Erinnerung an Wilhelm Roth (1937-2023)

Im Alter von 86 Jahren ist der Redakteur und Filmkritiker Wilhelm Roth gestorben, der von 1987 bis 1998 auch Vorstandssprecher des Verbands der deutschen Filmkritik war, damals noch Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten genannt. In einem persönlichen Nachruf erinnert Rudolf Worschech, Roths Nachfolger als Chef-Redakteur von epd Film, unter anderem an die gemeinsame Zeit bei epd Film wie auch im Frankfurter Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten.

Wilhelm Roth im Jahr 2007. Foto: privat

Der Kulturmensch

Ein Nachruf von Rudolf Worschech

Nein, ein Vereinsmeier war er auf keinen Fall. Und dennoch hat Wilhelm Roth, soweit ich mich erinnere, in drei verschiedenen Vorständen unseres Filmkritiker-Verbandes mitgearbeitet – und in drei verschiedenen Städten: München, Berlin, Frankfurt. Wichtiger als viele Formalien war ihm das filmpolitische und auch berufsständische Engagement des Verbandes. Willi selbst hat in diversen Gremien gesessen, etwa in der Projektförderungskommission der FFA. Und der Verband hatte noch einen Sitz im Verwaltungsrat der FFA. 

1987 hat Willi, als der damalige Berliner Vorstand sich zerstritten hatte und sich in dieser Stadt auch kein neuer fand, den Vorstand nach Frankfurt geholt, zusammen mit Heide Schlüpmann und Jürgen Berger; ich stieß im Laufe dieses Jahres als Geschäftsführer dazu. Damals, in vordigitalen Zeiten, stellten wir noch mehrmals im Jahr zur gegenseitigen Information sogenannte Rundbriefe zusammen, mit Veröffentlichungen der Kolleginnen und Kollegen vor allem zu filmpolitischen Themen, mit einer Liste neuer Buchveröffentlichungen aus Verbandskreisen und News der FIPRESCI. 

Unser Engagement in dieser Zeit galt vor allem dem Festival von Oberhausen, das damals noch Westdeutsche Kurzfilmtage hieß. 1985 wurde Karola Gramann Leiterin. Das Motto des Festivals Weg zum Nachbarn hatte in der Zeit des Kalten Krieges immer auch den Blick über den Eisernen Vorhang bedeutet, oft mit massiven Schwierigkeiten verbunden. Gramann versuchte, neue Akzente zu setzen, etwa in Richtung Experimentalfilm, mit dem das Festival in seiner Geschichte bis dato (Oberhausen wurde 1954 gegründet, genau wie unser Verband) eher Schwierigkeiten hatte und der im politisch orientierten Programm des Festivals unterrepräsentiert war. Das führte aber zu diversen Querelen mit der Stadt und dem Land NRW, in die wir uns eingeschaltet haben. 

Willi war zwei Jahre in der Auswahlkommission von Oberhausen, 1986 und 1987. Zum ersten Mal hat er das Festival, das hat er einmal geschrieben, im Jahr 1964 besucht, zwei Jahre nach dem legendären Oberhausener Manifest. Oberhausen war damals, gerade wegen seiner politischen Stoßrichtung, das wichtigste Festival für die Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten e.V., wie der Verband seinerzeit hieß, wichtiger als Berlin. Die zentrale Mitgliederversammlung fand dort statt. Die Arbeitsgemeinschaft war sogar eine Art ideeller Mitträger des Festivals, erst Angela Hardt, ab 1990 Leiterin der Kurzfilmtage, strich diese Beteiligung – die da allerdings schon lange nicht mehr ausgeprägt war. Warum fuhr man nach Oberhausen? „Man fühlte sich“, hat Willi geschrieben, „wenn man die Kurzfilmtage besuchte, zugehörig zu einer politischen und ästhetischen Avantgarde.“

Und die Avantgarde muss zahlenmäßig durchaus groß gewesen sein. Willi erzählte immer mit leuchtenden Augen vom gefüllten Saal der Stadthalle Oberhausen (der späteren Luise- Albertz-Halle), deren Hässlichkeit man so gar nicht bemerkt habe. Als ich das erste Mal in Oberhausen war, 1990, haben sich allerdings nur noch einige wenige Kurzfilmliebhaber im riesigen Saal der Halle beim Internationalen Wettbewerb verloren oder das Büffet mit den legendären Mettbrötchen besucht. 

