Notizen zum Kino 1: Filmkritik in Deutschland

Von der Brücke hinunter in den Fluss spucken oder
Gesellschaftskritik von Rang?
von Josef Schnelle

 

Als ich zum ersten Mal jemanden erzählte, ich sei Filmkritiker, wurde ich ungläubig gefragt: "Und davon kann man leben?" Die Frage ist heute aktueller denn je. Abgesehen von einer Handvoll fest angestellter Redakteure mit Schwerpunkt Filmkritik bei den großen Zeitungen kann tatsächlich kaum jemand allein von der Filmkritik leben. Viele Filmzeitschriften und neuerdings Internetseiten mit Filmkritiken sind im Grunde reine Liebhaberprojekte. Die professionellen Veröffentlichungsmöglichkeiten bei Zeitungen, Radiosendern und Fernsehanstalten sind in den letzten Jahren dramatisch zurück gegangen. Die Honorare hingegen sind kaum gestiegen. Es gehört also immer schon eine große Portion Leidenschaft für den Film dazu, wenn man sich der Filmkritik widmet.

Die ökonomische Seite ist weniger aufregend. Die meisten Filmkritiker leben von der Hand in den Mund. Sie schreiben sich aber nicht nur die Finger wund. Manche arbeiten auch noch für Filmfestivals. Sie suchen Filme aus, leiten Podiumsdiskussionen und produzieren Festivalkataloge. Andere sind für Filmmuseen oder im akademischen Bereich tätig. Schließlich gibt es noch diejenigen, die mehr oder weniger offen für Filmverleiher Pressehefte schreiben. Können die dann noch kritisch sein? Das ist eine der Diskussionen, die der Verband der deutschen Filmkritik (VdFk) – mit rund 300 Mitgliedern der größte nationale Zusammenschluss von Filmkritikern innerhalb der internationalen Dachorganisation FIPRESCI – immer wieder führt. Es gibt kaum eine Berufsgruppe, die so gerne ihr Selbstverständnis diskutiert wie die Filmkritiker. Das kann man in 35 Aktenordnern unserer Vereinsgeschichte nachlesen (lohnendes Material für mindestens eine Magisterarbeit). Der VdFk existiert unter dem Namen Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten schon seit den 1950er-Jahren, vergibt seither den "Preis der deutschen Filmkritik" und setzt sich in Seminaren mit Filmkritik und -politik, aber auch mit dem Verhältnis zu anderen Film-Berufsgruppen auseinander.

Zwischen Berufsstandsvertretung gegenüber Filminstitutionen und politischen Gremien und einer quasi gewerkschaftlichen Interessenvertretung gegenüber Publikationsmedien, aber auch den Kinobesitzern und Verleihern, sucht der Verband nach seinem Standort. Manche von uns würden den Verband auch gerne als eine Art "Kampfverband für den Autorenfilm" sehen. Ist Filmkritik eine eigenständige literarische Gattung, reiner Service oder gar Gesellschaftskritik von Rang, wie Siegfried Kracauer sie verstanden wissen wollte? Ist Filmkritik mächtig? Kann sie die Karriere eines Films tatsächlich beeinflussen, wie es die Filmemacher und Produzenten nach schlechten Kritiken immer behaupten? Sitzen wir alle in einem Boot? Die Filmemacher und die Kritiker? Diese und andere Fragen werden uns weiter beschäftigen. Nicht nur deswegen haben wir die Anregung gerne aufgegriffen, im „Lexikon des internationalen Films" für das Filmjahr 2004 erstmals einen eigenen geschlossenen Teil mit Texten unserer Mitglieder zu veröffentlichen. Wir möchten, dass eine Tradition daraus wird. Es besteht nicht der Anspruch, das vergangene Filmjahr in allen seinen Aspekten abzubilden – also kein Vollständigkeitsanspruch. Es handelt sich schließlich um Autorentexte und nicht um Verlautbarungen. Aber es ist eine gute Gelegenheit, Tendenzen in der Weltkinematografie, medienpolitische Entwicklungen und Zukunftsperspektiven des Films darzustellen.

Josef Schnelle
© VdFk 2005

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