Wo IT war, soll Tier werden: „Wild“ von Nicolette Krebitz
von Ekkehard Knörer
erschienen in Cargo 29/2016 (März-Mai 2016)
(Eine von fünf Filmkritiken, die für den Siegfried Kracauer Preis 2016 als beste Filmkritik nominiert sind.)
Zur Etymologie von „wild“ weiß man wenig. Vielleicht ist es, mutmaßt der „Kluge“, verwandt mit Wald. Wild, Nicolette Krebitz‘ dritter Film, erzählt die Geschichte einer Verwilderung. Er geht mit seiner Heldin Anja erst in den Wald, dann holt er mit ihr die Wildnis heim in deren Wohnung im Hochhaus, dann folgt er der verwilderten Frau in eine ostdeutsche Wüste. Anjas Job: Sie macht IT-Sachen in einer Firma, in der alle sich ducken, wenn der Chef im Haus ist; der Chef hinter Glas, von Georg Friedrich gespielt; der Chef, der den kleinen Ball gegen die Wand knallt, dem der Kaffee gebracht wird; der Chef, den Anja, weil er gerade keinen Führerschein hat, mit dem Transporter übers Land fährt. Den Transporter kann sie später noch brauchen, den Chef eher nicht. Als er begreift, ist es zu spät. Fortschritt der Verwilderung: Sie scheißt ihm auf den Tisch, ein recht großes Häufchen. Sehen wir das mit eigenen Augen? Ja, wir sehen das mit eigenen Augen. Wie man überhaupt staunt, was einem von Reinhold Vorschneiders Kamera so alles aufgetischt wird.
Es ist Liebe auf den ersten Blick. Und der Wald ist kein Wald, nur ein Wäldchen, oder ein Park. Ein Stück domestizierte Natur in der Stadt. Die Stadt ist im Osten, Halle, um genauer zu sein, eine Landschaft, in der wirklich nichts blüht. Am Rand dieses Wäldchens, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, steht ein Wolf. Anja blickt ihn an, er blickt zurück, ist dann wieder weg. Sie interpretiert das als begehrenden Blick; und sie, die eine Sehnsucht nach dem Begehrtwerden hat, begehrt wie eine Wilde zurück. Der Wolf ist im Wald, aber da der Wald in der Stadt ist, ist dieser Wolf nicht einfach nur wild, sondern in die Zivilisation schon verirrt und verlaufen. Anja domestiziert ihn, ein wenig, verwildert selbst dabei, sehr. Der Wolf wird ihr Mittel zum Zweck, Instrument einer Verwilderungs-Arbeit am Selbst: Wo IT war, soll Tier werden. Aus Mitmensch wird Wolf.
Erst muss sie ihn fangen. Aus Stoffen schneidet sie Fetzen, terminus technicus: Lappen. Ein Kinderspiel. Sie heuert ein paar Frauen, Fremde, ein Wolf-Job, sie besorgt sich ein Blasrohr, sie mixt ein Einschläferungsgift (kann man alles googeln), sie schnallt sich die Waffe, ein Indianerspiel, auf den Rücken, das Tier geht ihr nicht durch die Lappen, denn da kommt die Redensart her (kann man auch googeln, wir googeln das mit Anja mit). Es ist Nacht, wie es nicht selten Nacht ist in diesem Film. Die Ratio legt sich schlafen. Nur kehrt am Tag und im Licht die Vernunft nicht zurück. Der Film steigt hinein ins Dunkle, als das man sich das verwildernde Innere seiner Heldin ausmalen kann. Er malt aber auch mit Feuer, mit grellem flackerndem Licht in dieses Dunkle, das verführerisch ist, für Anja, die einfach da weitergeht und der Nicolette Krebitz dahin folgt, einfach und furchtlos, wo alles aufhört, was Alltag und akzeptierte Wirklichkeit ist. Ganz großes Bild, Nacht, draußen: Anjas Hand geht ins Dunkle, verschwindet wie in einen schwarzen Spiegel. Eine Frau, die sich auflöst, eine Frau, die in einen anderen Zustand gerät. (Es ist hier wie an anderen Stellen nicht falsch, an Under the Skin zu denken. Von anderswo her und anderswo hin geht diese Figur. Sie verführt, wenn man so will, ihren Chef. Ihr innerer Wolf, der ein äußerer ist, springt ihn an. Im Feuer endet sie nicht. Aber im Draußen einer Wildnis, die entschieden unheimlich ist.)
