Nachruf auf Heinz Kersten (1926-2022)

Am 21. Februar 2022 ist der Kritiker Heinz Kersten verstorben. Ein Nachruf von Ralf Schenk.

Heinz Kersten bei der Verleihung des Ehrenpreises der DEFA-Stiftung 2011 (Foto: © DEFA-Stiftung/Reinhardt & Sommer)

Das ausgelöffelte Leben

Zum Tod des Filmkritikers Heinz Kersten (12.12.1926 – 21.2.2022)

Drei Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine starb der Berliner Filmkritiker Heinz Kersten. Diesen Krieg noch miterleben zu müssen, ist ihm erspart geblieben; es hätte ihm das Herz gebrochen, zwei Länder, an deren Kunst er so sehr hing, in einer wahnwitzigen Schlacht gegeneinander antreten zu sehen. Kersten liebte die russische wie die ukrainische Kultur, vor allem den Film. Überhaupt interessierte ihn alles, was im osteuropäischen Kino vor sich ging, brennend. Noch als über Neunzigjähriger besuchte er, wenn es seine Gesundheit erlaubte, die entsprechenden Berliner Pressevorführungen, und lange auch die Festivals in Cottbus und Wiesbaden, die sich dem osteuropäischen Film verschrieben haben. Seine Entdeckungen teilte er, noch vor Ort und bevor er sie an seine Leser weitergab, gern auch jüngeren Kollegen mit: Das müsst Ihr unbedingt sehen! – Ich erinnere mich noch gut an Begegnungen aus den 1980er-Jahren beim Festival in Moskau, wo er mich (und andere) uneigennützig darauf hinwies, in welcher halbinternen Vorführung die neuesten Perestroika-Filme gezeigt werden würden. Er hatte seine Kanäle, aber er behielt die Nachrichten, die er daraus bezog, nicht für sich: So viel Kollegialität war damals und ist auch heute nicht unbedingt die Regel in der Zunft derjenigen, die sich von Filmkritik ernähren.

Heinz Kersten, geboren unter den Namen Herbert König als Sohn eines Steuerinspektors am 12. Dezember 1926 in Dresden, schrieb viele Jahre als freier Autor u.a. für den Rias, das „Deutschland-Archiv“ und den „Tagesspiegel“, die „Frankfurter Rundschau“, den „Kölner Stadtanzeiger“ und die „Neue Zürcher Zeitung“, zuletzt auch für den „Freitag“, das „Neue Deutschland“ und „Ossietzky“. Aufgewachsen im Sächsischen, was man seiner Sprachmelodie anmerkte, wurde er, gerade volljährig, zur Wehrmacht einberufen. Er kam in Kriegsgefangenschaft, studierte danach an der Berliner Humboldt-Universität und ab 1948 an der Freien Universität. Er wollte Journalist werden, und er liebte die Kultur, eine Liebe, die er in der zwar gespaltenen, aber noch lange offenen Stadt Berlin aufs prächtigste ausleben konnte. Mitten im Kalten Krieg erlebte er seine Politisierung, und neben den Kulturberichten, die er über Theater und Kino verfasste, schrieb er auch zwei Bücher: „Aufstand der Intellektuellen“ (1957) über die antistalinistischen Aufbrüche von Schriftstellern und Künstlern in Ost-Berlin Mitte der 1950er-Jahre, und, herausgegeben vom Bonner Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, „Das Filmwesen in der sowjetischen Besatzungszone“ (1963). Damit legte er die erste kompakte Geschichte der DEFA vor, die aufgrund ihres Faktenreichtums und ihrer hohen Sachkenntnis auch in der DDR, wenngleich hinter vorgehaltener Hand, als Standardwerk geschätzt wurde. In diesem Buch blätterte Kersten kulturpolitische Kontexte der Filmherstellung auf, reflektierte Aufbrüche und Krisen, die Wellenbewegungen zwischen Tauwetter und neuen Eiszeiten. Dabei schrieb er nicht mit ideologischem Schaum vor dem Mund, sondern blieb sachlich und authentisch – was das Buch bis heute zu einer wichtigen Quelle macht.

