Stellungnahme des Verbands der deutschen Filmkritik zur öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag zum Antrag „Nachhaltige Bewahrung, Sicherung und Zugänglichkeit des deutschen Filmerbes gewährleisten
Der Verband der deutschen Filmkritik beobachtet mit großer Sorge und zunehmendem Befremden, dass die Bundesregierung die dringend notwendigen Investitionen in die Sicherung und die Sichtbarkeit des deutschen Filmerbes immer weiter verschiebt. Der Deutsche Bundestag darf diese Verzögerung durch die Bundesregierung nicht länger unterstützen.
Das Filmerbe zu erschließen, zu sichern und verfügbar zu machen sind zentrale Aufgaben im Sinne eines kulturellen Geschichtsbewusstseins. Aufgrund der Fragilität des Materials und der bisherigen Mangelwirtschaft dulden sie keinen weiteren Aufschub.
Als Verband der deutschen Filmkritik unterstützen wir mit Nachdruck die Bemühungen, für diese weitreichenden Aufgaben eine Verständigung der Bundesregierung mit den Bundesländern und der Filmbranche herbeizuführen. Angesichts der gesamtstaatlichen Bedeutung des Filmerbes liegt die primäre Verantwortung dafür aber beim Bund. Dieser Verantwortung wird die Bundesregierung bisher nicht gerecht.
Solange eine Einigung zwischen Bund und Ländern nicht zustande kommt, muss die Bundesregierung mindestens die in ihre Zuständigkeit fallende institutionelle Ausstattung der Filmarchive und Kinematheken in ausreichendem Maße gewährleisten. Davon kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Rede sein.
Es ist verständlich und notwendig, dass bei den Bemühungen um das Filmerbe die Digitalisierung aktuell im Zentrum steht. Eine Sichtbarkeit der Vielfalt der deutschen Filmgeschichte ist mittelfristig nur möglich, wenn möglichst umfangreiche Bestände digitalisiert werden.
Die Digitalisierung des Filmerbes darf allerdings nicht wie bisher vorrangig unter Gesichtspunkten der Vermarktbarkeit erfolgen, sondern muss darauf abzielen, die Vielfältigkeit der Produktionsformen abzubilden. Film war und ist gleichermaßen Kunstwerk, Ware, Werbemedium, historische Quelle und Arbeitsmedium. Nur mit diesem umfassenden Verständnis von Film lässt sich gewährleisten, dass das Filmerbe Teil einer allgemeinen Öffentlichkeit werden kann.
Um diese Bandbreite des Filmerbes öffentlich zu vermitteln, braucht es eine Bündelung der bisherigen Anstrengungen vor allem in Bezug auf die Vermittlung und Sichtbarmachung der Filme. Die Sichtbarkeit der bisherigen Anstrengungen wird durch die Aufsplittung in einzelne Projekte deutlich gemindert.
Neben der Digitalisierung muss der Umgang mit analogem Filmmaterial neu evaluiert werden. Erfreulicherweise ist in beträchtlichen Teilen einer interessierten Öffentlichkeit ein neues Interesse der Vorführung analoger Filme entstanden. Der performative Aspekt analoger Filmvorführungen zieht ein immer größeres Publikum an, das Interesse für die technischen Veränderungen zwischen analogem und digitalem Film wächst. Paradoxerweise eröffnet der Kontrast zu digitalen Filmen neue Zugänge zum analogen Film.
Gemeinsam mit der gesamten Filmkultur befindet sich das Filmerbe im Umbruch. Es gehört zu den Wesenseigenschaften des Filmerbes, dass es unter den Produktionsbedingungen der Vergangenheit entstanden ist. Die technischen Bedingungen der Entstehungszeit haben sich in die Filme sichtbar und hörbar eingeschrieben. Oft basieren die ästhetischen Erwägungen der Filme auf den technischen Bedingungen und sind untrennbar mit ihrem Trägermaterial verbunden.