Sie sperrt den Wolf ein. Sie bohrt ein Loch in die Wand. Sie schlägt die Wohnung im Hochhaus mit Planen aus. Sie beobachtet den Wolf, sie nähert sich an. Im Traum, falls es wirklich ein Traum ist, sitzt sie monatsblutend nackt auf dem Klo und genießt, wie ihr der Wolf das Blut vom Unterleib schleckt. So weit treibt es der Film. So weit geht Nicolette Krebitz, so weit folgt ihr Lilith Stangenberg, die diese Anja spielt, so sehr vertraut sie sich dem Buch an, der Regie und der Wahrheit dieser Fantasie. Danach geht es nach draußen, nach oben, davon, hinaus aus der Stadt.
Diese Bewegungen waren schon wichtig in Krebitz‘ großartigem Vorgängerfilm Das Herz ist ein dunkler Wald (das ist schockierende neun Jahre her), und ebenfalls wichtig, wichtiger noch, war da der Wald, der im Titel als Metapher vorkommt und im Film als domestizierter Park in der Stadt ohne Wolf (in diesem Fall: Hamburg) und in einer wilderen Variante irgendwo draußen, mit Schloss darin, mit einem Kulturevent-Karneval darin und einer elektrifizierten Klassik-Performance. Marie, die Krebitz-Medea, bewegt sich vom Park-Bungalow, den sie mit Mann und Kindern bewohnte – der Mann, der sie mit einer Doppelgängerfamilie betrog, ist nun weg – hinaus in den Wald, wo sie mit einem wildfremden Mann schläft, wo ein anderer Mann sich eine Kugel in den Kopf jagt, wo sie sich nackt durch das Herbstlaub in den See wälzt, worauf sie nackt allein im Bus zurück in die Stadt fährt und in den Bungalow geht und sich, was man nicht sieht, sondern nur hört, und die Kinder erschießt.
Marie ist das Muttertier, das die Mutter und das Menschliche in sich tötet. Aber eigentlich darf man so aktivisch nicht formulieren, das gilt auch für Anja in Wild. Diese Figuren entziehen sich mit ihrer Verwilderung der Erklärung, auch für sich selbst. Sie gehen an innere und äußere Orte, an denen sie ein anderes Selbst sind, vielmehr werden. Sie finden sich und sie verlieren sich da – und sie können das eine vom anderen so wenig unterscheiden, wie man als Zuschauer diesen Unterschied machen kann. Sie sind in dunklen Wäldern zuhause, nur dass das nicht geht, die eigene Zivilisiertheit, das Urbane und das Soziale, die Berufs- und Familienmatrix können diese Frauen, so sehr sie es wollen, so sehr etwas sie davon und dahin treibt, nicht hinter sich lassen.
Krebitz‘ Geschichten sind Arbeit am Mythos, sie verhandeln die Grenze von Natur und Kultur, und sie verhandeln sie an Frauenfiguren. Sie erzählen von rites de passages, nur dass es für die Passage hinaus aus der Kultur keine etablierten Riten, keine gespurten Wege, keine Formeln und Vorschriften gibt. Damit aber auch: keinen Ort, an dem die Frauen sich nach der Passage aufhalten können, keinen Raum, an dem sie sich noch als Subjekte (als Mutter, als Angestellte, als Tochter, als Schwester) beschreiben lassen. Was nicht heißen soll, dass es diesen Ort für die Frauen vorher wirklich gab. Das ist ja das, was sie hinaustreibt: Das Zuhause ist kein Zuhause, die Gesellschaft, so wie ist ist, im Großen und Kleinen kein guter Aufenthaltsort. Für das Herz, das ein dunkler Wald ist, ist da eben nicht der richtige Platz. Darum ist diese Medea-Marie nicht die von Eifersucht getriebene rasende Furie; sie vollzieht den sozialen Tod, den sie doppelt und dreifach gestorben ist, im Bungalow in der Stadt, in dem es für sie kein Weiterleben gibt, nur radikal wie konsequent nach.
Es ist richtig und klug, dass sich Krebitz auf Mythen bezieht, dass sie quasi-mythisch erzählt und ihre Konstellationen nicht auf das häusliche Drama und banale Figurenpsychologie reduziert. Marie und Anja sind Frauen, die außer sich sind, nein: geraten. Sie gehen in den Wald, sie verwildern, sie sind in einem anderen Zustand und aus diesem anderen Zustand führt kein Weg mehr zurück. Sie gehen zu weit, und das schön Verstörende ist, dass auch Krebitz in ihren Filmen konsequent zu weit geht. Sie geht zu weit mit ihren Heldinnen mit. Sie folgt der Logik, auf die sie sich mit ihren (und deren) Fantasien einlässt, die aber stets noch am Wirklichen haften. Sie sucht einen Zwischenbereich zwischen der Stadt und dem Wald, der Wildnis und dem Domestizierten, dem Realen und dem Geträumten, zwischen Realismus und Mythos; einen Zwischenbereich, der umso unheimlicher ist, als darin das Outrierte und das Banale, sexuelle Obsession und sexuelle Groteske, Sperma und Blut und blutiger Ernst und bizarre Komik auf miteinander ganz unvermittelte Art ihren Platz darin haben. Also etwa wenn in Das Herz ist ein dunkler Wald Jonathan Meese, von Nägeln befreit, als Christus vom Kruzifix krabbelt und sich durch den Schlitz unter der Tür ins Helle davonmacht. Muss man an der Fernsehredakteurin (in dem Fall interessanterweise: Doris J. Heinze) auch erst mal vorbeikriegen, hinein in den Film. Wie die Metapassagen, in denen das Paar das Paarsein theaterhaft spielt. Ästhetische Wagnisse, von denen ich gar nicht weiß, ob sie gelingen; aber sie machen mich staunen und etwas geht also auf.
