Citizenfour

Das Theater der Privatheiten: Gedanken ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu Laura Poitras’ Citizenfour.

Nino Klingler

Der für mich entscheidende Satz fällt spät in der lang erwarteten Snowden-Doku. Der Internet-Aufklärer Jacob Appelbaum äußert ihn auf einer Podiumsdiskussion zum Thema Online-Überwachung: „What we used to call liberty, or freedom, we now call privacy“. In der Tat trifft er da einen wichtigen Punkt. Privatheit, Privatsphäre, das sind zentrale Begriffe geworden im Kampf des realen Ichs mit seinem digitalen Doppelgänger oder vielmehr den Mächten, die diesen an der Leine halten. Im Big-Data-Polizeistaat streiten viele nicht mehr in erster Linie für Teilhabe an Öffentlichkeit (außer vielleicht für mehr Verteilungsgerechtigkeit bei öffentlicher Sichtbarkeit), sondern eher für heimliche und geschützte Räume, für vertraulichen Austausch, für sichere Begegnungsstätten.

Behind the mirror
Gemeinsam mit dem investigativen Journalisten Glenn Greenwald und dessen Kollegen Ewen MacAskill verbrachte Laura Poitras im Frühjahr 2013 gute acht Tage in einem unscheinbar funktional eingerichteten Hotel in Hongkong, um die Informationen aufzubereiten und vor allem die Bilder zu produzieren, mit denen Edward Snowden den größten Überwachungsskandal der digitalen Ära lostreten sollte. Ein in jener Woche geführtes Interview und die daraus entnommenen Stills waren zu den visuellen Ikonen des modernen Whistleblowings geworden: „Ed“ Snowden mit der halbgerandeten Brille, dem locker aufgeknöpften anthrazitfarbenen Hemd, dem bubihaften Bartflaum und dem unscharf gespiegelten Hinterkopf. Für Citizenfour macht Poitras nun ihre Schatztruhe auf und liefert im ausgedehnten zentralen Mittelteil des Filmes den Kontext, das Ausschussmaterial, das Behind-the-Scenes-Footage zu diesem mir bis heute zugleich mysteriös wie auch eigenartig spröde in Erinnerung gebliebenen Austausch.

Von Anfang an geht es zentral um die Frage des Stellenwerts des „privaten“ Snowden im Kontext seiner für die „Öffentlichkeit“ bestimmten Enthüllungen. Der Medienprofi Greenwald steigt ein mit der Frage: „We have to get one thing out of the way: Who are you, why did you do what you did?“ Snowden, das nerdige Menschenrätsel, fällt sofort aus der sorgsam vorbereiteten Interviewprofessionalität: „I wanted to avoid this question.“ Man ahnt: Er windet sich, halb, weil er Privates und Öffentliches nach guter amerikanisch-liberaler Tradition (à la Richard Rorty) gerne weiter trennen würde, halb, weil er sich seiner eigenen Motivationen vielleicht gar nicht sicher ist. Die Diskussion, wie viel private Offenbarung „der Sache“ zugutekommt und wann diese Schaden nähme, wird über den gesamten Hotelaufenthalt hinweg immer wieder und letztlich ergebnisoffen geführt.

Häusliches im Transitraum
Citizenfour setzt Intimität gegen das technokratische Regime, setzt die Nuancen des Lebens gegen die kalten Infos der Metadaten. Ed im Bademantel, leger auf das mit Laptops und Kabelsalat übersäte Bett gefläzt. Ed, wie er sich vor dem endgültigen Verlassen des Hotels auf niedlich hoffnungslose Weise mit Kontaktlinsen und Unmengen Haargel unkenntlich zu machen versucht. Ed, wie er sich unter einer knallroten Decke vor „optischem Zugriff“ schützen will. Die Absurdität des Moments wird den versammelten Paranoikern sofort bewusst, man scherzt und kichert.

