Manakamana

In den Augen der Maschine ist alles eins: Manakamana ermöglicht dank seiner stoischen Ruhe gedankliches Abschweifen und ernsthafte Selbstbefragung.

Nino Klingler


Ein historischer Schlagabtausch
„Was ich den ethnographischen Filmen, und auch den Afrikanisten, vorwerfe, ist, dass sie uns betrachten, als wären wir Insekten“, sagt ein Afrikaner zum Franzosen, ein Ex-Kolonisierter zum Ex-Kolonisatoren. Die Worte (hier eine englische Übersetzung), gesprochen 1965 von Ousmane Sembène – Gründervater des afrikanischen Kinos –, gerichtet an Jean Rouch – französischer ethnographischer Filmemacher – sind zum polemischen Kristallationspunkt vieler Debatten über Kino und Postkolonie geworden. Sembène klagt den Mythos der Neutralität an, verlangt Involvierung und Analyse: „Im Kino reicht es nicht zu schauen, man muss analysieren.“

Maschinen-Menschen-Tiere-Poesie
Mit kleinteiliger, trockener Analyse haben die Filme aus Harvards Sensory Ethnography Lab wenig zu tun. Wissenschaftliche Distanz ist ihre Sache nicht. Lieber schleudern Sie ihre Zuschauer körperlich ins Fremde; auf einen entbehrungsreichen Treck mit Schafsherde (Sweetgrass, Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor, 2009), in aufgewühlte See mit wogendem Hochseefischkutter (Leviathan, Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, 2012). Visuell unterwerfen sich die Filme fremden Bewegungsträgern: den Tierkörpern, den Schiffsmotoren und Wellen – oder, in Manakamana, dem schleppenden maschinellen Rhythmus einer nepalesischen Gondel.

Jede Einstellung in Stephanie Sprays und Pacho Velez’ meditativ-technoider Geduldsprobe beginnt und endet im Stockdunkel der Gondelstation. Dazwischen bleibt die Kamera fix ins Innere der Kabinen gerichtet, frontal auf die Passagiere hin, die sich jedes Mal wie aus dem Nichts zu materialisieren scheinen. Hinter den Menschensilhouetten ziehen sattgrüne Hänge und Täler vorüber, und das Bild fächert sich auf in Flächen der Starre und gleitender Bewegungen. Eine simple, aber in ihrer Schlichtheit berührende Poesie.

Jede der etwa zehnminütigen Fahrten wird ungeschnitten gezeigt, erst geht es ein paar Mal hoch, dann ein paar Mal runter. Und wie die nepalesischen Fahrgäste da sitzen – recht spürbar den direkten Blick in die Kamera vermeidend –, scheinen sie zwischen den zwei Glasscheiben, von denen eine zur Leinwand wurde, wie exotische Falter im Schaukasten drapiert. Die ersten Fahrten über spüre ich nichts als diese unangenehme blickliche Asymmetrie: Sie sehen wohl die Kamera, aber mich sehen sie nicht…

Der mitfühlende Forscher
Mindestens so aufwühlend wie Sembènes Insekten-Vorwurf ist Rouchs Replik: „Wie Fabre es gemacht hätte…“ Er meint Jean-Henri Fabre, den poetischen Entomologen, den zärtlichsten Insektenkenner, der je gelebt haben mag. Der seine Disziplin revolutionierte, weil er nicht tote, sondern lebende Insekten studierte. Jenen Mann, der von krabbelndem und surrendem Chitin-Vieh schwärmen konnte wie von exquisiten Kunstwerken. Rouch negiert also gar nicht Sembènes These, dass die Afrikanisten ihre „Untersuchungsgegenstände“ nicht als Mitmenschen behandelten. Aber für ihn steht dieser Fakt größter Anteilnahme, ja hemmungsloser Empathie nicht im Weg.

In Manakamana ist es die schiere Dauer jeder Einstellung, dank derer die Gondelfahrer Zeit haben, in unseren Blicken als komplexe, ja liebenswerte Individuen aufzuscheinen. Jedes Schweigen ist besonders: betreten, verbissen, eingeschüchtert. Wenn die Fahrgäste miteinander reden, dann erfahren wir Zuschauer nach und nach Näheres über diesen Berg, zu dem Sie alle voll Anspannung empor wollen und von dem sie recht gemütlich wieder herab gondeln. Oben ist ein der Göttin Bhagwati geweihter Tempel, Blumengestecke und Hühner werden als Opfergaben mitgeführt.

Aber reichen diese verbalen und visuellen Brotkrumen, den Pfad weg von einer puren Anwesenheit hin zu einem Verständnis individueller Motivationen zu bahnen? Sind die Menschen hier nicht doch einzig wichtig als zehnminütige Besetzer eines maschinell transportierten Raums? Wieder klingen Sembènes anklagende Worte herauf, legen sich solidarisch in die verschlossenen Münder der gondelnden Pilger: „Was mir an der Ethnographie missfällt, ist, dass es nicht reicht zu sagen, dass ein Mann, den man sieht, läuft. Man muss wissen, wo er herkommt, wohin er geht…“

Ich und der andere war gestern.
Eine genau in der Filmmitte platzierte Gondelfahrt bietet einen Weg aus dem Dilemma „Insekten oder Menschen?“, der da lautet: Vielleicht ist diese Unterscheidung fehlgeleitet. Statt der vertrauten Gondelkabine wird ein offener Metallkäfig den Berg empor gehoben. Drinnen sind einige Ziegen angeleint, sie reiben an den Tauen, quetschen sich gegen- und übereinander. Sie fahren wahrscheinlich in den Opfertod. Aber vor allem sind auch sie Fahrgäste.

Indem sich Manakamana einem technisch-maschinellen Blick andient, ist letztlich nebensächlich, wer oder was in der Seilbahn verladen wird. Egal, ob Mensch oder Tier, Asiate oder Amerikanerin (in einer Einstellung sind zwei junge englischsprachige Frauen Passagiere). Lucien Casting-Taylor, Direktor des Sensory Ethnography Lab, sagte in einem Interview, dass es darum ginge, „Tiere zu vermenschlichen und gleichzeitig den Menschen zu bestialisieren“. Sein Blickwinkel ist ein post-humanistischer: Die moralisch-ontologische Bevorteilung des Menschen gegenüber den Tieren soll abgebaut werden. So würde auch der Streit von Sembène und Rouch beigelegt werden können, denn auf gewisse Weise (z.B. für den Blick der Kamera) sind wir alle Insekten. Allein: Mich befriedigt diese Antwort nicht. Sie hat die Tendenz, faktisch vorhandenen Ungleichheiten zu entfliehen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Harvard-Jungethnographen den Sembène-Vorwurf nicht kannten. Man wird in den Seminaren darüber diskutiert haben. Doch welche Schlüsse wurden gezogen? Auf die Gefahr hin, meine eigene Vorurteilsbefangenheit zu entblößen, behaupte ich: Manakamana flirtet mit dem Exotischen. Vor allem, weil der Film sich nicht an ein Fach- sondern an ein breites Publikum richtet. Die Augen europäischer und nordamerikanischer Festivalbesucher haben den Platz der sich unsichtbar gebenden Kamera eingenommen. Und sie blicken mehrheitlich in fremde Gesichter, die sie – im besten Fall – studieren wie Fabre seine wundersamen Insekten. Das ist der Effekt des „neutralen“ Blicks, dessen Möglichkeit Sembène nicht leugnet, dessen Existenz Manakamana setzt: Er hält sich raus. Damit wir uns einmischen?
 

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 27.09.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.