Durchlauferhitzer
Zur Lage der Filmkritik in Deutschland
Von Claudia Lenssen
Wunderbar, schon vormittags ins Kino zu gehen! Aber kann man denn davon leben? Wer den Beruf des Filmkritikers in Deutschland ausübt, bekommt die gegensätzlichen Kommentare, die neidvollen und die abschätzig mitfühlenden, fast in einem Atemzug zu hören.
Diese Arbeit ist von einem gewissen Nimbus umschmeichelt, einer Vorstellung luxurierender Bohème. Besteht der Alltag von Filmkritikern nicht aus dem Stoff, der für den Rest der Welt mit Freizeit, Unterhaltung und urbanem Lebensgefühl verbunden ist? In Zeiten einer neuen Klassenteilung, in der die einen keine Arbeit haben und die anderen zu viel, ist der Mythos der Kombination von Spaß und Job von besonderem Reiz.
Die Frage nach der Auskömmlichkeit aber, der realistischen Kehrseite des Mythos, wird freiberuflichen Filmkritikern in den letzten Jahren häufiger gestellt, obwohl sie zu allen Zeiten auf der Tagesordnung war. Sie zeigt, wie schlecht es um das Image dieses Fachs bestellt ist, kommt jedoch meist im matten Ton resigniert klagenden Small-Talks daher. Seit viele Journalisten im Zug der Medienkrise kurz nach der Jahrtausendwende ihre Festanstellungen verloren haben und sich als Freiberufler durchschlagen, gelten Journalisten allgemein als Opfer der neoliberalen Exzesse, Filmkritiker dagegen eher als Borderliner ihrer professionellen Obsession: versponnen genug, sich auf einen rasant verändernden Markt zu spezialisieren, seit den jüngsten Entlassungswellen ohne rechte Aussicht auf Pauschalistenverträge oder eine der seltenen Redakteursstellen, die von den Medien für Filmkritik und Filmjournalismus vorgesehen sind.
Wenn Filmkritik keine Startpositionen für ruhmreiche Journalistenkarrieren bereit hält, meist nicht einmal die Existenzsicherung garantiert, dann müsste sie eigentlich im Verschwinden begriffen sein. Besucht man jedoch Pressevorführungen, die von den Filmverleihern vor dem Start ihrer Filme organisiert werden, kann von aussterbenden Einzelexemplaren keine Rede sein. Es versammeln sich so viele Gäste aus den Verteilern der lokalen Presseagenten, dass man der Zunft eigentlich gute Zukunftschancen einräumen möchte. Bei Blockbustern sind die großen Säle voll, bei schmal budgetierten, anspruchsvollen Filmen die kleinen Säle zur Hälfte. Es scheint, als gäben die Adressenkarteien der Pressebüros, die Vorabvorführungen organisieren, einen Spiegel für das vom Verleih und seinem Marketing anvisierte Zielpublikum ab.
Immer mehr Öffentlichkeitsvertreter drängen in die Pressevorführungen, fahren zu Festivals, legitimieren auf irgendeine Weise ihre Presseausweise. Medienauftritte zum Start von (marktbeherrschenden) Filmen haben deutlich zugenommen. Insgesamt ist die Aufmerksamkeit fürs Kino gewachsen im Vergleich zum Feuilleton alten Zuschnitts, aber unter den bevorzugten journalistischen Produkten – Programmtipps, Kurzkritiken, Starinterviews und anderes mehr – gerät die Filmkritik zunehmend in die Nische. Die Berufsbilder, Arbeitsbedingungen, Abhängigkeiten und Marktchancen verändern sich. Um das 80 Jahre alte Diktum des großen Paten Siegfried Kracauer auf die neuen Verhältnisse umzumünzen: Der Filmkritiker von (materiellem) Gewicht ist heute nur als flexibler Medienarbeiter denkbar.
