Notizen zum Kino 1: Filmpolitik und Kultur

Immer auf den größten Haufen
Eine filmpolitische Wende gefährdet den Film als kulturelles Gut
von Josef Schnelle

 

Glaubt man den filmpolitischen Verlautbarungen der zuständigen Ministerin Christina Weiss, gibt es jede Menge Grund zum Jubel. Der deutsche Film hatte 2004 einen Marktanteil von über 20 Prozent. Festivalerfolge wie der Goldene Bär in Berlin für Gegen die Wand von Fatih Akin und das achtbare Abschneiden von Die fetten Jahre sind vorbei in Cannes nach Jahren der Abwesenheit deutscher Filme im dortigen Wettbewerb begeistern die Branche. Beim europäischen Filmpreis gewann nach Goodbye Lenin von Wolfgang Becker mit Gegen die Wand zum zweiten Mal hintereinander ein deutscher Film. Bernd Eichingers aufwändiger Hitlerbunkerfilm Der Untergang wurde aussichtsreich für den Oscar nominiert. Das sieht doch glatt so aus, als habe die Filmpolitik endlich einen grundsätzlichen Wandel erreicht.

Zwei Projekte zeitigen Resultate. Die Novellierung des Filmförderungsgesetzes (FFG) und die Reform des Deutschen Filmpreises. Der wird 2005 erstmals nicht mehr von einer Jury ausgelobt, sondern von der neugegründeten Deutschen Filmakademie, in der die Filmwirtschaft sich nach dem Vorbild der Oscar-Academy organisiert hat, um den höchstdotierten deutschen Kulturpreis in Eigenregie zu vergeben. Anfangs hielt man das Ganze für einen schlechten Scherz, ausgedacht an der Bar des Berliner Adlon-Hotels im ersten Ärger über einige Juroren des deutschen Filmpreises, die partout sperrige Filme wie Dominik Grafs Der Felsen mit Preisen bedachten, anstatt ihn Bully Herbig für seinen Publikumshit Der Schuh des Manitu hinterher zuwerfen. Bernd Eichinger – Filmproduzent mit Büros in München und Los Angeles – ärgerte sich heftig und lautstark in eigener Sache, schimpfte auf inkompetente Juroren und forderte statt dessen die Gründung einer deutschen Filmakademie, aber nur, wenn sie auch den deutschen Filmpreis vergeben dürfe.

Irgendwie ging dann alles sehr schnell. Auf einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien im Juni 2003 durften Kritiker der "Initiative der Filmwirtschaft, eine Filmakademie einzurichten" noch einwenden, dass die Zielsetzung des deutschen Filmpreises ja eigentlich die "Förderung der Filmkultur" sei und man deshalb der Branche nicht eine derartige Selbstbedienung gestatten dürfe. Schließlich handelt es sich bei den drei Millionen Fördergeldern im Grunde um den Kern der kulturellen Filmförderung des Bundes, denn für das Geld müssen Filme gedreht werden. Katja Nicodemus schrieb in der "Zeit": "Nicht weniger als eine lebendige Filmkultur steht auf dem Spiel." Diverse offene Briefe, unterzeichnet von Filmemachern, Filmkritikern und Filmhistorikern, nützten nichts mehr. Die Staatsministerin war offenbar entschlossen, der deutschen Branche für ihre Akademie und ihren Preis die "Staatsknete" zu überlassen. 2005 wird der deutsche Filmpreis also erstmals von der sich selbst organisierenden Branche verliehen. Die deutsche Filmwirtschaft verteilt – ohne störende Filmkritiker oder Filmhistoriker – künftig das Geld aus dem Kulturetat autonom unter sich. So unverbrämt ist Kulturförderung noch nie in reine Wirtschaftsförderung umgewandelt worden.

