Toni Erdmann

Sven von Redens Text zu Maren Ades „Toni Erdmann“ ist die letzte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST (Nr. 18/2015) veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Toni Erdmann“

Sven von Reden

Kein Film wird im luftleeren Raum beurteilt. Immer spielen Erwartungen und Kontext wichtige Rollen. Das gilt für „Toni Erdmann“ besonders. Weil es sieben Jahre gedauert hat, bis Maren Ade den Nachfolger ihres Silberner-Bär-Gewinners „Alle anderen“ präsentiert hat, weil „Toni Erdmann“ der erste deutsche Film im Wettbewerb von Cannes seit acht Jahren war, weil er zudem von einer Filmemacherin ist – ebenfalls ungewöhnlich beim wichtigsten Festival der Welt.

Umso schöner ist, dass der Film unter all der Repräsentationslast nicht zusammengebrochen ist: „Toni Erdmann“ mag in Cannes zwar keinen Preis gewonnen haben, aber dafür Herzen. Er wurde sowohl vom Publikum als auch den Kritikern begeistert aufgenommen, zwei Zuschauergruppen, die bekanntlich nicht immer in ihrer Meinung übereinstimmen.

Dass „Toni Erdmann“ trotz seiner 142 Minuten Länge auch Potential als Publikumsrenner hat, hebt ihn zusätzlich heraus. Die Möglichkeit zum Crossover-Hit zu werden liegt gewissermaßen in der DNA des Films begründet. Verbinden seine Figurenkonstellation und die Grundzüge des Plots doch zwei populäre Narrative: Da ist zum einen die universelle Geschichte der Aussöhnung in einer Familie – hier zwischen Vater und Tochter – und zum anderen das Aufeinandertreffen eines männlichen “Losers” und einer weiblichen Figur, die auf verbissene Weise an gesellschaftlichem Status orientiert ist – eine beliebte Situation aus den Produktionen von Judd Apatow und anderer US-Komödien der letzten Jahre.

Das Genie von Ade liegt darin, wie sie diese bekannten Zutaten abwandelt und auf unvorhersehbare Weise in ihren eigenen Kosmos überführt. Aus den jungen Losertypen der US-Filme macht Ade den Alt-68er Musiklehrer Winfried, der gerade seinen letzten Schüler verloren hat und seine Umgebung mit ständigen Streichen und Scherzen nervt. Seine Tochter Ines ist eine ehrgeizige Unternehmensberaterin, die wenig Verständnis hat für den entspannten Lebensstil ihres Vaters. Als Winfried seine Tochter in Bukarest besucht, wo sie gerade arbeitet, ist er dagegen entsetzt von ihrem freudlosen, einzig um die Arbeit kreisenden Leben. Auftritt: Toni Erdmann, Winfrieds Alter Ego. Mit zotteliger Perücke, schäbigem Anzug und falschen Zähnen versucht er als angeblicher “Lebenscoach” Ines aus der Reserve zu locken. Es ist klar, dass es zu irgendeiner Art von Annäherung von Vater und Tochter kommen wird, Ade vermeidet aber Aussöhnungskitsch und eine abgeschlossene Erzählung. Stattdessen nimmt der Plot immer wieder überraschende Wendungen.

Die 39-Jährige erzählt also von einem umgekehrten Generationenkonflikt: Hier sind es nicht die Jungen, die gegen die verknöcherten, verspießerten Alten aufbegehren, sondern die „goldene“ bundesdeutsche Nachkriegsgeneration, die den im globalisierten Verdrängungswettkampf gestählten Kindern rät, sich mal locker zu machen. Diese Art der Umkehrung hat es in den letzten Jahren auch öfter in der amerikanischen Komödie gegeben – zuletzt etwa in »Ricki« mit Meryl Streep. Während dort die Alten aber gewöhnlich nur lernen müssen, weniger selbstbezogen zu sein, und die Jungen, mehr Toleranz zu üben, ist das Verhältnis der Generationen bei Ade verwickelter. Hinter „Toni Erdmann“ steht auch die Frage, inwiefern Ines und ihr Vater nicht zwei Seiten der selben Medaille sind. Inwiefern die Karrierefrau die Werte zugleich verkörpert und pervertiert, die ihr Vater ihr vermittelt hat: Selbstbestimmtheit, Selbstbewusstsein und Kreativität. Überspitzt formuliert lässt sich fragen: Hat Ines aus Winfrieds Freiheit des Lebensentwurfs die Freiheit des Kapitals gemacht, die sie jetzt hilft, im ex-kommunistischen Südosteuropa durchzusetzen?

Dass sich im Windschatten des Neoliberalismus eine egalitäre Meritokratie etablieren könnte, mag dabei zwar Ines Hoffnung sein, Ade zeigt aber, wie in der Realität ältere Hierarchien weiterhin wirkmächtig sind: Etwa wenn sie von einem Auftraggeber dazu verdonnert wird, mit seiner jungen, hübschen Frau shoppen zu gehen. Oder wenn sie merkt, dass sie ernster genommen wird, wenn ihr Vater dabei ist – so seltsam der sich auch aufführen mag. Ines hat völlig verinnerlicht, dass sie sich wie die Männer um sie herum verhalten muss, um vorwärtszukommen: „Ich bin keine Feministin, sonst würde ich Typen wie dich nicht tolerieren“, erklärt sie einmal ihrem Chef ohne Anflug von Ironie.

„Toni Erdmann“ erzählt also nicht nur eine Vater-Tochter-Geschichte, es geht auch um den (post)modernen Kapitalismus, das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der EU und Sexismus in der Arbeitswelt. Dabei wirkt die thematische Spannbreite niemals forciert, ebenso wie die schwierigen Tonwechsel zwischen Komik, Tragik und surrealen Momenten immer gelingen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Ade ihren dritten Spielfilm sicher in den beiden Hauptfiguren verankert, für die sie zwei herausragende Darsteller gefunden hat. Sandra Hüller gibt Ines eine Fassade stählerner Entschlossenheit hinter der aber jeden Moment der Nervenzusammenbruch droht. Peter Simonischek meistert die noch schwerere Aufgabe, zu spielen, wie seine Figur (amateurhaft) jemand anderen spielt.

So wichtig das Script und die beiden Darsteller für das Gelingen des Filmes sind, es ist auch die völlig auf sie ausgerichtete Form, die „Toni Erdmann“ zusammenhält. Schon mit der ersten betont unspektakulären Einstellung auf eine deutsche Durchschnittshaustür und Recyclingmülltonne machen Ade und ihr Kameramann Patrick Orth klar, dass die Bildebene hier nicht auf sich selber aufmerksam machen soll, sondern ganz den Figuren und der Geschichte dient. Orths Handkamera reagiert flexibel auf die Schauspieler, wird aber niemals selber als „Effekt“ eingesetzt, der etwa besondere Authentizität suggerieren soll.

Vielleicht ist das der einzige Kritikpunkt, den man an „Toni Erdmann“ äußern könnte: Er entkommt der typisch deutschen Formfeindlichkeit nicht, sondern bewegt sich im Rahmen des von den Förderanstalten so bevorzugten auf Drehbuch, Handwerk und Schauspiel fixierten „mittleren“ Realismus. Um auf die eingangs beschriebene Erwartungshaltung und die Repräsentationslast zurückzukommen: „Toni Erdmann“ rettet das deutsche Kino nicht. Er ist einfach ein sehr guter Film einer sehr talentierten Filmemacherin.