Neugierde, die durch die Kenntnis des Romans im Guten beflügelt ist, im Negativen vielleicht dadurch, dass es zu viel Vorab-PR-Berichterstattung gegeben hat, die den eigentlichen Kern der Filmkritik nicht berührt, ihn zuschüttet. Aber natürlich ist jedem der Besuch des Kinos mit Vergnügen freigestellt. Das schließt auch die Reibung an der Meinung ein, die ich formuliert habe. Hauptsache, sie ist klar begründet. Was wir aber als Einflussnahme der PR und anderer Schreibtische gar nicht mögen, sind Beschwerden bei Vorgesetzten. Das geht nach hinten los.

Gregor Schwering: Ich bin ein bisschen entsetzt, wie sehr das Publikum in seiner Kompetenz un­terschätzt wird. Das kommt überhaupt nicht zur Debatte. Selbst die Leute, die in Spiderman 3 gehen, haben eine Filmtheorie. Sie wissen genau, in welchen Film sie gehen, was dieser Film ihnen bieten wird und wie sie mit dem Film umzugehen haben. Es wird quasi ein Kartell aus PR-Agentur und Produzententeam bzw. Filmemacher unterstellt, das denkt, das Publikum sei blöd, das müsse man sich zu Freunden machen. Das geht an der empirisch erhebbaren Realität vorbei und ist mit Verlaub so bildungsbürgerlich aufgeladen, dass mich das richtig ärgerlich macht.

Daumen hoch! Oder: Der Anruf in der Chefredaktion

Rainer Rother: Frau Fendel, was kann PR tun, außer Nestwärme zu spenden? Was muss sie tun?

Heike Melba Fendel: Jeder, der etwas macht, möchte es und sich verkaufen und möglichst wenig Dinge und Menschen haben, die sich dem in den Weg stellen. Dass die PR sich professionalisiert hat, das führt zu den Ergebnissen, die wir haben.
Ich glaube, man muss ein paar Dinge entzerren. Es gibt eine Filmkritik, die dazu dient, das Publikum ins Kino zu bringen, also Humor, Action, Erotik, Anspruch. Das Parfüm hat, glaube ich, bis auf Humor alles zu bieten und war sicherlich in allen Medien, die eine enge Blattbindung pflegen, wo das erwähnte Vertrauen da ist. Ich denke, dass diese Medien Das Parfüm auch gewürdigt haben mit dem erhobenen Daumen. Das war gut für Das Parfüm. Ich denke, dass man die Kritiker und die Räume, die darüber hinaus frei sind, in denen es eine andere Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Kino gibt, doch bestehen lassen sollte. Ich tue das.
Ich bin in der seltsamen Position, sowohl Kritikerin als auch PR-Agentin zu sein. Als PR-Agentin manipuliere ich die Journalisten, mit denen ich das machen kann. An diejenigen, bei denen klar ist, sie haben keine Lust dazu, geht man gar nicht ran. Ich denke, Herr Rohrbach, das sollten Sie auch tun. Bei Cinema sollte man sagen: Vielleicht noch fünf Daumen hoch, aber der Zeit oder dem Tagespiegel sollte man die Möglichkeit lassen, ihre Sache anders zu machen. Oder man hält sich heraus. Ob die Leser einem Kritiker vertrauen, misst sich meines Erachtens nicht daran, dass sie einen Film meiden, der verrissen wurde, sondern indem sie einen Text zur Kenntnis nehmen. Vielleicht finden sie noch etwas, nachdem sie den Film gesehen haben, so wie Andres Veiel in den guten Kritiken noch etwas über seinen eigenen Film lernt. Wim Wenders hat mal gesagt, im Kino zu schlafen heißt, dem Film zu vertrauen. Es kann auch sein, dass Vertrauen in den Kritiker bedeutet, dass man es bildungsbürgerlich nimmt: Man hat eine Meinung zu einem Film, die man von einem bildungsbürgerlichen Feuilleton vermittelt bekommen hat. Und das Vertrauen des Lesers liegt genau darin, diesen Film nicht zu gucken. Lassen wir das doch einfach stehen. Es gibt so wenige Möglichkeiten, Filmkritik in Printmedien in der Ausführlichkeit wie in der Zeit etwa zu machen. Lassen wir das doch und lassen wir die anderen Medien, die zehn Seiten über Günter Grass machen. Ich finde unnötig, dass man von den wenigen Bastionen eines seriösen filmkri­tischen Journalismus erwartet, vor den Marktgesetzen einzuknicken.

Einwurf aus dem Saal: Herr Rohrbach, eine Frage, die Beschwerden oder Nachhaken bei den Vorge­setzten betrifft: Auf der einen Seite sagen Sie, dass die Kritik den Anschluss ans Publikum verloren hat, indem sie keinerlei Einfluss hat. Auf der anderen Seite reagieren Sie empfindlich, als ob die Kritik doch erheblichen Einfluss hat. Sie rufen beispielsweise beim Chefredakteur der Zeit an und beschweren sich über die Kritikerin. Das ist ein Widerspruch, vielleicht können Sie ihn auflösen.

Günter Rohrbach: Ich habe nicht beim Chefredakteur der Zeit angerufen, um mich über die Kritikerin zu beschweren. Allerdings habe ich mich über diese Kritik massiv geärgert. Und ich war nicht der einzige. Ich hab in einigen Zeitungen gelesen, dass ich der Produzent von Das Parfüm sei, das bin ich ja nun wirklich nicht. Allerdings fand ich sehr ungewöhnlich, viele Wochen, bevor der Film überhaupt gestartet war, mit einer Kritik herauszukommen, und dann mit einer Kritik, die sich nicht im mindesten Mühe vor einem solchen Film gegeben hat, in dem ja eine gigantische Arbeit von vielen Leuten drin steckt. Produktion, Regie und alle einzelnen Arbeiten, die in einem solchen Film stecken, die sind sonst in Deutschland selten. Dass jemand so über diesen Film hinweggeht, das fand ich sehr ärgerlich. Das hat so ein Film nicht verdient. Es gibt gute Gründe, gegenüber dem Film kritisch zu sein, das will ich nicht bestreiten. Nur denke ich, eine solche Arbeit hat einen Grundrespekt hat verdient. Dann lief ich auf einer Party Giovanni di Lorenzo über den Weg und habe es ihm beiläufig gesagt. Ich hätte ihn nie angerufen, so weit gehe ich nicht, schon gar nicht bei einem Film, mit dem ich selber nichts zu tun habe. Aber meine Verärgerung war frisch, da habe ich ihm das in einem sehr, sehr kurzen Gespräch gesagt. Er sagte, er werde das weiter geben. Da war mir klar, dass ich Ärger kriegen würde. Es war nicht meine Absicht, aber so war der Sachverhalt.