Die Urabstimmung unter den Filmleuten wird naturgemäß nicht mehr das Sperrige, Experimentelle auszeichnen, sondern das Publikumswirksamste und Erfolgreichste. "Wie beim Oscar in Amerika werden dann die Filme ausgezeichnet, die an der Kinokasse erfolgreich waren und da liegt die Constantin im Moment auf Platz 1. Glückwunsch." Schrieb der inzwischen verstorbene Horst Wendtland, einer der wenigen Gegner der Idee aus der Branche. Nichts gegen wirtschaftliche Filmförderung. Das leisten andere Förderungsinstitutionen aber schon zur Genüge. Die Länderförderungen, allen voran die aus NRW, machen das vorbildlich. Auch war der Deutsche Filmpreis, als er noch nach dem Jury-Prinzip ausgelobt wurde, über die Jahre hin mehr und mehr in die Nähe einer Selbstbedienung der Branche gerückt. Von drei Filmkritikern in der Jury blieb am Ende nur noch einer übrig, der wenig ausrichten konnte gegen immer mehr Branchenmenschen, weswegen die Jury des deutschen Filmpreises in den letzten Jahren nicht eben überraschend entschied. Trotzdem wurde heftig gestritten und diskutiert.

Das ist nun vorbei. Die erste autonome Akademie-Entscheidung im Sommer 2005 wird deutlich zeigen, wohin die Reise geht. Noch sind nicht einmal die Nominierungen bekannt. Aber kann die Akademie an den Erfolgsfilmen der Constantin, an „er Untergang und an Bully Herbigs Raumschiff Periode 1, überhaupt vorbei? Will sie das überhaupt? Auch wenn die Initiatoren erklären, "kommerzielle Aspekte künstlerischen vorzuziehen, kommt den Kreativen sicher nicht in den Sinn". Bei der Vergabe des Bayerischen Filmpreise 2005 gingen neun von zwölf Preisen an eine einzige Firma. Natürlich ist noch das kleine Berliner Ministudio X-Filme mit im Rennen. Aber eine Maßnahme zur Förderung der Innovation ist der Deutsche Filmpreis wohl nicht mehr.

Man könnte das Ganze als Unfall begreifen, wenn nicht die zweite große filmpolitische Initiative in die gleiche Richtung ginge. Nach jahrelangen runden Tischen startete Anfang das neue Filmförderungsgesetz mit einer Reform der Referenzfilmförderung. 150.000 Referenzpunkte (was so viel wie Zuschauer bedeutet) muss ein Film erreichen, um in den lukrativen Genuss der aus einer Kinokartenabgabe von 2,6 Prozent, einer Abgabe der Videowirtschaft von 2,2 Prozent sowie freiwilligen Leistungen der Fernsehwirtschaft von 23 Millionen finanzierten Leistungen zu kommen. Die Fernsehanstalten erbringen ihren Anteil teilweise mit Sachleistungen, mit Werbespots etwa für Filme, die sie selbst produziert haben. Neu ist: Auch mit Festivalerfolgen und sogar mit der bloßen Teilnahme kann ein Film Referenzpunkte sammeln. Die gelten allerdings nur, wenn man vorher mindestens 50.000 Besucher ins Kino gelockt hat. Der Hauptpreis in Cannes, Berlin oder Venedig oder ein Oscar bringen dann 300.000 Referenzpunkte. Nominierungen und Festivalteilnamen bei den genannten Großereignisse immerhin noch 150.000 Punkte.

Außerdem gibt es noch die nachgereichte Liste mit den sonstigen bedeutenden internationalen Festivals: Rotterdam und Locarno, San Sebastian und Sundance, Shanghai und Karlovy Vary gehören dazu, außerdem das Trickfilmfestival von Annecy. Im neuesten internationalen Festivalführer, nach dem Filmproduzenten entscheiden, an welches Festival sie ihren Film schicken, ist die Möglichkeit, durch Teilnahme am Wettbewerb oder Preise Referenzpunkte zu sammeln, schon als fett gedruckter Standortvorteil vermerkt. Unter den kleineren Festivals, beispielsweise dem renommierten Festival von Chicago, geht deswegen die Sorge um, deutsche Filme nicht mehr angeboten zu bekommen. Wenn man weiß, wie hart der Kampf um die Filme zwischen den Festivals ist und wie schnell ein Film falsch positioniert untergehen kann, ist das durchaus keine unproblematische Fördermaßnahme für den deutschen Film. Für Dokumentar- und Kinderfilme gelten besondere, niedrigere Punkteklauseln.

