Antalya 2008

Die Türkei privat
Das Antalya-Filmfestival richtet den Blück nach innen

Von Uli Gellermann

Das Persönliche ist das Gewöhnliche: Nur selten denken Menschen gesellschaftlich. Meist ist die neue Wohnung, der alte Job oder der Geburtstag von Tante Margarete das Bestimmende. Dass man sich aufrafft, aus der Alltagssuppe an den Tellerrand zu schwimmen, hat seine Zeit: Die Wahlen, der Stammtisch, die Krise. Diese Einteilung – zuerst der Ölwechsel, dann der Systemwechsel – hat etwas Beruhigendes. Wer weiß schon, ob Veränderungen auch Verbesserungen sind. Doch von der Kunst erwartet man immer die Veränderungen, dass sie den Alltag überwindet, aus dem Gewöhnlichen das Besondere entwickelt und so den gesellschaftlichen Diskurs befeuert. Und manchmal gelingt das auch. Deshalb trifft die Summe der Filme, die man auf einem Filmfestival sieht, nicht nur eine Aussage über den Stand der künstlerischen Verarbeitung, sie gibt auch Hinweise zum Stand der gesellschaftlichen Debatte. Das diesjährige Festival im türkischen Badeort Antalya sagt: Zurück zur Familie als kleinster Zelle des großen Organismus, des Staates. 

Die mit Abstand beste Verarbeitung familiärer Zustände gelingt dem Regisseur Cemal San mit den "Acht Tagen der Dilber". Eine junge Frau (Nesrin Cavadzade) denkt sich lange einem jungen Mann versprochen und glaubt, ihn bald zu heiraten. Heiraten, dass sagt die Mehrheit der Antalya-Spielfilme, das ist der Traum aller Mädchen. Wer aber bei Dilber, der jungen Kurdin an Doris Days ewige Hoffnung auf Rock Hudson denkt, der ist auf dem Gebirgspfad gestrandet, irgendwo dort, wo die Türkei noch so ist, wie die Deutschen sie sich vorstellen: Ländlich, sittlich, unverbildet. Unsittlich nur in ihrer Art Ehen zu arrangieren. Denn Dilbers Freund ist ganz woanders verheiratet, sein Vater hat das schon vor Jahren arrangiert und dessen Wort gilt. Jetzt sollte man dabei gewesen sein, um zu sehen wie Dilber ihre Familie und die ihres Ex-Freundes mit der Hacke bedroht, wie sie versucht den Familienrat umzustürzen und sich selbst, in finsterer Entschlossenheit, im Ziegenstall einkerkert: Das hat Mut und Verzweiflung, das weist auf das Besondere, das immer mal wieder im Allgemeinen vorkommt. Und noch einen Schritt weiter aus dem Rahmen der Konvention geht der Film: Die zweite Hauptrolle, der nächste Mann Dilbers, hinkt. Wer durch Istanbul fährt, wird kaum Behinderte sehen. Es scheint sie nicht zu geben. Man sieht sie nicht, weil nichts in dieser Stand auf Behinderungen eingerichtet ist: Krüppel haben die Öffentlichkeit noch nicht erreicht. Deshalb ist es kühn, dem humpelnden Lehrer aus der nächsten Kleinstadt einen prominenten Platz im Film einzuräumen: Er wird Dilber aus dem Ziegenstall mitnehmen in eine Welt mit elektrischem Licht, mit Fernsehen und einer schüchternen Liebe, deren glimmendes Licht das Gemüt Dilbers erhellt und ihre Entscheidung  für Entscheidungsfreiheit zu einem furiosen Finale treibt. Die Hauptdarstellerin hat das, was Schauspieler haben sollten, in reichem Maße: Ausstrahlung, Wandlungsfähigkeit und jene Schönheit, die von Innen kommt. Zu gern würde man ihr in nächsten Filmen begegnen. 