Kritik und Konsensgesellschaft

Rainer Rother: Eigentlich gibt es kein Verhältnis der Kritik zum Erfolg eines Films. Andererseits gibt es Ärger über negative Kritiken. Wenn man das ernst nimmt, spricht das für eine Wertschätzung der Kritik, weil sie wahrgenommen wird. Führt Kritik zum Ausbleiben der Kinobesucher?

Anke Zindler: Es gibt nicht nur Konsensfilme, es gibt ein Konsensbedürfnis in der Gesellschaft, ein Sich-liebhaben-Wollen. Negative Kritik wird als Verletzung wahrgenommen. Insofern hat Rüdiger Suchsland Recht, wenn er von einer gewissen Anti-Intellektualität spricht. Man nimmt das Emoti­onale eher wahr. Ich verstehe, Herr Rohrbach, dass Sie betonen, wie viel in solch einen Film investiert wurde. Der bedeutet einem etwas, da steckt ganz viel drin, und dann ignoriert ihn jemand. Das verletzt. Es ist eine emotionale Verletzung, die man nicht mit einer professionellen Beschwerde verknüpfen darf. Es gibt kein Recht auf Zuneigung – also man kann sie nicht einklagen.
Eine Entwicklung ist vielleicht noch nicht zur Sprache gekommen: Ich glaube, dass nach der Jahrtausendwende und dem Zusammenbruch des neuen Marktes und den Ängsten über Entlas­sungen in den Redaktionen auf einmal ein Überlebenswille da war, ein Wille, zu denen zu gehören, die es schaffen. Meine Hoffnung ist, dass sich, wenn sich die Gesamtstimmung entspannt, auch der Erfolgsdruck entspannt. Statt wirtschaftlich messbaren Erfolg als einzigen Maßstab zu nehmen, kann man dann vielleicht wieder hingucken und sehen, dass Erfolg keine Entschuldigung für alles ist.

Rainer Rother: Gibt es von Kritikerseite eine Enttäuschung, dass das Urteil über Das Parfüm hart ausfiel?

Rüdiger Suchsland: Tom Tykwer ist ein Regisseur, der seine ersten Filme sehr mit Hilfe der Kritik gemacht hat. Sie wurden geschätzt von mir und meinen Kollegen. Und dann macht er einen Film, der einem nicht gefällt. Man denkt, der kann eigentlich etwas Besseres, etwas Anderes. Das ist ein Regisseur, von dem man Kunst erhofft, andere als die Berliner Schule, gegen die Herr Rohrbach po­lemisiert. Die Marketing-Agenturen, auch die Produzenten, manchmal sogar die Regisseure sagen uns, sie wollen keine Kunst machen, sie wollen unterhalten. „Ich will doch nur gefallen.“ Dann werden Produkte, die aus meiner Sicht Kunst sind, gute wie schlechte, aus dem Kontext herausgenommen. Im Grunde genommen kämpft man, bevor man über das einzelne Urteil redet, darum, den Film überhaupt in diesem Kontext zu sehen und den Gesamtzusammenhang nicht preis zu geben. Das ist ein wichtiges Problem, weil mit der Preis­gabe auch die Kritik erledigt wird.

Rainer Rother: Herr Schulz-Ojala, finden Sie es professionell, wenn die Kritik aus Enttäuschung über einen Karriereverlauf den Film nicht als das nimmt, was er ist? Wenn der Regisseur nicht mehr den eigenen Erwartungen entspricht, ist das ein Kriterium?

Jan Schulz-Ojala: Filmkritiker sind Menschen und leben auch mit dem, was sie im Laufe ihrer Fil­merfahrungen schätzen gelernt haben. Das lässt sich trennen und die Enttäuschung wird mitspielen dürfen.

Stefan Arndt: (Filmproduzent X-Film, Vorstand der Deutschen Filmakademie): Hier im Saal sind 90 Prozent Leute, die professionell mit Film arbeiten. Ich glaube, wir können eine Menge Girlanden weglassen. Ich habe den Rohrbach-Artikel im Spiegel so verstanden, dass er für Sehnsucht schreibt und sich des Parfüms nur bedient. Das Parfüm war durch, so wie der Film nun mal war. Herr Rohrbach, den ich als Liebhaber der Berliner Schule kennen gelernt habe, hat nicht Das Parfüm zum Ziel gehabt. Ich würde gern mal von den Journalisten auf dem Podium hören, was sie zu Günter Rohrbachs Text sagen. Er hat doch für das anständige Feuilleton geschrieben. Ich verstehe nicht ganz, wenn jemand einem anderen Berufsstand zur Seite tritt, dass er die Gülle dermaßen übergeworfen kriegt. Ich halte bald nicht mehr aus, mir das anzuhören.

Ulrich Greiner: Sie sprechen von Gülle, von Jauche. Wenn man ein Streitgespräch führt, sind die Positionen scharf abgegrenzt. Das hat mit Jauche nichts zu tun.

Stefan Arndt: Um die Geschichte des Spiegel-Textes klarzustellen: Da war ich dabei. Ich erzähle das jetzt mal. Es war die Idee der Filmakademie, einen Text zu machen, ähnlich wie heute Abend zum Thema Film und Filmkritik. Da gab es ein Treffen zwischen Rohrbach, mir, Christiane Teichgräber und einem Regisseur. Dieses Treffen geriet nach vier Minuten in eine Brüllerei. Man musste sich trennen und sagen, so können wir keine gemeinsame Veranstaltung machen. Was war der Hintergrund? Ich habe es so interpretiert, dass es auf Regieseite eine starke Motivation gab, zu sagen, die Filmkritik ist meine Lebensversicherung. Wir dürfen sie nicht kritisieren, wir müssen sie in Ruhe lassen, denn nur wenn sie für sich ist, wird sie weiterhin die Art von Film, die wir alle – glaube ich – beschützen wollen, auch beschützen. Es kam nicht zu der Veranstaltung, aber wie Herr Rohrbach das nun mal macht – das mag man gut finden oder nicht -, hat er einen Text geschrieben. Das finde ich vollkommen okay, das ist sein freies Recht. Seit ich mich mit Film beschäftige, gibt es zwei, drei Texte von Herrn Rohrbach in überregionalen Zeitungen pro Jahr.
Ich würde gern noch etwas sagen zu Der Untergang. Vieles, was in den Besprechungen zum Parfüm stand, habe ich als direkte Reaktion auf die Pressestrategie zum Untergang verstanden und aus der Unscharfe, ob Das Parfüm ein Tykwer- oder ein Eichinger-Film ist. Wie dicke sind die beiden befreundet? Haben die den zusammen gemacht? Was ist von wem? Dann gab es diese Kritiker-Welle. Mit dem Text von Katja Nicodemus in der Zeit wurden bestimmte Regeln außer Kraft gesetzt. Es sollte eine Weltpremiere stattgefunden haben, bevor man vernichtende Kritiken darüber veröffentlicht. Wenn man das Ganze schon sechs Wochen vor der Weltpremiere macht, sollte man zumindest die Grundregeln der Kritik – Um was geht es? Was ist verfilmt worden? Wer hat was gemacht? – beurteilen oder vermitteln. Wer den Text vielleicht nicht mehr ganz präsent hat: Er bezog sich zu 90 Prozent auf Nasen, die im Bild waren – was bei einem Film, der vom Riechen handelt, nicht ganz unwahrscheinlich ist.