Stiefkind Filmkritik – eine alte Geschichte
Ist Filmkritik ein Fossil? Funktioniert sie nur noch als fremdbestimmtes Rädchen der Marketingmaschine? Verbietet sich angesichts des beschriebenen Verdrängungswettbewerbs die Frage nach Positionen, Selbstverständnis und Funktion? Ein Blick zurück macht deutlich, dass viele Widersprüche schon seit ihren Anfängen existierten.
Filmkritik entstand zu einer Zeit, in der die Printmedien als Industrie bereits hoch ausdifferenziert waren und ihre Macht politisch und ideologisch einzusetzen wussten. Als die Massenerfolge des neuen Mediums nicht mehr zu übersehen waren, ging es darum, das Kino in die eigene strategische Ausrichtung zu integrieren. Filmkritik begann am Anfang der Weimarer Republik in Deutschland sich als journalistisches Genre zu profilieren. Damals bauten Architekten gigantische Kinopaläste, verfilmten Theaterregisseure die Klassiker, faszinierten expressionistische Formexperimente im Film die Künstler und Intellektuellen; kurz: neue Schichten entdeckten das Kino.
Die ersten Filmkritiker waren Liebhaber oder Verächter. Ihre Gegenstände hatten den Beigeschmack des "Kintopp", gehörten, wollte man den Vergleich ziehen, zu Trash, Pop und Avantgarde einer Republik im Umbruch.Die alten kulturellen Rangordnungen galten nicht mehr, die neuen wurden angefeindet.
Der Filmkritik mangelte es an Prestige, was folglich zu kompensieren war. Als jüngstes Kritikgenre besaß die Filmkritik nicht die über 100-jährige Tradition der veröffentlichten Meinungen zu Theater, Kunst, Musik und Literatur, borgte sich jedoch von den älteren Feuilletonsparten die Perspektive und den Schreibgestus. Man inventarisierte, resümierte, beurteilte. Was zu Zeiten von Goethe und Schiller noch die Lieblingsbeschäftigung eines frei räsonierenden Kunstpublikums gewesen und danach mit der erkämpften bürgerlichen Pressefreiheit zur Expertenfrage unter angesehenen Kunstrichter-Kritikern geworden war, wurde auf das neue Medium übertragen. Es ging zumeist ums Vorsortieren und Qualifizieren, ums Einordnen ins Raster des Bekannten. Ungeübt im Übersetzen von visuellen Vorgängen in strukturierte Texte, zogen sich die ersten Kritiker nur zu oft aufs Herunterbeten der Geschichte zurück, die sie auf der Leinwand zu erkennen glaubten.
Widersprüche, die heute an der Tagesordnung sind, existierten von Beginn an: Filmkritikern haftete in den Feuilletonredaktionen und Chefetagen der Hautgout des Trivialen an. Die Geringschätzung gegenüber der "Afterkunst" Film übertrug sich auf die Schreiber, die dem Dilemma im schlechten Fall mit herablassenden Beurteilungen, im Guten mit leidenschaftlichen Plädoyers beizukommen versuchten. Filmkritik war von Anfang an Service, indem sie dem lesenden Publikum (das in großer Zahl auch unter den Arbeitern zu finden war und von einer starken Presse bedient wurde) überhaupt den Weg zum neuen Medienereignis Kino wies. Sie war von Anfang an Versuchen ausgesetzt, als Marketinginstrument, auch im politisch-ideologischen Sinn, manipuliert zu werden. Und ihr Schwerpunkt lag zum größten Teil in der aktuellen Tageskritik, die dem Vorwurf der Oberflächlichkeit bzw. Verkürzung selten entkommt.