Deutsche Archive haben sich gegenüber der ersten Hälfte der Filmgeschichte, die größtenteils auf Nitratfilm vorhanden ist, bisher fahrlässig verhalten. Originale wurden nach der Digitalisierung vernichtet oder an ausländische Archive unter der Hand abgegeben. Dabei hat erst unlängst die Leiterin der Restaurierungsabteilung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung am Beispiel des vernichteten Kameranegativs von Josef von Bákys Münchhausen von 1943 ausgeführt, welche unwiederbringlichen Verluste durch die bisherige Politik entstanden sind.
Die Fortführung und Bewahrung der analogen Filmkultur gehört zum internationalen common sense. Martin Scorsese und weitere Hollywoodgrößen sichern, restaurieren und verbreiten mit The Film Foundation und dem World Cinema Project seit über 25 Jahren analoges Filmmaterial von Klassikern und nichtbeachteten Filmen des Weltkinos. Das Beharren auf analogem Film durch Regisseure wie Quentin Tarantino und Christopher Nolan hat unterdessen zu einer Revision der vor einigen Jahren breit rezipierten Aufgabe des analogen Films im regulären Kinobetrieb geführt.
Länder wie Schweden verfolgen einen dualen Ansatz und betreiben neben der Digitalisierung die Pflege des analogen Films. Österreich und die Niederlande haben für die Sicherung des analogen Films Kopierwerke erworben. Der Kauf des Kopierwerks durch das österreichische Bundeskanzleramt hat explizit zum Ziel, die Geschichte des österreichischen Experimentalfilms langfristig sichtbar zu halten. Auch das niederländische Filmarchiv eye hat zur Sicherung seiner Bestände ein Kopierwerk erstanden.
Der Verband der deutschen Filmkritik fordert den Deutschen Bundestag daher auf, das deutsche Filmerbe in dieser Phase der Transformation nicht auf halbem Weg zu blockieren. Derzeit wird ihm weder der Weg in eine breite digitale Zukunft eröffnet, noch werden die Zugänge zu seiner analogen Geschichte ausreichend erhalten.
Für eine gesicherte Zukunft des deutschen Filmerbes fordern wir:
- eine langfristige Finanzierung einer breiten Digitalisierung des deutschen Filmerbes durch den Bund und die Länder. Die im FFA-Gutachten von PricewaterhouseCoopers genannte Summe von 10 Millionen EUR ist dabei als nicht zu unterschreitendes Minimum zu betrachten. Diese finanzielle Grundlage ist notwendig, um das Wissen von Fachleuten und die technische Infrastruktur sowie deren Weiterentwicklung zu sichern.
- eine deutliche Aufstockung der finanziellen, personellen, technischen und räumlichen Ausstattung deutscher Filmarchive. Die Filmarchive der Bundesrepublik müssen in die Lage versetzt werden, neben der Sicherung des deutschen Filmerbes breiter als bisher auch eine Erschließung der digitalisierten Filmbestände für die Öffentlichkeit zu gewährleisten.
- eine langfristige Strategie, um das Überleben auch von bislang in den deutschen Archiven nicht vorhandenen Teilen des Filmerbes sicherzustellen. So sind weite Teile der westdeutschen Filmproduktion der 1970er und 1980er Jahre bislang nur unzureichend in deutschen Archiven vertreten.
- eine langfristige Sicherung aller derzeit in deutschen Filmarchiven erhaltenen analogen Filmmaterialien des deutschen Filmerbes und eine rechtlich verbindliche Anordnung der Filmarchive, die Vernichtung von Filmmaterialien zu unterlassen, sofern die analogen Kopien nicht tatsächlich nach internationalen Standards aufgrund ihres Zerfallzustands als Gefährdung einzustufen sind.
- eine langfristige Sicherstellung und Bewahrung der analogen Filminfrastruktur in Deutschland, um die Begegnung mit dem Filmerbe auch zukünftig im ursprünglichen Vorführformat zu ermöglichen. Das gebietet auch der Respekt vor den künstlerischen Absichten und Entscheidungen der Urheber.
Vorstand und Beirat des Verbands der deutschen Filmkritik e.V.
Dunja Bialas
Frédéric Jaeger
Dennis Vetter
Florian Vollmers
Jennifer Borrmann
Peter Kremski
Claus Löser
Wilfried Reichart
Rüdiger Suchsland
Rudolf Worschech