Die Hymne als symbolischer Wert für die Produzenten

Jan Schulz-Ojala: Wir wissen, dass es einen Wettbewerb der Zeitungen gibt. Man kann bei Großproduktionen gut beobachten, wie es in den großen Zeitungen darum geht, wer ist der Erste ist. Ich vermute, Die Zeit wollte im Fall von Das Parfüm die Erste sein. Die FAZ hat dann früher als geplant mit einem Interview des Produzenten Bernd Eichinger nachgezogen. Man schaukelt sich gegenseitig hoch. Das hat dem Film nicht geschadet. Es gibt ja diesen Satz: Jede PR ist eigentlich gute PR. Wenn in der Zeit ein Verriss, auch ein unfairer erscheint, ist der Film im Gespräch. Die Streitkultur fehlt uns. Insofern denke ich nicht, dass wir in einem geschützten Raum sitzen müssen. Man muss zwar nicht lieb zu uns sein, aber man soll uns unsere Arbeit machen lassen, nicht versuchen, Einfluss zu nehmen, über Chefredakteure oder auf anderen Wegen.

Günter Rohrbach: Unsere Interessen, als Produzenten und Regisseure Zuschauer zu erreichen, sollten ihr Äquivalent darin haben, dass die Kritiker versuchen, ihre Leser zu erreichen. Die elitäre Vorstellung von Herrn Greiner stammt aus der Romantik, in der sich die produzierenden Künst­ler untereinander über ihre Produkte ausgetauscht und den Begriff von Kritik entwickelt haben. Das ist nicht vergleichbar mit unserer heutigen Situation, in der von Zeitungen, auch den anspruchsvollen und elitären, eine gewisse Dienstleistung erwartet wird. Wenn ich die Zeitung kaufe, bin ich ganz gern als Leser gemeint. Und ich lese gern Zeitungen. Bei dem Eindruck, dass der Kritiker sich für mich überhaupt nicht interessiert, würde ich mich nicht wohl fühlen.

Rüdiger Suchsland: Herr Rohrbach, warum vergleichen Sie Das Parfüm nicht mit Das Leben der Anderen? Der ist von Buena Vista (also Disney) auch mit einer großen Marketingkampagne ins Kino gebracht worden. Er wurde überwiegend positiv besprochen. Nach Ihrer Theorie hatten die Kritiken offenbar sehr viel Wirkung, denn es sind ja viele Leute ins Kino gegangen.

Günter Rohrbach: Ich möchte den Gedanken zu Ende bringen: Ich mag Sehnsucht sehr, ich habe mich in der Akademie sehr dafür eingesetzt, dass der Film in die Vorauswahl zum Filmpreis kommt. Das ist leider an der Abstimmung gescheitert. Ich finde, dass ihr Kritiker ihm nicht wirklich nützt, wenn ihr ihn euch nicht erarbeitet, dass eure Leser euch vertrauen. Die Filme der Berliner Schule, die ich genau beobachte und von denen ich mir einbilde, dass ich sie ziemlich gut verstehe, profitieren von eurer Liebe nicht. Diesen Gedanken wollte ich ins Gespräch bringen, nichts Anderes. Ich fühle ich mich in einer Weise behandelt, die mit dem, was ich gewollt habe, nichts zu tun hat.

Andreas Kilb (Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung): Man sollte um der Sachlichkeit willen feststellen, dass Katja Nicodemus‘ Kritik zu Das Parfüm zwei Wochen vor dem Kinostart in der Zeit erschien, das FAZ-Interview mit Bernd Eichinger – ich spreche jetzt für meine Redaktion – eine Woche vor dem Start. Der Spiegel-Titel zum Untergang, einem Film vom gleichen Produzenten, erschien vier Wochen vor dem Filmstart und hatte mit der ästhetischen Qualität jenes Films wenig zu tun – nur war er eben positiv.
Niemand aus der Produzentenszene hat sich darüber aufgeregt, weil es eben eine Hymne war. Das heißt, Vieles hier hat mit Kränkungen zu tun, und da muss ich dem sehr intelligenten Vortrag von Ulrich Greiner widersprechen. Es mag sein, dass die Medienindustrie die Kritik nicht braucht, aber die deutschen Produzenten brauchen sie sehr, und zwar auch im symbolischen Sinn. Sie wollen nämlich gelobt werden, sie wollen geliebt werden, gerade von der seriösen Kritik. Gerade Bernd Eichinger will von der seriösen Kritik geliebt werden, deshalb verfilmt er einen seriösen Roman nach dem andern. Und Sie, Herr Rohrbach, wollen auch von der Kritik der großen Zeitungen geliebt werden. In diesem Sinne verstehe ich die Emotion am Anfang Ihres Spiegel-Aufsatzes, wo Sie ein bisschen Kaufmann-von-Venedig-haft fragen, wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht. Haben wir all diese Kränkungen wirklich verdient, diese furchtbaren Wunden, die ihr uns geschlagen habt? Ich kann das verstehen, aber es steckt gleichzeitig ein bisschen etwas von der Larmoyanz der Macht darin. Denn die Filme, die Sie produzieren, brauchen tatsächlich in den seltensten Fällen die Nachhilfe der Kritik, um ihr Publikum zu erreichen. Und wenn Sie den Wirkungszusammenhang zwischen Filmkritik und Zuschauer so herstellen: Hier Lob und nur 25.000, da Verriss aber 5,5 Millionen Zuschauer, da wird ihr Aufsatz richtiggehend ideologisch und falsch. Ich sage sogar: borniert, weil Sie den Verwertungszusammenhang der PR-Maschinerie, der Zahl der Filmkopien, der Verleihmittel, der Werbebudgets unterschlagen, der zwischen Kritik und Zuschauer Fakten schafft. Weil Sie unter­schlagen, dass ein Film wie Sehnsucht mit zehn Kopien startet, ein Film wie Das Parfüm aber mit 500, dass Das Parfüm ein Werbebudget von drei, vier Millionen Euro hat, und ein Film wie Sehnsucht praktisch keines oder wenn, dann von der Filmförderung finanziert, ein paar zehntausend Euro. Da wird Ihre Argumentation borniert.
Es steckt in Ihrem Begriff von Filmkritik etwas, freundlich gesagt, Biedermeierliches. Sie möchten den Filmkritiker zum Platzanweiser machen, Sie möchten, dass er dem kleinen Film einen kleinen Platz gibt, dem großen Film einen großen Platz und dass er an dem großen Film die Mühsal der Ausstattung, des Schnitts, der Kostüme usw. auf möglichst vielen Zeilen würdigt, während man bei dem kleinen Film – Sehnsucht ist ja sozu­sagen ein Bekenntnis ästhetischer Schlichtheit und Armut – alles weglässt und entsprechend klein hält. Diese Art von Quantifizierung des Ästhetischen finde ich infam. Das kann man von der Kritik nicht verlangen. Kritik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie Budgets und ästhetische Qualitäten nicht gegeneinander aufrechnet und dass sie die Dinge trennt, dass sie Das Parfum und Sehnsucht niemals in einem Atemzug nennt, weil dies zwei Filme sind, die Welten voneinander entfernt sind und auch eine ganz andere Zuschauerschaft erreichen.