Filmkritik entstand aus der Lokalberichterstattung zum neuen Wunderding Kino. Früh sschon schrieb sie gegen konkurrierende Einflüsse an. Der Druck der Anzeigenkäufe von Kinobetreibern, Verleihern und Produzenten lastete auf ihrem Anspruch der subjektiven Meinungsfreiheit, ein Druck, der auch andere Kritiksparten betraf, aber in der expandierenden Filmindustrie zuweilen mit Wildwestmethoden betrieben wurde. Genauso wie heute standen Filmkritiker auch damals vor der Wahl, im Feuilleton "seriös" zu schreiben oder zu den vielen Illustrierten, Mode- und Gesellschaftszeitschriften jener Zeit zu wechseln, ohne deren Fotos und Home-Stories die Entstehung des Starwesens nicht zu denken wäre.
Bela Balázs, einer der ersten Filmkritiker und -theoretiker, verlor seine Stelle bei der Wiener Zeitung Der Tag, weil seine Kritiken dem Werbeeffekt der Anzeigen eines mächtigen Filmtheaterbetreibers widersprachen. Siegfried Kracauer, damals Kritiker bei der Frankfurter Zeitung, begriff solche populären Erlebnisangebote der 1920er-Jahre als Zeichen einer neuen Urbanen "Angestelltenkultur".Filmkritiker in der Rolle von Experten, als namentlich zeichnende Feuilletonautoren, erreichten eine neue Wertschätzung für das Kino, eine Würdigung als "Kunst", verbürgt durch Autoritätspersonen. Mit Hilfe der Kritik hinterließ das Kino, im Alltagsgeschäft eine hoch entzündliche, schnell zerstörbare Ware, Spuren in der Geschichte. Wenn von frühen Filmen weder Kopien, Fotos, Zensurdokumente erhalten sind, beweisen nachgelassene Kritiken ihre Existenz. Sie spiegeln zudem wider, woran sich die Aufmerksamkeit damals heftete, wie Kritiker ihre Wahrnehmung und Erinnerung in Sprachbilder übersetzten, welche Denkmuster ihre ästhetischen Urteile prägten.
Kritik war die Chronik der laufenden Ereignisse, geschrieben nach dem Besuch der ersten Vormittagsvorstellung für die Zeitung vom nächsten Tag. Zugleich war sie mehr: Bela Balázs, Siegfried Kracauer, Rudolf Arnheim, Lotte Eisner und andere verfassten filmtheoretische Bücher (einige davon aus dem Antrieb, im erzwungenen Exil später eine systematisierende Rückschau auf die Kultur der Weimarer Republik zu halten). Zum Teil fußen ihre Schriften bis in wörtliche Formulierungen hinein auf ihren einstigen Tageskritiken.
So ist an diesen frühen Beispielen zu sehen, wie sich Filmkultur bis in die wissenschaftlich betriebene Filmgeschichte hinein eben auch aus der Filmkritik speist. Ihr Serienprinzip spiegelt die Konjunktur von Kinoereignissen, dokumentiert Chiffren des Zeitgeistes einer Periode.
Die Chance nutzen, die man nicht hat
Es hilft wenig, die schwierige Situation der Filmkritik heute durch den Hinweis auf ihren möglichen künftigen Quellenwert schön zu reden. Wie sieht das Handwerk aus? Unter einer Filmkritik versteht man im Allgemeinen einen Text zu einem aktuellen Film, der sich durch die namentliche Kennzeichnung als Autorenproduktion, als subjektiver Kommentar zu erkennen gibt. Das griechische "critein", auf das der Begriff Kritik zurückgeht, meint Unterscheiden und schließt im Deutschen so differenzierte Bedeutungen wie Tadel, Beurteilung, Bewertung, Besprechung, aber auch Urteilsvermögen ein. Das aus dem Lateinischen stammende Wort "Rezension" meint dasselbe. Kritiker und Rezensenten prüfen und wägen ab, schätzen ihren Gegenstand zuweilen als gefährlich ein. Filmkritiker besprechen einen Film, indem sie ihr akustisch-visuelles Erlebnis niederschreiben, dabei das Verhältnis von Form und Inhalt würdigen und ihn in größere Zusammenhänge, z. B. Genres, Filmografien, Kunst- und Zeitgeschichte einordnen. Filmkritiker argumentieren, sie begründen ihr gegebenenfalls abschätziges Urteil. Und wie immer ihre Kritik ausfällt, sie formulieren präzise, stilsicher und finden für jedes Längenformat den angemessenen Textaufbau und eine Spannungslinie. Soweit das Schema.