Die mit Abstand ärgerlichste Verarbeitung familiäre Bedingungen gerät dem Regisseur Erden Kiral in seinem Film "Two Lines". Auch der Mann, der sich mit politischen Filmen einen Namen gemacht hat, der in den 80er Jahren aus der türkischen Militärdiktatur nach Berlin emigrierte, wendet sich dem Privaten zu. Zwei junge Frauen, die sich noch aus ihrer Kindheit kennen, müssen sich den selben Mann teilen. Als sie begreifen, dass dieser unangenehme Macho, der vor Kraft kaum laufen kann und dessen Mimik sich im düster-drohenden Blick erschöpft, nicht ihr Leben bestimmen darf, nimmt der Film eine wundersame, eine rasante Fahrt auf: Die Mädels schmähen die aufgeblasene Männlichkeit, wenden sich dem eigenen Geschlecht zu und beschließen dem schlechten Leben zu entfliehen. Genau bis zu diesem Punkt erzeugt der Film fast alles, was ein Film bewegen kann: Mitgefühl, Spannung und die Entwicklung von Menschen. Und dann folgt in der zweiten

Hälfte die Moral: Die eine der Frauen wird von dem Muskel ohne Hirn erschlagen, die andere wird in Istanbul zur Hure und zu jenem Wrack, das beiläufig, fast versehentlich den einst geteilten Mann erschießt. So ist das mit der Emanzipation, will uns der Veteran Kiral erzählen, sie landet im Abseits. Schon in Istanbul, jener Fünzehn-Millionen-Stadt mit dem rapiden Wachstum, angekommen, ist das moderne Paar in der mondänen Wohnung mit dem weltbekannten Problem der oberen Mittelschicht: Langeweile. Nichts rappelt mehr in der Beziehungskiste des Films "Two Lines". Und weil der komplizierte Moloch Stadt die beiden Menschen erschöpft hat, machen sie sich auf, zum Land, dass wegen seiner Einfachheit zu loben ist. Diese Landpartie landet nicht im Lustigen, sie schließt kurz: Der Mann nimmt sich die schwierige Frau mal richtig vor und seine Probleme scheinen wie weggeblasen, was mit den Problemen der Frau wird, will der Regisseur nicht wissen.

So genau wollten die Kinder in der nächsten Familie, in "Pandora's Box" von Yesim Ustaoglu es auch nicht wissen: Mutter ist verschwunden, sie hat Alzheimer und ist auf dem Land verloren gegangen. Den zwei Töchtern und dem Sohn kommt die neue Verantwortung in die Quere. Man hat sich in der Stadt eingerichtet, die eine in einem Ehe-Ambiente von "Schöner Wohnen", die andere in einer Karriere, garniert mit einer unglücklichen Liebe, der Sohn im Dunst von Bier und Marihuana. Was sollen sie mit Mutter in Istanbul? Doch der Enkel, mit dem satten Ekel der zweiten Generation derer, die es geschafft haben, ausgestattet, bringt die verwirrte Oma zurück in die Berge: So als ob das Land die Stadt heilen könnte, als könne das Einfache das Komplizierte lösen. Es sind die schnellen Sprünge der Einwohnerzahlen, die Istanbul jene extreme Spannung der Mega-Städte einträgt, aus der die Zerreissproben gemacht sind. Waren es 1965 noch knapp zwei Millionen Einwohner, sind es 1995, nur 30 Jahre später, schon rund acht Millionen und nach weiteren zehn Jahren steuerte die Stadt die 15-Millionen-Grenze an. Unter der bekannt brutalen Regie des Weltwährungsfonds hat sich zwar das Wirtschaftswachstum rapide erhöht, aber zugleich wachsen Landflucht, Armut und Arbeitslosigkeit. Der gnadenlose Konkurrenzkampf um Jobs und Überleben findet seine Entsprechung im Straßenverkehr: Türkische Autofahrer scheuen nicht den Tod, wenn sie auch nur fünf Meter weiterkommen können. Der vornehm 'Schattenwirtschaft' genannte schwarze Markt hat zufolge, das jeder dritte Türke den beiden anderen irgendetwas verkauft. Es ist eine Welt, in der im oberen Drittel der Bevölkerung die Neurosen blühen und unten die Angst regiert. 