Nachdem 1961 die Mauer gebaut worden war, wollte Kersten, so gut es ging, weiter dazu beitragen, mit Kunstkritik die auseinander driftenden Systeme beieinander zu halten: Sein Journalismus sollte ein Bindeglied bleiben. In seinem Erinnerungsbuch „Filicudi oder Das ausgelöffelte Leben“ (2018) gab er erstmals Einblick in die ganz speziellen Erfahrungen, die er in den frühen 1960er-Jahren damit machen musste: Die Staatssicherheit der DDR, die ihn schon seit langem im Visier hatte, holte ihn im Juni 1964 aus dem Zug, mit dem er gerade von einer Prag-Reise nach Westberlin zurück wollte, und steckte ihn für 15 Monate ins Gefängnis Hohenschönhausen. So wie er es zuvor schon im Westen abgelehnt hatte, neben seinen journalistischen auch geheimdienstliche Tätigkeiten aufzunehmen, ließ er nun auch die Stasi an sich abprallen: Ihre Werbung kam für ihn nicht infrage. Freigekauft vom Westberliner Senat, setzte er seine journalistische Arbeit fort.

Trotz seiner Hafterfahrung verstand er sich weiterhin als Kritiker, der die Film- und Theaterkunst des Ostens für den westdeutschen Leser transparent machen wollte. In der legendären Zeitschrift „filmkritik“ veröffentlichte er als Erster schon 1966 eine vierteilige Analyse der filmpolitischen Zustände nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED, nach dem zwölf DEFA-Filme in den Giftschrank wanderten. Später besuchte er nahezu alle Theater- und Filmpremieren in Ost-Berlin, wurde Freund und Partner zahlreicher DDR-Künstler, trug mitunter auch zu ihrem Schutz bei, indem er „drüben“ auf sie aufmerksam machte: Rainer Simon und Iris Gusner, Evelyn Schmidt und Siegfried Kühn schätzten ihn sehr. Für sie war er mehr als nur einer von vielen Rezensenten, er war charmanter Ratgeber, solidarischer Helfer. Seine Texte versammelte er in zwei Büchern: „So viele Träume“ (1996) übers Kino und „Mehr als Theater“ (2006) über seine großen Ost-Berliner Bühnenerlebnisse.

Den Freunden der deutschen Kinemathek und dem „Arsenal“, das für ihn gewissermaßen zu einer universalen Filmschule wurde, fühlte er sich ebenso verbunden wie den Festivals in Leipzig, Mannheim, Solothurn, Oberhausen und Saarbrücken, die er bis ins hohe Alter bereiste und für die er teilweise auch als Berater tätig war. Als er 2011 den Preis der DEFA-Stiftung für sein publizistisches Lebenswerk erhielt, hieß es in der Laudatio: „Er bleibt seiner Lebensliebe Kino treu, lässt in den Texten spüren, dass engagierte Kunst und politisches Engagement gegen die Ungerechtigkeiten der Welt führ ihn zusammen gehören.“

Am 21. Februar 2022 ist Heinz Kersten, der stets quirlige und herzliche Mann mit der lustigen grauen Locken- und Bartpracht, in Berlin gestorben. In keiner der vielen Zeitungen und Zeitschriften, für die er teils Jahrzehnte schrieb, fand ich dies auch nur vermeldet. Nicht nur dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze; auch dem Kritiker nicht… – Vielleicht erinnert sich wenigstens das eine oder andere Festival an den unermüdlichen Rezensenten, und zeigt ihm zu Ehren einen seiner Lieblingsfilme aus dem reichen Arsenal des osteuropäischen Kinos.

Ralf Schenk

Dieser Test ist zuerst auf filmdienst.de erschienen. Zweitveröffentlichung mit Dank an den Autor und den Filmdienst.