Filmkritiken-Schreiben ist eine kreative Tätigkeit, die sich immer neu auf fremde Bilder und Konzeptionen einlässt und die Herausforderung annimmt, dieses Formerlebnis und seine emotionalen Wirkungen ins Medium Schrift zu übersetzen. So gesehen, ist Filmkritik die "Fortsetzung des Films mit anderen Mitteln", wie die schöne Definition aus dem Umkreis des Kölner Filmredakteurs Helmut Merker sagt. Um gute Kritiken schreiben zu können, und das professionell, ist viel Seherfahrung im Kino notwendig. Die New Yorker Kritikerin Pauline Kael fühlte sich erst in ihrem Element, nachdem sie 4000 Filme als ihren persönlichen Fundus benutzen konnte. Filmhistorische und -theoretische Kenntnisse gehören ebenso zum Handwerk wie zeitgeschichtliches Wissen, Offenheit für fortlaufend erneuerbare Allgemeinbildung und nicht zuletzt ein Quantum Lebenserfahrung. Mit solchem Rüstzeug ausgestattet, kann der – idealtypische – Filmkritiker Texte von eigenständigem Wert schreiben, die sich von der simplen Servicefunktion emanzipieren und nicht nur Entscheidungshilfe für den Kinobesuch bieten wollen, sondern das mögliche Filmerlebnis um eine weitere Dimension, neuen Gesprächsstoff und mehr Assoziationsmöglichkeiten ergänzen.
Es liegt auf der Hand, dass filmkritisches Schreiben Dichte und Präzision nur mit einem bestimmten Arbeitsaufwand erreicht, mit Vorbereitung und permanentem Training des "Schreibmuskels" zusätzlich zum "Minimalaufwand", der Sichtung des zu besprechenden Films. Man kommt nicht ohne ein Zeitbudget für begleitende Lektüre aus und sollte den Aufwand an purer Textarbeit nicht unterschätzen, wenn es gilt, im Schreiben Routine zu vermeiden und spontane Meinungsäußerung durch Analyse zu ersetzen. Doch dieser Standard lässt sich bei der durchschnittlichen Honorierung nicht erreichen.
Filmkritik wird im Stückpreis bezahlt, mit Zeilenhonoraren, die je nach Längenformat zwischen 40 und 300 Euro pro Artikel einbringen. Vorkosten bei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zahlt der Autor. Filmkritik funktioniert im überwiegenden Fall nach dem Prinzip des Outsourcings, bei dem die Auftraggeber für Mehraufwand nur im seltensten Fall eintreten. Ob man lange Anfahrtszeiten zu einer Pressevorführung oder einem Interviewtermin hat, einen Film mit Überlänge bespricht, zusätzlich weitere Filme des gleichen Regisseurs anschaut, spielt bei der Honorierung ebenso wenig eine Rolle wie die Dauer des individuellen Schreibprozesses. Auch Reisen zu Filmfestivals, die Messebesuchen vergleichbar wären und überdies wichtige Schaltstellen für das professionelle Networking darstellen, sind selbst zu finanzieren.