Günter Rohrbach: Wenn Sehnsucht das Marketing-Budget von Das Parfum gehabt hätte, wäre der Verleiher insolvent und bei den Kinos, die den Film gespielt hätten, wären wahrscheinlich die Kassen zertrümmert worden. Ein Film muss sich sein Werbebudget erarbeiten – als Film. Es wird ja kein Verleiher Millionen ausgeben für einen Film, von dem er von vornherein weiß, dass er für ein ganz kleines Publikum gedacht ist. Das ist Sehnsucht natürlich.

Andreas Kilb: Warum spielen sie dann die Zu­schauerzahlen gegeneinander aus?

Günter Rohrbach: Ich sage nur, wenn ein Film so hervorragende Kritiken hat, möchte ich doch er­warten dürfen, dass das von den Zuschauern ent­sprechend honoriert wird.

Nachhaltigkeit wider den Mainstream

Einwurf aus dem Publikum: Vielleicht können die Marketingexperten ja mal sagen, ob Sehnsucht aus ihrer Sicht ein hoffnungsloser Fall ist. Was würde man denn mit so einem Film machen, um ihm mehr Publikum zu verschaffen?

Anke Zindler: Wenn ein Film inhaltliche Ansatzpunkte bietet, mehr als sozusagen sich selbst zu vermarkten, dann hat er Ansatzpunkte für das Marketing, wenn er zum Beispiel in anderen Bereichen greift, die mit den Medienauftritten von Schauspielern arbeiten, wenn er möglicherweise Themen lanciert. Aber alles, was von vornherein keine großen Verleihbudgets generieren kann, ist sicherlich stark von Pressereaktionen abhängig.

Heike Melba Fendel: Überschätzen Sie uns nicht! Ich glaube, dass Marketing nicht zwingend Erfolge macht. Es kann manchmal unterstützen, aber wir alle kennen Publicity-Misserfolge und völlig unpublizierte Überraschungserfolge. Dazwischen versucht man, bestimmte Dinge zu tun. Ich glaube, dass 25.000 Zuschauer, denen ein Film etwas bedeutet, viel wert sind. Das würde ich nicht wegwischen. Der Mainstream ist deswegen der Hauptstrom, weil er sich aus vielen Zuflüssen speist. Die sind in der Regel kleiner und verschlungener. Ich glaube, dass Filme auch eine Wirkung bei Menschen entfalten, die sich später bei Filmen auswirkt, die vielleicht eine andere Legitimation haben. Dieses ständige Herumhacken auf Zuschauerzahlen ist zwar kaufmännisch verständlich…

Günter Rohrbach: Gerade dieser Film ist ja von der Kritik sehr geliebt worden, ich finde zu Recht. Ich sage nur, dass man sich doch auch als Kritiker wünschen muss, dass er ein Erfolg wird. Ich weiß gar nicht, warum wir da einen Konflikt miteinan­der haben.

Ulrich Greiner: Ich wundere mich über Ihren Begriff von Erfolg und würde uns alle gerne davor warnen, dass die allgemeine Ökonomisierung auch ästhetische Debatten infiziert. Ich erinnere an eine Bemerkung, die Arno Schmidt mal ge­macht hat. Er sagte, in jedem Land gibt es sozusagen die Menge der intelligenten interessierten Leser als die dritte Wurzel aus 80 Millionen. Das sind 430 Leser, genau die Menge, die ein durchschnittlicher Lyrikband in Deutschland hat. 430 Leser sind viele, viele Leute, das sind mehr als heute Abend hier sind. 25.000 Besucher sind ein ganzes Stadion voll. Das ist richtig viel. Die Frage, ob viel oder wenig, misst sich doch nicht allein daran, ob der Film sich finanziert oder ein ökonomischer Erfolg ist. Vielleicht sind fünfeinhalb Millionen viel zu viel. Das kann ja auch sein.

Gregor Schwering: Ich bin erstaunt, was hier für Verschwörungstheorien von beiden Seiten aufge­fahren werden. Das macht mich als Wissenschaftler baff. Man müsste mal über die strukturelle Position des Kritikers nachdenken. Womit ist er konfrontiert? Der Filmkritiker hat das Produkt, das er rezensieren muss, vielleicht vor Augen, aber er kennt die Hintergründe nicht und kann sie auch nicht wertschätzen. Kein Filmkritiker ist am Set und sieht dem Schauspieler zu, wie er in dem Moment genau das oder jenes tut und große Kunst oder weniger schafft. Der Filmkritiker muss seinen eigenen Sinnen und der eigenen Affektation vertrauen. Dass ist das Einzige, was er hat, das soll man ihm bitte schön lassen.
Was mich total erstaunt, ist, wie hier die U- und E-Differenz wieder aufgemacht wird. Es gibt kleine künstlerisch wertvolle Filme und Blockbuster, die sind natürlich Schrott. Hat denn keiner von Euch gesehen, wie komplex zum Beispiel Der Herr der Ringe ist, wie da digitale Technik in die Filmhandlung eingebaut wird, dass das große Kunst ist, kein Schrott? Ein anderes Beispiel: Ter­minator. Da kommt jemand aus der Zukunft in die Vergangenheit zurück, um in der Gegenwart die Zukunft wiederum zu ändern. Diese hochkomplexe Zeitschleife ist fast ein philosophisches Problem. Ich habe keine Lust, über U- und E- Kultur, kleine und große, teure und billige Filme zu reden. Die Qualität kann durchaus in einem völlig alltäglichen Produkt liegen, in das Leute gehen, Herr Rohrbach, die ja nicht mal eine Zeitung lesen.

