Love

Sven von Redens Text zu Gaspar NoésLove ist die vierte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Love“ von Gaspar Noé

Sven von Reden

Nur im Hinblick auf den Gesamtumsatz war „Avatar“ der profitabelste 3-D-Kinofilm aller Zeiten. Im Verhältnis zu seinen Produktionskosten konnte der heute weitgehend vergessene „The Stewardesses“ aus dem Jahr 1969 einen wesentlich größeren Erfolg verbuchen. Er kostete lediglich 100.000 Dollar, spielte aber im ersten Jahr 25 Millionen ein. Zum Vergleich: „Avatar“ hätte das Dreißigfache – also 60 Milliarden Dollar! – umsetzen müssen, um aufzuschließen. Der Erfolg dürfte nicht unbedingt an der Qualität von „The Stewardesses“ gelegen haben – es ist ein (Soft)Sexfilm. Trotz seines überragenden Erfolgs – und der folgenden Pornofilm-Welle der frühen siebziger Jahre – blieb der stereoskopische Sexfilm seltsamerweise eine Ausnahme.

Es verwundert kaum, dass Gaspar Noé diesen Faden mit „Love“ nun wieder aufnimmt. Der in Frankreich lebende und arbeitende Argentinier teilt mit Lars von Trier die Lust am Skandal(film). Auch wenn beide Regisseure ihre Werke meist im Kunstkino-Mekka Cannes der Weltöffentlichkeit präsentieren, haben Sie nicht vergessen, dass das Kino einmal eine Jahrmarktsattraktion war – und bewerben es dementsprechend.

Das in Cannes präsentiert erste Filmplakat schürte die Erwartung, dass „Love“ an Exploitation-Filme wie „Stewardesses“ anknüpft: Zu sehen sind hauptsächlich drei Münder in Großaufnahme, die sich einen Zungenkuss geben. Auf der Wange der vorderen Frau steht „Love“ und „3D“. Von der Schrift tropft zäh eine weiße Flüssigkeit, die wohl an Sperma erinnern soll. Das orange Licht und die abgerundeten Ecken geben dem Bild einen Siebziger-Jahre-Look.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Plakat verspricht vielleicht mehr, als der Film hält – in der Hinsicht zumindest ähnelt „Love“ vielen Exploitation-Filmen der Vergangenheit. Es ist zwar „echter“ Sex zu sehen, aber sensationsheischend wird der 3D-Effekt eigentlich nur in einer Einstellung eingesetzt, in der Hauptdarsteller Karl Glusman frontal in den Zuschauerraum ejakuliert – so wie in vielen stereoskopischen Action-Filmen Pfeile, Kugeln oder andere Gegenstände in Richtung Zuschauerraum geschleudert werden.

Ob man die diversen Sexabenteuer, die die von Glusman gespielte Figur Murphy auslebt, als provokant empfindet, hängt davon ab, wie sehr man sich traditionellen Moralvorstellungen verpflichtet fühlt. Noé hat in früheren Filmen wie „Menschenfeind“ (1998) und „Irreversible“ (2002) in extrem verstörenden Sequenzen sexualisierte Gewalt in Szene gesetzt, im Vergleich dazu wirkt sein neues Werk harmlos. Ob Fremdgehen, Sex mit der Nachbarin, der auf dem Plakat schon angekündigte Dreier, ein Ausflug in den Swinger-Club – die pornographischen Szenen in „Love“ zeigen (mit einer Ausnahme) sehr weit verbreitete Phantasien.