Man muss sich Filmkritik leisten können. Wie zunehmend viele Berufe im tertiären Sektor Kultur ist professionelle Filmkritik eine Frage von Selbstausbeutung. Sieht man von der kleinen Zahl festangestellter Filmredakteure ab, die neben der eigenen Autorentätigkeit über die Platzierung, die Längenformate und Präsentationsform von Filmkritiken entscheiden und ihren Kritikerstamm im Einzelnen beauftragen, dann ist Filmkritik in erster Linie Sache von Freelancern (ein Wort aus dem mittelalterlichen Sprachschatz, das die Söldner bezeichnete, die mit eigenen Lanzen in den Krieg zogen und vom Kriegsherren nicht mehr ausgerüstet werden mussten). Da keine Statistik darüber geführt wird, lässt sich nur spekulieren, dass von rund 80 deutschen Tageszeitungen die Hälfte ein Redaktionsmitglied für Film eingestellt hat, wozu weitere Positionen bei den Wochenzeitungen, der Filmfach- und der Boulevardpresse kommen sowie bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten. Diesen rund 200 Entscheidungsträgern mit gelegentlicher Schreiberfahrung steht ein Heer von rund 2000 freiberuflichen Filmkritikern gegenüber.
Auf Seiten der Auftraggeber haben in den letzten Jahren zudem strukturelle Veränderungen die Ausgangsposition für Filmkritik einschneidend verändert. Im Zuge der Medienkrise und der anschließenden Relaunches vieler Zeitungen wurden die Textmengen radikal reduziert, vor allem die Feuilletons verkleinert. Die neue Generation maßgeblicher Designer zog mehr weiße Flächen und bunte Fotografien dem traditionellen Angebot größerer Texte vor. Die Zeit reduzierte beispielsweise die Textumfänge für Filmkritiken deutlich, während sie ihre Alleinstellung als Deutungsinstanz prägender kultureller Prozesse mit einer Retro-Geste, dem deutlichen Ausbau ihrer Literaturseiten, verteidigen wollte. Die krisengeschüttelte Frankfurter Rundschau reduzierte ihre traditionsreiche Filmkritik im Feuilleton ebenfalls, zahllose andere Beispiele wären zu ergänzen. Längere Essays, die über die Tageskritik hinaus zielen, sind aus den Publikumszeitungen verdrängt, während der systematische Ausbau von personenorientierten Reportage-, Portrait- und Interviewformaten die paradoxe Inszenierung der Sehnsucht nach Authentizität in den Mittelpunkt rückt. Analyse, gar Kritik im negativen Sinn, gerät in der Kulturöffentlichkeit ins Hintertreffen, wenn sie nicht selbst als Polemik, Sensation oder Hype auf Blitzlichter zielt. Die spielerische Variante desselben Vorgangs: Filme werden nicht mehr durch Besprechungen vorgestellt, sondern mit Gewinnspielen um Freikarten beworben.
Derselbe Prozess setzt sich auch in den Sendestrukturen der deutschen Radioanstalten fort. Die Konsequenzen der breiten Streuung von kommerziellen Radio- und Fernsehsendern in Konkurrenz zu den öffentlich-rechtlichen machen sich bemerkbar. Der Kampf um die Aufmerksamkeit eines diffusen, durch seine Macht zum Wegzappen gefürchteten Massenpublikums soll Quote bringen. Kurzweilige, unterhaltsame Sendeformen und Textsorten wurden zur passenden Antwort auf diesen Zugzwang erklärt. Spontan gesprochene Beiträge ersetzen die geschriebenen, Moderatoren geben sich selbstbewusst als unwissende Fragensteller und leiten unter diesem Stern die Plauderei ein.Für Filmkritiker bedeuten diese neuen Programmdesigns spürbare Verluste von Arbeitsmöglichkeiten. Für denselben Aufwand an Filmsichtung lassen sich nun nur noch selten fünf Minuten lange Beiträge verkaufen. Die Fließprogramme der Radiosender verstehen sich zunehmend als Event-Berichterstatter, Tippgeber, Vorkoster.