Klaus Kreimeier (Medienwissenschftler): Es gibt einen zweiten Begriff von Qualität, das ist Nachhaltigkeit. Bestimmte Filme, etwa La Jetée oder Sans Soleil von Chris Marker, haben vielleicht seinerzeit nur 2000 Zuschauer erreicht, waren aber über zehn, zwanzig Jahre einfach prägend, haben Bestand, sind vielleicht für nächste Generationen auch noch wichtig. Von dieser Seite muss man eine andere Gewichtung entwickeln als dieses abergläubische Starren auf den einzigen Parameter Kasse. Vielleicht kann man noch andere Titel anfügen – mit einer schmerzhaften Nostalgie, wenn man sich an die Ergebnisse des jüngsten Deutschen Filmpreises erinnert. Christian Petzolds Die innere Sicherheit bekam vor Jahren den Filmpreis in Gold, obwohl der Film auch nicht so viele Zuschauer gehabt hat. Heute ist das ein Klassiker, der für eine bestimmte sensible Wahrnehmung der RAF-Vergangenheit steht. Oder: Oskar Roehlers Die Unberührbare hat 150.000 Zuschauer gehabt – für die Kategorien von Herrn Rohrbach wahrscheinlich ein Flop.

Interessenlagen

Knut Elstermann (Filmredakteur, Radio 1): Herr Rohrbach, wenn ich Sie heute Abend richtig verstanden habe, finden Sie Sehnsucht ganz toll. Ich finde auch, dass es eine Aufgabe von Kritikern ist, auf solche Pflänzchen aufmerksam zu machen. Es ist geradezu eine altmodische Pflicht. Ich hab Kritiker immer sehr bewundert, die mich auf Dinge aufmerksam machten. Es sollte ein Dialog mit einem neugierigen Publikum entstehen. Sie mögen den Film eigentlich, haben aber ein Missverständnis erregt, was ich sehr bedauerlich finde. Und Sie sind ja nicht irgendwer, Sie sind der Präsident der Akademie, insofern sprechen Sie für mich und Leser im Land für die Filmakademie, die ja überhaupt nicht abbildet, was die wunderbare Vielfalt im deutschen Kino ist. Wir sind ja nicht im Jammertal mit dem deutschen Kino. Es gibt eine Vielfalt, Lebendigkeit und Buntheit, die bei der jüngsten Preisverleihung leider nicht abgebildet wurde. Sie haben der Filmakademie mit Ihrem Artikel einen schlechten Dienst erwiesen, auch dem deutschen Kino. Ich finde, man müsste dann eigentlich zurücktreten und sagen, Leute, ihr habt mich falsch verstanden, ich habe eine Polemik losgetreten, die mehr Ärger erregt hat, als dass sie etwas Produktives gebracht hat. Gucken Sie mal nach Frankreich, wie man dort die Berliner Schule liebt. Das liegt nicht an den Kritikern, sondern an der gewachsenen Filmkultur. Darüber könnten wir auch nachdenken. Das ist die Schuld eines mangelnden Dialogs, einer Erziehung. Ich finde, Sie hätten sagen müssen, ich habe einen großen Fehler gemacht, ich trete zurück, dann sehen wir weiter und reden entspannt über Filme.

Rainer Rother: Dies ist keine Diskussion über die Filmakademie. Herr Rohrbach hat den Artikel nicht als deren Präsident geschrieben.

Rüdiger Suchsland: Angela Merkel kann auch nicht plötzlich als Privatperson reden. Sie ist im­mer Bundeskanzlerin. Wegen Herrn Rohrbachs Rolle in der Akademie haben sich manche über den Spiegel-Text geärgert.

Rainer Rother: So wichtig ist Ihre Aufgabe, Herr Rohrbach? Das hätten wir nicht gedacht.

Günter Rohrbach: Jetzt werde ich mit Angela Merkel verglichen. Irgendwo bin ich auch mit Putin verglichen worden. Wissen die beiden das? Ich muss doch noch eine Existenz haben dürfen au­ßerhalb der Tatsache, dass ich ein Ehrenamt habe, für das ich keinen Pfennig Geld bekomme und in das ich auch viel Arbeit investiere. Ich kann doch nicht in allem, was ich sage, die Visitenkarte als Akademiepräsident hinhalten.

Andres Veiel: Die Trennung ist wichtig. Das Missverständnis, ob Sie als Präsident der Akademie geschrieben haben, hat diese Debatte in Gang gebracht. Vielleicht wird sie irgendwann produktiv, aber zunächst hat sie der Filmakademie als Institution geschadet.

Jan Schulz-Ojala: Das Problem ist weniger, dass Sie sich als Präsident der Deutschen Filmakademie geäußert haben, sondern dann doch à la longue Ihre Nähe zur Constantin, Ihre pekuniäre Nähe zu der Firma, die Das Parfüm produziert hat. Die Nähe spielt sich auf zwei Ebenen ab, indem Sie erstens im Aufsichtsrat dieser einzigen deutschen Major Company sitzen und dort ordentliche Bezüge bekommen, zusätzlich als Produzent für die Constantin, nicht nur wegen dem Film Die weiße Massai, sondern auch für Anonyma. Für dieses Millionenprojekt, das Sie anschieben, arbeiten Sie sicherlich auch nicht gratis. Aus der Problematik kommen Sie nicht heraus, damit beschädigen Sie rückwirkend doch die Filmakademie, weil Sie ihr Präsident sind.

Günter Rohrbach: Wovon soll ich leben? Ich beziehe zwar eine Rente, aber trotzdem habe ich doch das Recht, über diese Rente hinaus noch etwas Geld zu verdienen.

Rainer Rother: Darf ich Ihnen beistehen? Herr Rohrbach hat aus seiner Sicht geschrieben, was er als Manko der Kritik benannt hat. Deswegen ist das hier eine Diskussion über Filmkritik und Public Relation und was beide zueinander beitragen. Glaubt denn jemand in dieser Runde, dass Das Parfum die Nominierungen zum Deutschen Filmpreis nicht bekommen hätte, wenn Herr Rohrbach 1. nicht Präsident der Filmakademie wäre und 2. diesen Artikel nicht geschrieben hätte?

Jan Schulz-Ojala: Ich glaube, Das Parfum hat den Filmpreis nicht bekommen, weil er den Spiegel-Artikel geschrieben hat. Der nervt viele Leute. Es geht darum, dass man Interessenlagen benennt. Natürlich kann Herr Rohrbach als Privatmann schreiben, natürlich können Sie Geld verdienen, mit was Sie wollen. Wenn Sie so einen Text schreiben, dann sollten Sie sagen, dass Sie ausdrücklich nicht im Namen der Akademie sprechen. Die normalen Spiegel-Leser sehen Sie auch als Akademiepräsidenten und viele wissen nicht, dass Sie im Aufsichtsrat der Constantin sind.

Günter Rohrbach: Es gab im Spiegel eine Personalnotiz über meine Arbeit als Produzent, nicht dass ich Präsident der Filmakademie bin. Sie drängen mich dauernd in diese Ecke. Ich habe diesen Artikel nicht geschrieben, um irgendetwas für den Film Das Parfum zu tun. Vielleicht bin ich da nicht deutlich genug geworden. Es gibt viele Filme, die die Kritiker nicht in dem Maße brauchen. Irgendwie brauchen wir sie alle, aber es gibt andere, die brauchen die viel mehr. Gerade diese Filme werden von der Liebe der Kritiker nichts haben, wenn die Kritiker von den Lesern nicht angenommen werden. Das ist der Punkt.

