Bruchstücke, Fragmente und Reflektionen zum Motiv des „Spiegels“ im Kino
Von Günter H. Jekubzik
Im riesigen Spiegelsee lassen sich plane, konkave oder konvexe Spiegel erkennen. Zerbrochene, gesprungene, gefleckte oder blinde verweisen auf symbolische Schichten. Nach den ersten Metallspiegeln vor mehr als 5000 Jahren, entstanden im Mittelalter vor allem konvexe Spiegel aus Glas, bevor im 14.Jahrhundert die Venezianischen Spiegel wertvolles Exportgut der Lagunenstadt wurden: Erstmals zeigten plane Spiegel in nie gekannter Größe und Reinheit das Abbild der wenigen reichen Besitzer.
Im Prinzip ist der Spiegel älter als die Menschheitsgeschichte. Der Übergang vom Naturphänomen zum Kult(ur)gegenstand muss eng mit der Entwicklung des menschlichen (Selbst-) Bewusstseins verbunden sein. In der Vergangenheit war der erste Schritt zum jetzigen Menschen vielleicht ein Blick. Dann hätten die Spiegel einen ebenso großen Anteil an seiner Entwicklung wie die Sprache. Nicht zufällig reflektiert der Mensch, wenn er denkt. Die Selbsterkenntnis von Kindern findet zuerst im Spiegel (Spiegelstadium nach Lacan), dann im Foto und zuletzt im Film statt – auch eine Mediengeschichte.
Entfremdung im Spiegel
Im 20.Jahrhundert ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst im Spiegel längst gebrochen. Die heutige Film-Welt zeigt ein aggressives Verhältnis des Subjekts zu seinem Selbstbild: Spiegeloberflächen werden bespuckt, mit den Inhalten unzähliger Gläser bespritzt, zertrümmert, bevor sie zersplittert dann höhnisch noch mehr Abbilder bieten. Der Taxi Driver (Regie: Martin Scorsese, USA 1975) Robert De Niro/Travis Bickle schnauzt in seinem zum Kult gewordenen Monolog „Are you talkin‘ to me?“ in den Ankleidespiegel und richtet die Waffe auf – ja, auf wen? Auf sich? Das bedeutete Selbsthass, einen Wunsch nach Selbstzerstörung, der sich letztendlich auch erfüllt. Oder zielt die hasserfüllte Tirade des Psychopathen doch in die Kamera? Der Schuss und die Gewalt gehen in der Folge nach außen, richten ein Schlachtfeld an, dass auch die Zuschauer trifft. Auf sie war die Waffe auch am Ende der Spiegelsequenz gerichtet, die Kamera und wir Zuschauer hatten die Position des Spiegels und des Ebenbildes von Bickle angenommen.
Der Tod im Spiegel (Shattered, Regie: Wolfgang Petersen, USA 1991) schließt oft Täuschungen ein, dem Spiegel wurde zwar schon immer angedichtet, die Wahrheit zu sagen („Spieglein, Spieglein an der Wand“) und doch ein Medium der Falschheit zu sein: Bei der Heimkehr nach langer Krankheit sieht Dan Merrick (Tom Berrenger) „sich“ im Spiegel. Ein Flashback setzt ein, das Glas der Windschutzscheibe eines Unfallwagens zersplittert erneut in Zeitlupe. Zurück in der Gegenwart zerschlägt Merrick den Spiegel mit seiner Krücke. Im Verlauf des Films wird klar, weshalb Dan sich hasst – einst war er Dans Partner Jeb und wurde nur durch kosmetische Operationen zu seinem ermordeten Rivalen.
Der jüdische Antisemit Weininger zerschlägt in Weiningers Nacht (Regie: Paulus Manker nach seiner eigenen Inszenierung des gleichnamigen Sobol-Stücks, Österreich/BRD 1989) seinen Kopf – im Spiegel. Der Sprung im Bild wiederholt sich in Weiningers zerbrochenem Brillenglas, dann in mehreren Figuren, die alle Weiniger spielen und spiegeln: Facettenreiche Symbolisierungen von Persönlichkeitsspaltungen, für die sich gebrochene Spiegel besonders eignen.
Alles hinter den Spiegeln
„Die Spiegel sind die Türen, durch die der Tod aus und ein geht. Sagen Sie es niemandem. Im Übrigen brauchen Sie sich nur ein Leben lang im Spiegel zu betrachten, um den Tod bei der Arbeit zu sehen wie Bienen in einem gläsernen Korb.“ (Jean Cocteau)
Wenn der Blick nicht auf der Spiegeloberfläche verharrt, wenn er in seine Tiefen eintaucht, eröffnet sich ein Durchgang. Wird auf die Spiegelfläche fokussiert (der fotografische Vorgang gibt dies genau wieder), bleibt der Rahmen leer. Erst wenn der Blick in den virtuellen Raum, in die „Unbetretbarkeit“ (Rilke) eindringt, eröffnet sich die Welt der Doppelung oder eine Gegenwelt. Denn diese Fläche spiegelt nicht als Vertrauter ‚wieder‘ – sie ‚wider‘-spiegelt als Gegner.