Insgesamt jedoch hat man sich unnötig einschränken lassen und nicht etwa, wie von sachkundiger Seite vorgeschlagen, das österreichische Fördermodell übernommen, das einen differenzierten Bewertungskatalog zahlreicher wichtiger Festivals entwickelt hat. Auch hätte man zur Förderung kleinerer Filme, für die 100.000 Zuschauer durchaus ein Erfolg sein können (auch weil sie weniger gekostet haben als die Filme der großen Studios), auf die untere Referenzgrenze von 50.000 Besuchern ganz verzichten und stattdessen eine kontinuierliche Steigerung vorsehen können. Das verteilte Geld wäre gleich geblieben, aber eben ein bisschen anders verteilt worden. Alle Maßnahmen (die Vergabe des  Deutschen Filmpreises durch die Deutsche Filmakademie und auch das neue FFG) führen zu einer immer stärkeren Konzentration. Und weil es in Deutschland nur wenige wirklich große Produktionen gibt, haben Newcomer und Außenseiter nur noch geringe Chancen, an diese Fördertöpfe zu partizipieren.

Schon jetzt geht jede dritte Kinokarte an einen der Filme aus den Top-Ten, und wenn vom Kinoaufschwung mit noch mehr Kinobesuchern geredet wird, dann sind dabei vor allem die großen Kinokomplexe gemeint. Die Programmkinos für das anspruchsvolle Kunst-Kinoprogramm hingegen schwächeln. In vielen Städten sind sie nahezu aus der Kinolandschaft verschwunden. Innovative und auf den ersten Blick schwierige Filme haben es also auch dort schwer, an ein Publikum zu kommen. Kommunale Kinos werden vielerorts gar nicht mehr angeboten oder unterstützt. Wie auf diese Weise die von der Politik geforderte "Förderung der Filmkompetenz von Schülern und Jugendlichen" verbessert werden soll, bleibt ein Rätsel.

Die Verdrängung des Films als Kulturgut ist aber auch für die Nutznießer der neuen Filmpolitik nicht ohne Risiko. Das ganze deutsche Fördersystem ist schließlich aus der Krise eines Produzentenkinos entstanden, auf das die Entwicklung der Filmpolitik wieder hintreibt. Innovationen kamen und kommen niemals aus dem Mainstream der Erfolgsformeln. Anfang der 1960er-Jahre hatte sich mit Sexfilmen und seichten Komödien Opas Kino totgelaufen. Der junge deutsche Film meldete sich mit dem Oberhausener Manifest zu Wort und forderte neue Strukturen, unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Zwängen. Alles, was wir heute Filmförderung nennen, geht auf diese Gründungsurkunde des deutschen Autorenfilms zurück, der dem deutschen Film mit Rainer Werner Fassbinders neuem Filmstil bis zu Volker Schlöndorffs Blechtrommel wieder weltweite Beachtung brachte. Vielleicht muss ja wieder ein Manifest her, eine Sammelbewegung der Außenseiter des deutschen Films – ein "Independent Film Award" zum Beispiel, dessen amerikanisches Pendant den Oscars in Amerika heftige Konkurrenz macht. Oder ein Umdenken bei der Politik, die bei Innovationsförderung offenbar nur an den Nachwuchs oder an den Kurzfilm zu denken scheint.

Einen ersten Film kann in Deutschland fast jeder machen, der eine Filmhochschule absolviert. Der zweite ist dann schon fast unfinanzierbar. Wie in der Popmusik-Branche sucht man in Debüttests nach neuen Stars und lässt 90 Prozent wieder fallen, weil sie nicht auf Anhieb am Markt funktionieren. Die Folge ist ein dramatischer, sozusagen bereits vorprogrammierter Karriereabbruch. Wer darauf besteht, als Kinokünstler souverän nur nach seiner eigenen Konzeption zu arbeiten – so individuell, wie man es in anderen Künsten für selbstverständlich hält – hat wenig Chancen. Die Finanzierung des 29. Films, das erfuhr übrigens Volker Schlöndorff kürzlich mit Der neunte Tag, kann trotz aller Verdienste um den deutschen Film noch schwerer sein – wenn man sich abseits des Formelkinos bewegt. Auf den großen Haufen der Erfolge immer noch einen drauf zu legen, scheint derzeit das Erfolgsrezept der Filmpolitik zu sein. So kann man wenigstens immer mitfeiern und alles für sich reklamieren, und das alles auch noch ohne jedes Risiko. Für den deutschen Film ist diese Mentalität verhängnisvoll. Opas neues Kino kommt bestimmt. Hoffentlich dann auch wieder ein "Neuer deutscher Film".

Josef Schnelle
© VdFk 2005

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