Einwurf aus dem Publikum: Das sind leere unbewiesene Behauptungen.

Günter Rohrbach: Man kann mir widersprechen, aber zu dem Inhalt meines Artikels stehe ich in je­der meiner Eigenschaften. Noch etwas zu meinem Verhältnis zur Constantin: Ich bin nicht Aktio­när der Constantin. Ich bin aus Freundschaft im Aufsichtsrat. Dafür werde ich ziemlich schlecht bezahlt. Ich habe eine ganze Reihe von Filmen in den letzten Jahren produziert, einen für die Constantin, an der sie sehr viel Geld verdient, ich dagegen relativ wenig. Ich habe nicht den geringsten Grund, der Constantin dankbar zu sein. Um es gleich zu sagen: Ich brauche die Constantin nicht, sie hat in diesem Zusammenhang mich gebraucht. Sie braucht mich auch im Zusammenhang von Anonyma. Ich habe die Rechte erworben und das Projekt entwickelt. Ich habe den Regisseur und die Hauptdarstellerin gefunden und das Ganze der Constantin als Paket übergeben. Das hätte ich auch jemand anderem übergeben können. Ich habe da kein Verhältnis der Abhängigkeit oder Bedürftigkeit.

Das Recht auf den Verriss

Einwurf aus dem Publikum: Ich finde den Verlauf der Diskussion unsäglich. Dass es hier persönliche Angriffe gibt, das erinnert mich an die Kritik, die in der Zeit sehr früh vor dem Start von Das Parfüm erschien. Das war eine persönliche Einschätzung, völlig unsachlich, die hatte nichts mit einer Kritik zu tun. Da darf man sich in der Form aufregen, wie Herr Rohrbach das gemacht hat. Das war tatsächlich Häme, eine selten schlechte und schlampige Kritik.

Rainer Rother: Ich möchte ein Positives aus der Tatsache ziehen, dass es so persönlich wird. Es scheint so, dass die, die in verschiedenen Funktionen in dieser Branche arbeiten, sich sehr genau wahrnehmen, mit vielen Enttäuschungen und Verletzungen. Das ist doch ein überraschender Befund, mit dem ich vor diesem Abend nicht unbedingt gerechnet hätte. Alle wissen voneinander und alle haben Rechnungen miteinander offen.

Katja Nicodemus (Filmredakteurin Die Zeit): Es entstand der Eindruck, ich hätte eine Kritik zum Parfüm ganz schnell geschrieben, sie dann in ein Kästchen gesteckt und die Chefredaktion der Zeit hätte dieses Kästchen dann aufgebrochen, als ich im Urlaub war und sie schnell veröffentlicht. Dem ist nicht so. Ich wusste sehr genau, dass diese Kritik früh erscheint. Wir wollten die Ersten sein. Ich möchte trotzdem Stefan Arndt widersprechen: Ich möchte für das Recht der Kritik plädieren, auch polemisch, auch ungerecht, auch unfair oder – wie Ulrich Greiner meinte – auch mal herablassend zu sein. Ich finde, wenn man einen Film zeigt, dann ist er in der Welt, dann muss man damit rechnen, dass auch Kritik erscheint. Ich finde nicht, dass man in dieser Kritik unbedingt immer ganz sachlich und seriös auf Szenenbild, Kamera, Skript, Maske, eingehen muss. Wenn ich bedenke, was diese 180 Zeilen auf Seite fünf der Zeit für eine – mit Andreas Kilbs Worten – „biedermeierliche“ Aufregung in der Branche hervor­gerufen haben, dann finde ich im Nachhinein, dass es richtig war, es so zu machen.

Anke Zindler: Ich gehörte zu denen, die sich darüber aufgeregt haben, dass die Kritik so früh kam. Da spielt etwas herein, über das Katja Nicodemus und ich damals heftig diskutiert haben und das ich eine Art Gentlemen’s Agreement nennen würde. Wir von Seiten der Agenturen und Verleiher geben das Baby Film in eine Runde von Fachleuten unter den Voraussetzungen, dass der Starttermin als Startschuss ernst genommen wird. Das meine ich mit Fairness. Es ist ein Begriff, den ich auch gegen Herrn Greiner verteidigen würde, wenn ich konstatiere, dass Sie sagen, Herabsetzung sei als legitimes Mittel der Kritik gut. Ich verwahre mich gegen Häme, weil ich oft finde, dass Kritiker dabei ihre subjektiven Empfindungen austoben, wogegen sich das Werk nicht wehren kann. Ich meinte Fairness im Sinne der Konditionen, unter denen wir zusammenkommen. Wir bieten unter kommerziellen Gesichtspunkten etwas an. Auch Sie als Kritiker kommen in die Vorführung, einen Rahmen, in dem wir den Film zur Besichtigung als Arbeitssituation anbieten. Dabei gehen wir davon aus, dass Sie erst schreiben, wenn der Film herauskommt. Allerdings ist richtig, dass der Wettbewerb immer schärfer wird. Jeder möchte der Erste sein.

Rainer Rother: Das ist vielleicht als Erfolg der PR zu interpretieren.

Anke Zindler: PR hat die Zeitung ja selbst schon verinnerlicht. Die Parfum-Kritik war nicht um­sonst ein klarer PR-Erfolg für die Zeit und als solcher auch intendiert. Da schlägt der eine den anderen mit den gleichen Mitteln und Waffen.

Ulrich Greiner: Die Zeitungen selber arbeiten bedauerlicherweise mit den Mitteln, die hier genannt worden sind, gegeneinander. Es sind zumeist die Konzerne, denen die Zeitungen gehören. Das muss man der Fairness halber auch sagen. Ich möchte auf die Empfindlichkeit reagieren, die heute Abend zum Ausdruck gekommen ist. Das Ausmaß der Verletzungen überrascht mich. Ich dachte, die Filmprofis sind harte Genossen, die stecken das weg, das sind ja immer ganz viele. Dass die alle gekränkt seien von einer harmlosen Kritik, das hat mich erstaunt. Ich kenne das aus der Literatur, wo es ein hohes Maß an Ungerechtigkeit ist, wenn ein Autor fünf Jahre lang einen 300-Seiten-Roman schreibt und bei uns erscheinen dann 100 Zeilen, in denen erklärt wird, das Ganze taugt nichts. Die Arbeit von fünf Jahren ist dann erledigt. So ist es nicht. Es gibt nichts Vergänglicheres als die Zeitung. Es gibt nichts, was schneller vergessen ist als eine Filmkritik – und auch Rohrbachs Text. Die Kunstwerke werden bleiben, das was wir machen, wird nicht bleiben.