Mit diesen zwei Filmen, mit Wald und mit Wild, steht Nicolette Krebitz im deutschen Gegenwartskino ihrerseits an einem sehr eigentümlichen Platz. Es gibt unübersehbare personelle Verbindungen und ästhetische Nähen etwa zu Christoph Hochhäusler und Christian Petzold. Und doch steht Krebitz exzentrisch dazu, ist kein bisschen epigonal, selbst oder gerade dann noch, wenn in Wild Reinhold Vorschneider die Kamera macht. Das sieht in seiner kühlen Brillanz nach Vorschneider aus, aber es fühlt sich nicht nach Schanelec (das schon gar nicht) oder Hochhäusler an. Am eindringlichsten spürbar wird die Differenz im Spiel der Darstellerinnen. Ich habe Nina Hoss (auch bei Petzold) und Lilith Stangenberg (auch in der Volksbühne) nie besser gesehen als bei Krebitz. Sie sind umwerfend bei ihr, weil sie Umgeworfene sind. Das gibt es sonst nie, dass sich die Umrisse einer Hoss-Figur aufzulösen beginnen; was es auch nicht gibt: dass sie geht und geht, schnell, langsam, auf der Straße, durchs Gras, aber sie ist gar keine Hoss-Petzold-Ikone dabei, sie geht über den großen Onkel, sie ist als mythische Figur zugleich fürchterlich Mensch. Als Medea-Marie ist sie verletzt, verletzlich, verloren, schutzlos – und in ihrer Verlorenheit doch entschlossen und stark und zu allem bereit. Bei Petzold ist Hoss doch meist eine, die die Kontrolle zu verlieren droht, aber nie ganz verliert. Die Konturen geraten durch diesen Kampf, den sie verkörpert und darstellt, ins Vibrieren, was für sich großartig ist. Bei und mit Krebitz wagt sie sich aber über diesen Zustand hinaus, wagt sich in den dunklen Wald, lässt diese Schutzlosigkeit und diese Nacktheit zu, die nicht nur eine buchstäbliche ist.
Und Stangenberg erst! Sie lässt sich in Wild vollkommen von der Paradoxie hinreißen, die ihr Spiel im Ansatz immer schon ausmacht: Es ist stark und wild und nahe am Wahnsinn und zugleich kindlich und trotzig, selbstironisch ohne die leiseste Spur jener Reflektiertheit, mit der man das Selbstironische sonst verbindet; eine naive Selbstironie, das kann es eigentlich gar nicht geben, und dass es das bei Lilith Stangenberg gibt, und eben auch bei Nicolette Krebitz, und dass man ihnen das abnimmt, dass da Töne und Stile nebeneinander stehen, die nach konventionellem Verständnis gerade avancierter Ästhetik nicht zueinander passen, das ist sehr toll, ganz egal, ob es nun diesseits oder jenseits der eigenen Geschmacksgrenzen liegt. Man denke daran, wie Anja im Chefbüro, bevor sie es anzündet, bevor sie dann mit dem Chef schläft, was sehr unerwartet sehr komisch endet, wie sie also zwei Raumservice-Männer (Tamer Yigit darunter) in aller Unschuld verführt; und daran, wie diese Anja, und auch der Film, mit Sperma und Blut und Scheiße hantieren, in aller Drastik, aber wie dieser Drastik zugleich Momente unbeholfener Zartheit und einer gar nicht transgressiven Weltfremdheit korrespondieren.
Sowas würde Angela Schanelec oder Christian Petzold niemals passieren. Mir scheint die etwas roughere Kamera von Bella Halben (in Wald) dazu besser zu passen als Reinhold Vorschneiders brillantere Bilder (in Wild). Was umso deutlicher macht, dass der unbedingte Wille zur Kontrolle kein Stärke sein muss, sondern eine Schwäche sein kann. Die Filme von Nicolette Krebitz sind dagegen wild im bestmöglichen Sinn: Sie überlassen sich einem Zustand, in dem etwas außer Kontrolle gerät.