Die künstlerische Behandlung der Probleme kann man angehen wie der Regisseur Semih Kaplanoglu, mit seinem Film "Milk", der mit manierierten Gesten, dem minutenlangen Glotzen auf einen Punkt in der Landschaft oder auf ein Gesicht, der familiären Verzweiflung mit der süßliche Lasur seiner Ästhetik eine schicke Schönheit gibt, wenn er von einem jungen Poeten in der Provinz erzählt, der natürlich scheitert, sonst wäre er ja kein Poet. Das ist noch zu steigern, wenn man wie Nuri Bilge Ceylan mit "Three Monkeys" das Scheitern einer kompletten Kleinfamilie in fast zwei Stunden erzählt, wo es doch auch in einer Viertelstunde möglich gewesen wäre. Natürlich ist im Privaten auch das Gesellschaftliche zu erkennen, aber die Kunst muss schon den Mut aufbringen, die Brutalität einer Gesellschaft zu enthüllen, statt sie mit schönem Schein zu umhüllen, wie in ungedeckte Wechsel eingepackt.  

Die türkische Armee hat ein Jahresbudget von deutlich mehr als 10 Milliarden Dollar. Nächst den USA unterhält die Türkei mit weitem Abstand die größte Zahl aktiver Soldaten in der Nato. Einen Teil dieser Armee sieht man nie, man hört sie nur überlaut und deutlich, wenn die Kampfflugzeuge der Luftwaffe alle paar Minuten über der verrotteten Hütte von Großvater, Vater und Tochter aufheulen. Die Behausung steht dort, wo die Müllberge der großen Stadt sich in die Landschaft erbrechen, wo die kleine Familie am Ufer eines unromantischen Bosporus ihren Tagesablauf im gewöhnlichen Wahnsinn beerdigt. Großvater ist an die Sauerstoffmaschine gefesselt, Vater unterhält ein schlecht gehendes Schmuggelunternehmen und bringt mit seinem Boot den Mannschaften der großen Schiffe für kleines Geld Huren in die Kajüten. Die vielleicht vierzehn Jahre alten Tochter Hayat  scheint der einzige Lichtblick im Sumpf verrottender Existenz des Films "My Only Sunshine" des Regisseurs Reha Erdem zu sein. Streng und geheimnisvoll zeigt uns die junge Schauspielerin  Elit Iscan das Mädchen Hayat: Auf dem Weg zur Schule, auf dem steinigen Pfad der Selbstbehauptung, in der Höhle einer Gesellschaft, die muslimische Reinheit predigt und ihren Dreck gerne mit dem Mantel heroischen Türkentums drapiert. Dort, auf der Kehrseite der Istanbuler Postkartenbilder, wird die zarte und so tapfere Hayat zur Ware, zum sexuellen Pfand des verschuldeten Vaters, zum Gebrauchsgegenstand eines schmierigen Vortstadtkrämers, zur professionellen Hoffnung der alternden Puffmutter. Der radikale Film des Reha Erdem nimmt die Familie auseinander, bricht die scheinbare Idylle in Stücke und redet kein einziges Wort über Politik und doch weiß man in jeder Filmsekunde: Der Spass der happy few muss ein Ende haben, der ewige Ölwechsel einer geschmierten Staatsmaschine muss in einen anderen Wechsel münden, wenn man dem Leben der Hayat eine Perspektive geben will. Ich habe in einem komplizierten Land, auf einem kleineren Festival einen einfach großen Film gesehen.  

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Uli Gellermann zum Filmfestival Antalya 2007