PR und die Macht der Mundpropaganda

Henrike Thomsen (freischaffende Journalistin): Auf den Punkt der Fairness eingehend, Frau Zindler: Ich habe die meiste Zeit meines Kritikerlebens als Theaterkritikerin verbracht und dann Ausflüge in den Film gemacht. Ich war sehr erstaunt, in welchem hohen Maß die Filmindustrie und die PR ein Gefälle herstellen. Es werden Zeitpunkte gesetzt, wann etwas veröffentlicht werden darf, bestimmte Fragen, Inhalte oder Zugänge zu Stars vorgegeben. Es ist ja nicht so, dass ein faires Verhältnis von Kritikern und Medienindustrie herrscht, sondern da wird stark zugunsten des Films und des Produktes gearbeitet. Das habe ich als ein extremes Gefälle und als eine extreme Unfreiheit empfunden und die meisten Journalis­ten spielen das Spiel im Grunde mit. Wenn Sie über das Verhältnis von Kritik und PR-Maschine sprechen wollen, warum haben Sie dann nicht jemanden von der Bildzeitung gefragt, wie dort kanalisiert wird. Warum kommt ein Film wie Sehnsucht dort nicht vor, warum gibt es beim Berliner Kurier praktisch keine Film- oder Feuilleton-Redaktion mehr, sondern eine Leute-Redaktion, eine Panorama-Redaktion, die natürlich solche kleinen Filme nicht wahrnimmt. Man müsste die Leute fragen, wie die Kanäle laufen, die letztlich die fünfeinhalb Millionen zum Parfüm bringen. Das läuft ja nicht über die Zeit und über den Spiegel.

Claudia Lenssen: Wir haben solche Kollegen nicht eingeladen, weil wir den Eindruck hatten, dass da wenig Diskussionsbedarf ist. Es gibt einen immer größer werdenden PR-Bereich, der dafür sorgt, dass Filme als People- und Boulevard-Themen in die Zeitungen kommen. Wir haben uns für das Ressort der Filmkritik interessiert. Mit dem Thema Kunst und öffentlicher Raum wollten wir die Spannungen im Feuilleton benennen. Warum die Filmkritik in den Boulevardmedien durch Homestories ersetzt wird, müsste man in einer anderen Situation diskutieren.

Stefan Arndt: Sowas Anachronistisches haut mich vom Sockel! Die Entwicklung ist vollkommen anders, denn gerade in den Boulevardmagazinen wird immer mehr versucht, die Filme in einer bestimmten Vielfalt abzubilden, einfach aus der Unsicherheit heraus, dass sie eine Serviceleistung bieten wollen. Natürlich ist das nicht die tiefe intellektuelle Filmkritik, aber zumindest die Dienst­leistung bieten sie im Gegensatz zu vielen großen Feuilletons wieder an. Was wir wahrnehmen und was hier zur Sprache kam, geht durcheinander. Wir pendeln hier zwischen den Begriffsdefinitionen. Es gibt Marketing, es gibt PR und es gibt Pressearbeit. Was Anke Zindler und Frau Fendel machen, das ist Pressearbeit. Die Bedingungen, denen die Leute hier auf dem Podium ausgesetzt sind, entsprechen der Pressearbeit. Die bis vor rund fünf Jahren gültige Regel, dass ein Zuschauer drei qualifizierte Kontakte braucht, um sich überhaupt ernsthaft für einen Film zu interessieren, dreht sich dummerweise gerade um. Da ist unser Medienwissenschaftler gefragt, uns das zu erklären. Ich habe den Eindruck, dass die Leute sich heutzutage einen Film nur noch ansehen, wenn sie sich selbst einen Eindruck verschafft haben. Die Webseiten werden extrem häufiger genutzt. Die Leute gucken sich Trailer und Filmausschnitte an und überprüfen die Kritiken. Oder sie überprüfen das, was wir ihnen erzählen, was dieser Film darstellen soll. Sie trauen uns allen nicht mehr, ganz egal, auf welcher Ebene wir arbeiten und vermitteln.

Gregor Schwering: Es geht gar nicht um Vertrauen oder Unvertrauen, es geht eigentlich darum, dass der Film ein Medium ist. Die Leute gehen ins Kino und wissen, was sie erwartet. Man muss sie nicht mehr aufklären. Sie wissen ganz genau, kommt ein Film so und so daher, gehört er dem und dem Genre an, dann erwartet mich ungefähr der und der Plot. Es gibt ein paar Hybride, die kennt man dann irgendwann auch. Wie gesagt, selbst die Leute, die in Spiderman 3 gehen, haben eine eigene Filmtheorie. Es ist natürlich keine elaborierte Filmtheorie ä la Christian Metz, aber es ist eine genaue Erwartungshaltung, die auch theoretisch in dem Sinne ist, dass es den naiven Zuschauer, der einfach ins Kino stolpert, nicht mehr gibt. Weil der Zuschauer sich auch ganz gut selbst informieren kann, braucht er vielleicht gar keinen Kritiker mehr.

Heike Melba Fendel: Es ist doch genau das Ergebnis von Marketing, dass eine solche Erwartungs­haltung entsteht. Das nennt man High-Concept-Marketing, dass man den Film, den man zu sehen gedenkt, schon vorher gesehen hat.

Gregor Schwering: Heute kann man tatsächlich – in Grenzen natürlich – von einem kompetenten Nutzer sprechen, der mehr weiß, als sich viele vorstellen können.

Heike Melba Fendel: Woher weiß er das denn?

Gregor Schwering: Ich habe einen achtjährigen Sohn – ich will gar nicht wissen, wie oft der schon im Kino war und das hat sich natürlich alles bereits sedimentiert. Mit acht Jahren war ich noch nicht im Kino. Also die Leute werden immer jünger und deswegen muss man annehmen, dass sie wissen, wo sie hingehen, wenn sie ins Kino gehen.

Einwurf aus dem Publikum: Sie wissen es unter anderem deshalb, weil es gerade im Boulevardbereich in den entsprechenden TV-Magazinen, meist in den People-Geschichten eine Präformierung gibt. Das was Sie als Sediment begreifen, ist vielleicht nicht absichtlich, aber aus Gründen der Vermarktung über Jahrzehnte tradierte Geschichte. Es gibt Vorinformationen ohne Ende. Wenn wir über Filmkritik reden, dann darf man bei allem Respekt nicht über den Boulevard reden. Der Boulevard hat den Daumen rauf und runter. Er liefert Dreizeiler und hängt ganz eng am Marketing-Apparat. Natürlich macht das der Spiegel zuweilen auch. Was das mit Filmkritik in jenem Sinn zu tun haben soll, über die wir hier reden, weiß ich nicht. Filmkritik ist ein Teil der intellektuellen Debatte. Ich gehe in viele Filme, weil sie verrissen worden sind, weil mich interessiert, was der Kritiker da gefunden hat. Filmkritik ist Teil der Kunst.