Im Spiegelland von Lewis Carrolls Roman „Alice hinter den Spiegeln“ (1872) muss Alice rückwärts gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Auch Jean Cocteau, der sich filmisch mehrmals durch die Spiegel wagte, muss sich in der surrealen Umgebung seines ersten Besuchs der Gegenwelt (Le sang d’un poète/Das Blut eines Dichters, Regie: Jean Cocteau, Frankreich 1931) völlig neu orientieren. Später, als Orphée (Regie: Jean Cocteau, Frankreich 1949) mit Gummihandschuhen durch den Spiegel geht, ist aus dem reichen Angebot an Verrücktheiten ein Totenreich geworden. Die Liebe ermöglicht den Rückweg. Der Prince of Darkness (Die Fürsten der Dunkelheit, Regie: John Carpenter, USA 1987) auf der anderen Seite eines Horror-Spiegels aus Licht, das für Übersinnliches steht, lässt wie auch der Candyman (Candymans Fluch, Regie: Bernard Rose, USA 1992) nur mit viel Gewalt und Blut seine Opfer auf die Seite der Lebenden zurückkehren.
Meisterliche Spiegelungen
„Sirk hat gesagt, man kann nicht Filme über etwas machen, man kann nur Filme mit etwas machen, mit Menschen, mit Licht, mit Blumen, mit Spiegeln, mit Blut, eben mit all diesen wahnsinnigen Sachen, für die es sich lohnt.“ (Rainer Werner Fassbinder)
Ein Spiegel kann im Film ganz einfach ein Spiegel sein. Ohne dass seinen Reflexionen ein besonderer Wert zukommt, funktioniert er als Requisit, als Abglanz von Luxus. Seine Konnotationen charakterisieren Bordelle, Bars, Frisiersalons, Spionagesituationen. Oft geht inszenatorische Einfallslosigkeit mit leeren Spiegeln einher. Regisseure mit eigenwilligen Stilen vollbrachten dagegen wunderbare Kunststücke: Max Ophüls, Orson Welles, Terry Gilliam (zuletzt in The Brothers Grimm, Tschechien, USA 2005). Vor allem Regisseure, die leidenschaftlich dem Melodram nachhängen, setzen kunstvoll Spiegel ein: Fassbinder, Kümmel, Almodovar … Hängt das vom Genre ab oder von der Verehrung für ihren Melodram-Meister Douglas Sirk?
F.W. Murnau setzte in seinem Faust (Deutschland 1926) die Widerspiegelungen von Alter, Jugend und Tod Faustens noch mit Überblendungen um. Die Parabel vom versilberten Glas, das den Reichen nur noch sich selber sehen lässt, zeigt Der Dybbuk (Der Dibbuk, Regie: Michal Waszynski, Polen 1937) lichttechnisch sehr holperig. Murnaus Nosferatu (Deutschland 1921) taucht noch im Spiegel auf, während Polanski den Tanz der Vampire (The Vampire Killers, GB/USA 1966) trickreich beherrschte und die seelenlosen Nachtwesen mythengetreu ohne Reflektionen auf Zelluloid abbildete.
Neben dem indirekten Dialog oder dem Blick über den Spiegel, der die Sprechenden distanziert, ihr Verhältnis an einem kalten Spiegelantlitz bricht, ist das Nebeneinander von Gegenüberliegendem ein populärer Spiegelstandard. Ein besonders schönes Beispiel zeigte Die bleierne Zeit (Regie: Margarethe von Trotta, BRD 1981). Eine dicke Glasscheibe trennt die Journalistin im Gespräch von ihrer Schwester, einer inhaftierten Terroristin. Doch das teils durchsichtige, teils spiegelnde Panzerglas legt auch beide Gesichter übereinander. Für Sekunden scheinen die Schwestern mit den ähnlichen Einstellungen sich zu vereinen, bevor die Täuschung, von der Journalistin als optische Irritation empfunden, auseinander fällt und zur Enttäuschung wird. Die beiden Wege im Deutschen Herbst bleiben unterschiedlich. Diese – in der Literatur unmögliche – Gleichzeitigkeit überbrückt Distanz, ermöglicht vorausahnende Berührungen trotz momentaner Entfernung. Ernst Lubitsch brachte bei Trouble in Paradise (USA 1932) sein Ganovenpärchen mit Spiegel und Schatten ins Bett, legte so die strengen Zensurbestimmungen der amerikanischen Filmindustrie rein.