Wilhelm Roth 1973 bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen. Foto: Kurzfilmtage Oberhausen

1987 lebte Willi schon länger in Frankfurt, der letzten Station, wenn man so will, seiner Lebensreise. Seit 1981 war er Redakteur des vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik herausgegebenen Dienstes epd Kirche und Film, seit 1984 verantwortete er, zusammen mit Bettina Thienhaus, das Magazin epd Film. Gerade den ersten Heften und ihrer filmpolitischen Orientierung merkt man noch deutlich die Herkunft von Kirche und Film an. 

Bevor er sich in Frankfurt niederließ, war das Leben des gebürtigen Regensburgers Roth (der sein Konterfei immer stolz als „Frankenschädel“ bezeichnet hat) durchaus unstet. Er studierte Germanistik und Geschichte, wollte über den Dokumentarfilm als historische Quelle promovieren, fing aber sehr früh an, Texte für die Süddeutsche Zeitung und den Kölner Stadt-Anzeiger zu schreiben. 

Von 1965 bis 1967 arbeitete er in der Filmredaktion des WDR (mit Reinold E. Thiel). Einige Fernsehbeiträge von ihm für das sogenannte Dritte Programm haben sich erhalten, etwa ein Bericht von den Filmfestspielen von Venedig und einer von den neu gegründeten Hofer Filmtagen, kundige, vorurteilsfreie Sendungen. 

Bei der legendären Zeitschrift Filmkritik war er zuerst Assistent von Enno Patalas, später dann, als Patalas zum Filmmuseum nach München ging, alleiniger „Redaktionssekretär“ – denn die Autoren der Zeitschrift hatten sich nun kollektiv organisiert. Von 1973 bis 1979 war er bei den Freunden der Deutschen Kinemathek, mitverantwortlich für das Programm des Arsenal und der Berlinale-Sektion Forum

Aber auch von Frankfurt aus hat er noch Festivals bereist, Saarbrücken etwa, Solothurn und Locarno, Nyon und Berlin natürlich. In Berlin hatte er noch eine Zeit lang ein Zimmer. Oberhausen und den Kurzfilm allerdings hat er in seiner Frankfurter Zeit etwas aus den Augen verloren. Dafür kamen andere Schwerpunkte. 

Man kann Roths filmische Agenda nicht anders als vielfältig und breit aufgestellt bezeichnen. Er kannte sich aus im Schweizerischen wie im österreichischen Film, in der Filmgeschichte, und als man in den achtziger Jahren etwa die B-Western von Joseph H. Lewis entdeckte, da war er mit dabei. Im Kino – einen Fernseher besaß Roth, zumindest in seiner Frankfurter Zeit, nur sporadisch. 

Eine seiner ganz wichtigen Themen war der Dokumentarfilm: 1982 erschien sein Standardwerk Der Dokumentarfilm seit 1960. Fotografie und Film war ein weiterer Schwerpunkt von Roth, der auch Fotobücher sammelte. Und Roth hat fast manisch Krimis gelesen (zusammen mit Bettina Thienhaus war er in der Jury des Deutschen Krimipreises) und über Krimi und Film geschrieben, etwa über Leonardo Sciascia. 