Auf Augenhöhe

Andres Veiel: Ich möchte als wichtiges Stichwort der Debatte den Begriff der Transparenz festhal­ten. Ich hatte eingangs die Grauzonen geschildert, wo das Vertrauen in die Filmkritik zumindest gefährdet ist. Es gibt ja Filmkritikkollegen, die Pressehefte schreiben und trotzdem auch Kritiken zum selben Film. Da sind bestimmte Abhängigkeiten, die nicht offen reflektiert werden. Es ist wichtig im Sinne des Vertrauens, dass solche Dinge klar gestellt werden, dass es eine freiwillige Verpflichtung gibt. Kritiker, die sich Geld dazu verdienen, was ja ihr gutes Recht ist, und Pressehefte schreiben und in dieser oder jener Form für Produzenten oder Verleiher tätig sind, sollten dann nicht auch noch als Kritiker tätig sein.
Ein zweiter Punkt: Wenn ich vor allem jünge­re Leute frage, warum sie gerade in diesen Film gekommen sind, dann ist es in der Tat nicht der publizistische Service, sondern es sind Blogs, andere Kanäle, die Leute auf Filme aufmerksam machen. Wichtig erscheint mir, dass Filmkritik wieder in Debatten eingreift. Das kann sie am wirkungsvollsten und am besten, wenn sie ein leidenschaftliches Plädoyer ist, indem sie das ei­gene Urteil transparent macht in seiner eigenen Gewordenheit. Es müsste klarmachen, dass das Urteil vom Zuschauer selbst gefällt werden kann, wenn er in den Film geht. Früher gab es zum Bei­spiel häufiger verschiedene Positionen, ein Pro und Contra. Anlässlich von Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Hitler hat die Entgegnung von Dani Levy auf einige Filmkritiken ja auch eine Debatte in Gang gebracht. Ich glaube, dass wir solche Debatten brauchen. Noch ein letztes Wort zur Filmakademie: Dort haben Debatten bislang nicht stattgefunden. Es ist aber notwendig, dass wir sie verstärkt führen, auch kontrovers. Wir sollten aushalten – das sage ich ausdrücklich als Filmemacher – dass Kritiken auch unfair sind. Wir sollten nicht zum Chefredakteur gehen, sondern vielleicht zum Kritiker selbst und auf Augenhöhe sagen: Ich möchte gern mit dir in eine Auseinandersetzung treten.

Ulrich Greiner: Ich mache mir Sorgen über die Zukunft der klassischen Zeitungskritik. Ich kann mir nur wünschen, dass es sie noch lange gibt. Dazu kann die PR beitragen, weil sie – ich rede aus­drücklich nicht von den Anwesenden – natürlich auch manchmal die Sitten verdirbt. Ich kenne das aus der Buchbranche ziemlich gut und ich habe das Gefühl, das gibt es in der Filmbranche auch. Wenn die PR mit Journalisten so umgeht wie sie es gelegentlich tut, dann untergräbt sie eigentlich ihre eigene Existenz. Was das Rennen um die erste Kritik betrifft: Die Zeitungen setzen es nicht von allein in Gang, es sind ja auch die PR-Agenturen, die das steuern. Ich weiß aus der Buchbranche, dass bestimmte Fahnen und Vorausexemplare nicht allen Redaktionen zugänglich gemacht werden, sondern bestimmten. Wenn die bestimmte Redaktion das Lob dann vorzeitig veröffentlicht – durchaus auch schon mal sechs Wochen vor Termin – zieht der Verlag die Auslieferung einfach vor. Solche Sitten können eigentlich allen nur schaden, ich wünsche mir, dass das aufhört.

Heike Melba Fendel: Ich wünsche mir die Erhaltung der Kritik, ihre lebendige Fortführung, weil es für bestimmte Filme überlebenswichtig ist, in dieser Form besprochen zu werden. Ich bin auch ein Anhänger der intellektuellen Debatte, in der sich Meinungen messen, die unabhängig von ihrem Zweck existieren sollen, einfach um Filme im Detail zu untersuchen, auch um ansteckende Be­geisterung oder Ablehnung zu verbreiten.

Jan Schulz-Ojala: Ich wünsche mir von der PR-Seite oder den Pressearbeitern Zurückhaltung, weder Lob noch Tadel. Ich würde vorsichtig optimistisch sagen, dass Filmkritik, wenn sie diesen Namen verdient, sich immer an eine Minderheit richtet und dass es diese Minderheit, die sich dafür interessiert, immer geben wird.

Rüdiger Suchsland: Ich wünsche mir, dass wir als Filmkritiker nicht als Marketing-Agenten gesehen werden. Ich wünsche mir mehr Streitkultur, das heißt auch Bereitschaft zur Auseinandersetzung, nicht so schnelles Beleidigtsein. Man müsste Debatten auch nach dem Start von Filmen mehr reflektieren können, auch öffentlich. Dafür sollten die Redakteure Platz geben.

Günter Rohrbach: Ich glaube, dass die Filmkritik eine bedrohte Spezies ist, aber der Film ist es auch. Vor einiger Zeit stand in Le Monde ein sehr resignativer Artikel über das Ende der Cinephilie – immerhin in einem Land wie Frankreich, in dem die Filmkultur viel intensiver geschützt ist als bei uns. Ich war sehr enttäuscht über die Art, wie die Kritiker auf meinen Artikel reagiert haben. Ich verstehe zwar, dass man sich über gewisse polemische Formulierungen ärgert, aber wenn wir so empfindlich wären, würden wir längst nicht mehr existieren. Die Kritiker müssen auch in der Lage sein, sich mit einer solchen Sache auseinanderzusetzen, ohne dass sie den Schreiber einer solchen Anmahnung mit allen möglichen Dingen verdächtigen. Ich denke doch, dass wir miteinander ein gemeinsames Interesse haben, auch wenn Herr Greiner überspitzt formuliert hat, dass wir uns beide nicht nötig haben. Im wirklichen Leben starten jede Woche etwa zwölf bis fünfzehn Filme und die haben keine Chance, wenn sie nicht ein Minimum an Aufmerksamkeit gewinnen. Diese Aufmerksamkeit können sie auf sehr unterschiedliche Weise erhalten, es wird sehr viel Geld ausgegeben, sie zu erzeugen. Ein Mittel ist nun mal die Kritik, deswegen ist sie für uns wichtig. Ich argumentiere natürlich immer interessengesteuert, das will ich gar nicht leugnen, als Filmproduzent wünscht man sich eine lebendige Kritik und nicht eine tote.

Rainer Rother: Aus der Diskussion ist sehr deutlich geworden, dass diejenigen, die ihre Positionen und Interessen vertreten haben, keinesfalls dasselbe wollen. Immerhin verbindet uns etwas Ähnliches, nämlich die Tatsache, dass wir den Film lieben.

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