Wird die freie Wahl der Kritiker, Filme durch ihre Würdigung oder gegebenen falls durch kritische Analyse zum Gesprächsstoff zu erklären, durch die Filter redaktioneller Zwänge eingeschränkt, so steht ihre Arbeit zugleich auch unter dem wachsenden Einfluss der Verleiher. Die Krisensymptome, der scharfe Verdrängungswettbewerb, wirken sich deutlich vor allem auf die kleinen Filmverleiher aus. Im Jahr 2004 starteten 437 Filme in deutschen Kinos, so viele wie noch nie. Bedarf für die professionelle Beobachtung des laufenden Angebots besteht im Prinzip also nicht. Dennoch wird die Arbeit der Kritiker im Überlebenskampf der kleinen, anspruchsvollen Filmverleiher zum Spielball von Zwängen und Interessen. Der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums, d.h. der Kampf um den Starterfolg eines Films in der ersten Einsatzwoche, aus dem ein weiteres Abspiel im kleiner werdenden deutschen Programmkinonetz folgen kann oder nicht, führt dazu, dass in den entscheidenden Kinostädten viel dafür getan wird, Publikum über Filmkritiken zu motivieren. Besprechungen in den lokalen Programmzeitschriften sind für Kinobesitzer wie Verleiher wichtig. Sie hängen die Texte sogar in den Kinofoyers aus – ein rührend anschauliches Feedback für die Kritiker.
Dennoch hat die seit den Zeiten des Neuen deutschen Films der 1970er-Jahre von vielen Verleihern beinahe selbstverständlich vorausgesetzte Unterstützung durch die Kritik ihre paradoxen Seiten. So schlug die Begeisterung über Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei als einem politischen Film und deutschen Beitrag zum Filmfestival Cannes wie eine kollektive Selbstenthebung der Kritik durch, in der kaum jemand Spielverderber sein wollte und folglich nicht darüber geschrieben wurde, dass der Film bei allem Charme erhebliche dramaturgische Schwächen hat. Hier funktionierte der Hype als Politikum auf dem für Deutschland typischen Kampfplatz, auf dem der notorische Minder- sachliche Auseinandersetzung überwog. Kritiker und Redakteure, die sich diesem Sog ausliefern, die Trends hoch schreiben oder Entdeckungen lancieren, gewinnen Prestige. Sie platzieren Filme als Aufmacherthema und fördern allein durch dieses Ranking ihre Karriere. Besprechungen über "wichtige" Filme scheinen auch die Kritiker "wichtig" zu machen. Andererseits bot das Jahr 2004 auch fürs gegenteilige Phänomen schlagende Beispiele. Der Erfolg des Films Der Untergang bestätigte die alte Erfahrung, dass Filmkritiker schlechte Filme, die massiv beworben werden und einen Nerv der Zeit treffen, nicht unsichtbar machen können. Der Nutzen guter Filmkritik liegt nicht im medialen und/ oder kommerziellen Erfolg eines Films, das wissen Filmverleiher jeder Größenordnung. Aber da langfristig die Kommunikation unter Meinungsmachern von ihr mitgeprägt wird, sieht man sie als Teil der Public Relations.
Die Marktchancen eines Films drücken sich auch im Einsatz massiver Werbeetats aus, an deren Ende erst die Betreuung von Kritikern steht. Die Pflege der Einladungslisten für Pressevorführungen oder die Bereitstellung von Presseheften mit Hintergrundinformationen ist zum marginalen Rest der Kampagnen geworden, in dem es primär um eine größtmögliche Öffentlichkeit für den Film geht. Heute kommt hinzu, dass die große Zahl lokaler PR-Agenturen, die als Subunternehmer selbst unter Leistungsdruck stehen, akustisches Ausschnittmaterial für Radiojournalisten verteilt, vor allem aber auch Interviewtermine mit den zum PR-Einsatz verpflichteten Regie- und Schauspielstars organisieren. Verleihe lancieren so ihr Originalmaterial in der von ihnen vorgegebenen Auswahl und Dosierung in die Medien, bringen ihre Protagonisten in Talkshows im Fernsehen unter, kreieren Events jeder Größenordnung und eigens inszenierter Glamoureffekte.