Ihn, der immer wieder zum Dokumentarfilmfestival nach Leipzig fuhr, interessierte auch die Filmszene der DDR, er war etwa mit dem Wissenschaftler Wolfgang Gersch und dem Regisseur Jürgen Böttcher befreundet. Auf seine Initiative ging auch ein informelles Treffen unseres Verbandes mit Kolleginnen und Kollegen aus der Ex-DDR zurück, das meiner Erinnerung nach in Oberhausen stattfand, 1991, im Jahr, als Andreas Dresens schöner Zug in die Ferne im Deutschen Wettbewerb lief. Ich kann mich noch erinnern, dass Margit Voss, Erika Richter, Fred Gehler und Henry Goldberg dabei waren. 

Wilhelm Roth in den 90er Jahren in der epd Film-Redaktion mit Rudolf Worschech und Bettina Thienhaus. Foto: epd Film

Wilhelm Roth war ein Vollblutjournalist, obwohl er das nie studiert hatte, er war ein Quereinsteiger. Auf der roten IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine in der epd Film-Redaktion (der ich seit 1987 angehörte) entstanden kurze wie lange Texte, und von einer Schreibblockade hatte er nie etwas gehört. Und von einem Standesdünkel auch nicht – seine Texte hat er immer zur Diskussion gestellt, war offen für Kritik und Einwände. Er hat sich auch nicht für einen gehalten, der durch seine Texte den Film auf eine neue künstlerische Stufe hebt, wie das später viele Autorinnen und Autoren glaubten. Die Literarizität der Filmkritik war ihm beim eigenen Schreiben fremd – auch wenn er immer ganz unterschiedliche Schreibweisen im Heft geschätzt und gefördert hat. 

Die Journalisten-Generation von Wilhelm Roth ist quasi mit dem neuen deutschen Autorenfilm großgeworden, hat ihn verteidigt und gefördert. Willi hat etwa die kommentierte Filmografie im Fassbinder-Buch von Hanser geschrieben. Zeitlebens war Roth ein Bewunderer und Parteigänger von Herbert Achternbusch – so krude manche seiner Filme auch sein mochten. Aber Roth hatte auch immer Lust auf Neues, mochte es, so manches Verdikt in Frage zu stellen. Und genauer hinzusehen. 

Als das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt 1989 die bis dato größte Retrospektive zum Film des Adenauer-Kinos zeigte, saß Wilhelm Roth im Kino. Das war gerade bei den Kollegen seiner Generation durchaus nicht selbstverständlich, die den Film der fünfziger Jahre mit spitzen Fingern anfassten. 45 Filme hat er damals gesehen, schrieb er in seinem Text in epd Film, von Der Verlorene über Die Goldene Pest bis hin zu Zwei unter Millionen, und sein Fazit lautete: „Es brodelte unter der Oberfläche“. 

2002 ging Wilhelm Roth in den Ruhestand. Aber schon davor hat er sich journalistisch, wieder einmal, neu aufgestellt. Er hat sein immer schon bestehendes Interesse für Theater und Oper neu aktiviert. Wilhelm Roth war ein Mensch der Kultur, wie ich ihn selten so ausgeprägt erlebt hatte. Zu den wenigen trivialen Niederungen geriet ihm, dass er über den Tabellenstand des SSV Jahn Regensburg immer erstaunlich gut Bescheid wusste, obwohl ihn Fußball grundsätzlich nicht interessierte. 

Nach seiner Pensionierung hat Roth für die Frankfurter Rundschau Interviews mit Theater- und Opernprominenz geführt. Aber er hat auch weiterhin für epd Film und die Nachrichtenagentur epd Texte geschrieben, bis kurz vor seinem Tod. Und er kam, bis das physisch nicht mehr ging, einmal im Monat zu uns in die Redaktion, um Endkorrektur zu lesen. Das war der Willi-Tag. Im Januar 2020 musste er in ein Altersheim umsiedeln. Aber dort hat er noch einmal eine große Liebe gefunden.

Der Text ist eine veränderte und erweiterte Fassung des Nachrufs, der in epd Film 4/23 erschienen ist. Wir bedanken uns herzlich bei Rudolf Worschech und der Redaktion.