Vorsicht Spiegel!
Der Spiegel erweist sich bei Filmaufnahmen nicht nur als reizvoller, sondern auch als gefährlicher Gegenstand. Immer wieder zeigt er ungewollte Reflexionen der Aufnahmeapparatur. In einigen Fällen, vor allem im Dokumentarbereich, könnte es beabsichtigt sein. Formal ähnlich wie im berühmten Gemälde „Las Meninas“ (1656) von Velazquez bringen sich die Aufzeichnenden in God’s Country (Gottes eigenes Land, Regie: Louis Malle, 1979-85) selbst ins Bild, um nach drei Jahrhunderten wieder den angeblichen Abbildcharakter ihres Mediums zu problematisieren. Dagegen erweisen sich schwarz glänzende Autos, spiegelnde Schaufensterscheiben oder Ritterrüstungen als ideale Flächen, um eine unfreiwillige Umkehrung des Blicks auf die Produktionsseite zu leisten. Wenn der Taxi Driver bei seinen Fahrten in die Schaufenster blickt, sehen wir in den schwachen Spiegelflächen seiner Perspektive kein gelbes Taxi, sondern einen Rollwagen mit Kamera und Filmteam. Bei einem sehr privaten Treffen König Arturs in Excalibur (Regie: John Boorman, USA/GB 1981) offenbart seine glänzende Rüstung die Anwesenheit eines Mannes, der einen Mikrophongalgen hält. Mikrophone und Spiegel sind die Spitzenreiter solcher kleiner Neben-Ereignisse – Goofs – abseits der zentrierenden Handlungen.
Auch auf andere Art ist die Filmarbeit mit Spiegeln gefährlich: Beim Drehen der Anfangsszene zu Apocalypse Now (USA 1979) ermahnte Regisseur Francis Ford Coppola die Drehteams, auf den Spiegel im Raum zu achten. Die Aufnahme gelang ohne unfreiwillige Reflexionen, nur der angetrunkene Hauptdarsteller Martin Sheen schlägt bei seinem Kampf-Tanz mit der Faust in den Spiegel. Ein nicht geplanter, aber passender Anfall von Selbsthass der Figur (oder des Schauspielers?), der in den Film übernommen wurde, da Sheen im Spielrausch die blutende Hand und den Schreck des Teams nicht bemerkte.
Das virtuelle Spiegel-Bild zeigt im Film reale und irreale Abbilder. Das Irreale kann dabei im Abbild die Wahrheit freilegen, die vom Angesicht des Bildes verhüllt wird. Unmenschen wie Stephen Kings Sleepwalker (Schlafwandler, Regie: Mick Garris, USA 1992) oder Vampire entdeckt der Spiegel. Im Bereich des Irrealen öffnen sich hinter den Spiegelflächen neue Welten. Auch im Realen schaffen großflächige Spiegel neue Räume, sie verdoppeln bereits Vorhandenes und ergänzen sich mit dem kinematographischen Grundprinzip, filmische Räume (und Zeiten) zu inszenieren. Wenn feste Regeln zur Illusion räumlicher Kontinuität nicht eingehalten werden, entsteht eine Desorientierung, die ebenfalls hervorragend von Spiegeln verstärkt werden kann (L’année dernière à Marienbad/Letztes Jahr in Marienbad, Regie: Alain Resnais, Frankreich/Italien 1960). Am größten ist diese Täuschung im Spiegelkabinett, einem klassischen Topos des Films. Angefangen bei der verwirrenden Verfolgungsjagd in Charlie Chaplins Circus (Der Zirkus, USA 1927) bis zu Orson Welles The Lady from Shanghai (Die Lady von Shanghai, USA 1946). Dieses berühmteste Spiegelkabinett der Filmgeschichte vervielfältigt die Aspekte der Personen, erzeugt unzählige Facetten der verlogenen Figuren, unter denen eine Realität nicht mehr auffindbar ist. Auch Woody Allen versteckt sich vor dem Mörder erst in Schatten und Nebel (Shadows and Fog, Regie: Woody Allen, USA 1992), dann im Spiegelkabinett. Der Dialog eröffnet dabei die Kunst- und Scheinwelt als Fluchtmöglichkeit. In diesem Sinne bieten sich auch immer wieder Spiegel in Literatur und Film für kreative Künstler an: Eine technische und poetische Erweiterung von Raum und Fantasie.
*(Empfohlene musikalische Begleitung: Arvo Pärts „Spiegel im Spiegel“ auf dem Album „Alina“. Auch eine sehr beliebte Filmmusik, siehe Gerry, Swept Away, Depuis qu’Otar est parti …)
Günter H. Jekubzik
© VdFk 2006