Filmkritiker mutieren in diesem Zirkulationswirbel zunehmend zum einkalkulierten Marktinstrument, zum "Durchlauferhitzer", wie es der Filmjournalist Knut Elstermann formuliert.
Welche Lebensentwürfe, welche Arbeitsformen entstehen aus dieser Entwicklung? Wie bewältigen Filmkritiker als Medienarbeiter ihre Rolle als Teilchen in einem beschleunigten System von Gesamt-Events? Es lässt sich realistisch spekulieren, dass sie angesichts der unangemessenen Bezahlung auch bei maximalem Einsatz nicht auf ihre Kosten kommen. Nimmt man Festivalberichte, Starinterviews und Portraits, die selteneren Retrospektive-Artikel, Nachrufe und Gedenktexte, persönliche Kolumnen oder film- und kulturpolitische Kommentare hinzu, könnten Filmjournalisten auch mit schierer Dauerpräsenz am Arbeitsplatz Kino und Computer nur auf ein mäßiges Einkommen rechnen, sofern sie die Hürde eingeschränkter Veröffentlichungschancen gemeistert haben. Kein Wunder also, wenn Filmjournalisten Kritik als Teilzeitarbeit betreiben oder viel Kraft investieren, eine Rezension in allen möglichen Formaten und Medien in eine profitable Mehrfachverwertung umzusetzen. Um sich der Rolle des Spielballs zwischen frustrierten Redaktionen einerseits und aufdringlichen PR-Agenten andererseits zu entziehen, arbeiten sie als Dozenten, Übersetzer, Festivalberater, Programm- und Projektentwickler. Sie wechseln als zwangsweise flexible Medienarbeiter zunehmend die Interessenssphären, arbeiten als PR-Agenten wie als Journalisten, drehen Making-of-Beiträge für die DVD-Auswertung von Filmen, schreiben Pressetexte und werbende Inhaltsangaben für Programmbroschüren.
Das heißt jedoch nicht, dass die Kulturtechnik Filmkritik ausstirbt. Als Kommunikationsangebot ohne die zuweilen arroganten Attitüden der letzten Großkritiker entsteht sie fortlaufend im Internet neu, nicht immer sprachlich geschliffen, aber auf Websites wie www.filmkritik.blogspot.com kenntnisreich, debattenfreudig, theoretisch fundiert – natürlich umsonst und gratis als Cineasten-Liebhaberei.
Was wäre zu tun? Filmkritiker müssten offensiver auf die schleichende Abwicklung ihres Arbeitsfeldes aufmerksam machen. Sie müssten – wie schon einmal in der Zeitschrift Filmkritik polemisch erprobt – die Wertschätzung ihrer Arbeit als eigenständige journalistische, wenn nicht gar literarisch-kritische Leistung einfordern. Aus dem vorausgesagten Paradigmenwechsel unserer schriftdominierten Kultur zu einer Bilderkultur folgt zur Zeit der zunehmende Verlust an Sprache, die die optisch-akustischen Wahrnehmungen aus der suggestiven Unmittelbarkeit in die rationale wie emotionale Kommunikation überträgt. Übung in Filmkritik ist eine kulturelle Zukunftsinvestition. Nachwuchsjournalisten jeder Fachrichtung müssten sich im Genre Filmkritik üben, ihre Fertigkeit auch an einem sekundären Gegenstand trainieren, um diese Kommunikationsform später als Entscheidungsträger in den Medien angemessen einschätzen zu können. Die seit 20 Jahren sich etablierende Filmwissenschaft müsste in einen regen Austausch mit den journalistischen Praktikern gezogen werden. Filmkritik als Kultur des Sehens hat eine Zukunft, wenn sie als Schlüsselkompetenz und eigenständiges journalistisches Genre überwintert.
Claudia Lenssen
© VdFk 2005