Ist das nicht die Hoffnung der Big-Data-Gegner, dass der digitale Fingerabdruck nie sein Versprechen der „Durchleuchtung“ erfüllen wird, weil er immer nur das „Was“ kennt (Wo bin ich wann mit wem, wie viel Geld gebe ich wofür aus?) und über das „Wie“ nur spekulieren kann? Frei nach Bergson: Wäre man auch mit übermenschlicher Intelligenz begabt und wüsste über alle Vorgänge immer Bescheid, so wäre man über das, was wirklich vorgeht, nicht weiter aufgeklärt, „als wir es über ein Theaterstück würden durch das Gehen und Kommen der Schauspieler auf der Bühne“. NSA, GCHQ, PRISM, Tempora: Sie filtern nur die Bühnenanweisungen, Citizenfour aber will die Geschichte erzählen.
Der Release des Films ist dabei ein im Kontext der von Poitras und Greenwald (z.B. über das Internetportal The Intercept) weiter missionsartig vorangetriebenen Enthüllungsbemühungen genau berechnetes Manöver: Die lange Zeit für allerlei psychologisierende Spekulation freigeräumte Leerstelle des privaten Snowden soll gefüllt, der Diskurs um öffentliche Angelegenheiten und persönliche Motivationen von den Beteiligten reklamiert werden. Zum Kinostart veröffentlichte Greenwald auch prompt einen offen tendenziösen (und deshalb vielleicht ehrlichen) Artikel, der Snowdens Exil in Russland als rosarotes Pärchenglück beschreibt. Die Botschaft soll sein: Schaut her, ein (heterosexueller, monogamer) Typ wie du und ich kann die Welt verändern. Selbstredend funktioniert da die Identifikation leichter als mit dem von Vergewaltigungsvorwürfen schleimig umwickelten Assange.

SIE vs. WIR

Abseits der ausgedehnten Hotelszene in der Filmmitte ist Citizenfour nicht weiter der Rede wert: Ein Eingangskapitel bemüht sich, unterlegt von murmelnder Elektrosuppe, an einer Bestandsaufnahme der paranoiden amerikanischen Post-9/11-Gesellschaft (Bürger gegenüber Regierung – Regierung gegenüber Bürger). Am Ende versucht Poitras recht erfolglos mit einer Aneinanderreihung von Panel-Diskussionen und Infoveranstaltungen der von ihr mit losgetretenen Debatte Herrin zu werden. Obwohl in dieser Sequenz etwas Wichtiges steckt: Aufklären ist keine einmalige Handlung, sondern erfordert didaktisches Durchhaltevermögen. You gotta spread the word. Nur ist das filmisch grosso modo uninteressant.
Es ist ja überhaupt bemerkenswert, dass Snowden eine Filmemacherin über chiffrierte E-Mails als Gewährsperson für seine Offenbarung auswählte, als diejenige, die seine geheimen Informationen adäquat vermitteln könne. Worauf hat er gehofft? Film als Medium kann wohl zweierlei gut: 1. Tendenziell eigensinnige Wirklichkeitsschrappnelle sammeln, oder 2. qua Montage allerlei Daten (unterschiedliche Orte, Zeiten, Quellen …) sinnhaft zusammenfügen. Letzteres beherrscht Poitras nicht gut, oder aber die sehr ungegenständliche Digitalthematik eignet sich für filmische Sinnstiftung in knapp 120 Minuten nicht so recht. Ersteres aber geht voll auf: Citizenfour sammelt kleine Details rund um einen retrospektiv großen Moment und bezeugt ihn dadurch.

Was bleibt? Für mich sind es ausgedehnte, oft unscharf gefilmte Passagen in wunderbar reizlosem Ambiente, die wie durch Schlüsselloch (Man erlaubt mir, zu spionieren!) Einblick in eine kurzzeitige gruppenpsychologische Utopie ermöglichen. Vier Menschen hecken in zunehmend zugemüllten Hotelzimmern den großen Masterplan aus, während auf den Flachbildschirmen an den Wänden (und auf den Straßen Hongkongs, in Wohnzimmern auf der ganzen Welt) die Bilder laufen, die Empörung in Rollen kommt, die sie im Verborgenen zu orchestrieren versuchen. Um Thomas Pynchon zu bemühen: Sie setzen dem paranoischen „SIE-System“ („Sie“, die gesichtslosen Agenten, die Mächte des Überwachens) ein angenehm größenwahnsinniges „WIR-System“ entgegen. Und das Beste: ihr Plan ging auf. 

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 27.10.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.