Auch die Geschichte basiert auf einem bekannten Muster. Verkompliziert wird sie lediglich dadurch, dass Noé nicht chronologisch erzählt. Zu Beginn von „Love“ wacht Murphy verkatert an einem Neujahr auf. Über seinen inneren Monolog erfährt der Zuschauer, dass er mit seinem Schicksal hadert. Seine Freundin Omi liebt er nicht. Dennoch hat das Paar gerade ein Kind bekommen. Der Anfang Zwanzigjährige, der als Filmstudent aus den USA nach Paris gekommen ist, trauert der Vergangenheit nach. An dem Neujahr klingelt das Telefon von Murphy: Die Mutter seiner Ex-Freundin Electra ist am Apparat und fragt, ob er ihre Tochter gesehen oder gesprochen habe. Sie habe Angst, dass sie sich etwas angetan habe, verrät sie. Das Telefonat löst Erinnerungen aus: Von hier aus springt „Love“ immer wieder in die Vergangenheit und erzählt die Geschichte von Murphys Amour fou zu Electra und ihren gemeinsamen sexuellen Ausschweifungen.

Bemerkenswert an „Love“ ist vor allem, wie diese Sexszenen gefilmt sind. Noé und sein Kameramann Benoît Debie („Spring Breakers“) verzichten auf Großaufnahmen – es gibt also weder die für den Pornofilm typischen Close Ups auf Genitalien noch die im „seriösen“ Kino so beliebten Zwischenschnitte, in denen krampfende Frauenhände pars pro toto für sexuelle Ekstase stehen. Stattdessen bleibt die Kamera in langen, starren Einstellungen meist halbnah bis nah. Noé vermeidet auch die in Sexszenen sonst so gerne genutzten Unschärfen. Kurz: Er verzichtet auf jegliches impressionistische Einfühlen, sondern bleibt so weit wie möglich „objektiv“ – ähnlich wie Abdellatif Kechiche in seinem Cannes-Erfolg „Blau ist eine warme Farbe“.

Passend zur starren Kamera erinnert die Lichtsetzung dabei an Renaissance- und Barockgemälde, wobei das Chiaroscuro, also der malerische Hell-Dunkel-Kontrast, durch die lichtschluckende 3D-Technik abgemildert wird. Wie der depressive Murphy scheint auch der Film in einer ewigen Trübheit gefangen. Die sonst so häufig bei stereoskopischen Filmen (weitaus stärker als bei 2D) auffallende Beschränkung des Bildraums durch die Grenzen der Leinwand – das Gefühl, in eine Kiste zu schauen, als wirklich ein volles räumliches Erlebnis zu haben -, verstärkt in „Love“ die Intimität und betont die teilweise klaustrophobische Enge der Beziehung zwischen Murphy und Electra. Gerade in den Sexszenen ist ungewöhnlich, wie wenig – auch durch die Lichtsetzung – das 3D hier dem Zuschauer als „Effekt“ entgegentritt. Die Räumlichkeit der Bilder verstärkt tatsächlich den Realismus, im Zusammenspiel mit den langen Einstellungen, der starren Kamera und den bei den Sexszenen improvisierenden Darstellern.

Paradoxerweise entfernt 3D das Kino ja bislang eher von der Realität, nicht zuletzt weil es „räumlicher als die Räumlichkeit“ wirkt, wie Georg Seeßlen es in seinem Essay „Schöne neue Bildräume. 10 Thesen zur Entwicklung des 3D-Kinos und darüber hinaus“ formuliert hat – und natürlich auch weil es meist in nicht-realistischen Genres wie Action- und Science-Fiction-Filmen eingesetzt wird. Seeßlen weist zurecht daraufhin, dass 3D trotz seiner langen Geschichte noch weitgehend den filmischen Entsprechungen zu Jahrmarktsattraktionen vorbehalten bleibt. Das unterscheidet es von Neuerungen wie Ton, Farbe und Cinemascope, die zunächst auch als „kunstfeindlich“ abgetan, dann aber voll in die Filmgeschichte integriert wurden. Das beginnt sich gerade zu ändern, etwa mit den aktuellen stereoskopischen Filmen von Autorenfilmern wie Jean-Luc Godard oder Wim Wenders. Der Charme von „Love“ besteht aber gerade darin, dass er eine Brücke schlägt von den Wurzeln des 3D-Films im verrufenen Spektakelkino hin zu einer Zukunft als vielleicht wirklich subtilem Erzähl- und Stilmittel.