Sven von Redens Text zu „High-Rise“ von Ben Wheatley ist die zehnte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST (Nr. 18/2015) veröffentlicht (www.filmdienst.de).
„High-Rise“
Sven von Reden
Das Kino, selber ein Kind der Moderne, misstraut der modernen Architektur. Sieht man von den filmischen Stadtsymphonien der zwanziger Jahre ab, wie etwa Charles Sheelers „Manhatta“ (1921), und klammert man realsozialistische Plattenbau-Utopien aus, ergibt sich ein deutliches Bild: Moderne Baustile verheißen im Film Unheil. Reinhard Mey hatte Unrecht: Der Mörder ist nicht immer der Gärtner, sondern der Architekt.
Ein frühes Beispiel dafür ist Edgar Ulmers „The Black Cat“ (1934), in dem Boris Karloff einen diabolischen Baumeister spielt, der in einer selbst entworfenen, super-modernistischen Villa im Stil der Neuen Sachlichkeit lebt. Diese Tradition ist virulent geblieben: Noch heute wohnt in so gut wie jedem TV-Krimi der Mörder in einem durchdesignten modernen Haus aus Stahl, Glass und Beton. Erklären lässt sich das vor allem damit, dass das Kino – wie so oft – ein weit verbreitetes Ressentiment aufgreift und auf seine Weise katalysiert. Aber ist es die Architektur selber, die die Bewohner zu solchen Monstern macht, oder spiegelt sich in der Kühle der Gestaltung einfach nur ihre empathielose Seele?
In Bezug auf das Hochhaus, das im Mittelpunkt von J.G. Ballards „High-Rise“ steht, fällt die Antwort des Autors eindeutig aus: „Ein neuer Sozial-Typus wurde von dem Apartment-Block erschaffen“, schreibt er, „eine kalte, unemotionale Persönlichkeit, unempfindlich gegenüber dem psychologischen Druck, den das Hochhausleben erzeugt (…), die wie eine fortschrittliche Maschinen-Spezies in der neutralen Atmosphäre auflebte.“
Die Antwort, die der Brite Ben Wheatley in seiner Verfilmung des Buchs aus dem Jahr 1975 gibt, fällt ambivalenter aus. Wie Ballard beginnt er mit dem spektakulären Ende der Geschichte: Zufrieden sitzt der Mediziner Dr. Robert Laing auf seinem sonnenbeschienenen Balkon im 25 Stock und isst die Reste eines Schäferhundes, den er am offenen Feuer gegrillt hat. Im Haus hat offensichtlich schreckliches stattgefunden, ein Zusammenbruch jeglicher Ordnung, die nicht nur dem Nachbarshund das Leben gekostet hat. Wie es zu diesem Zustand der Anarchie kam, verrät die Rückblende, die den Großteil von Film und Buch ausmacht.
Vor drei Monaten war der Junggeselle Laing in das Hochhaus eingezogen, in ein Apartment ungefähr auf halber Höhe. Eine wichtige Information, denn die Höhe der Wohnung entspricht der Stellung in der gesellschaftlichen Hackordnung: Oben wohnen die Reichen, unten die weniger betuchten. Laing lernt schnell beide Seiten kennen: Zum einen freundet er sich mit einem politisch engagierten Dokumentarfilmer und seiner schwangeren Frau an, die weiter unten im Haus leben, zum anderen wird er in die oberste Wohnung eingeladen. Dort residiert der Architekt des Hauses, Anthony Royal, inmitten eines Dachgartens, der – auf Wunsch seiner Frau – mehr an Versailles erinnert als an urbanes Grün. Royal gesteht dem neuen Hausbewohner, dass sich seine ursprünglichen Hoffnungen in Bezug auf seinen Bau nicht erfüllt haben: Er habe sein Hochhaus als einen sozialen Schmelztigel geplant, aber wohl „irgendein vitales Element“ vergessen.
Mit der Hochhauswelt stimmt also schon etwas nicht, als Laing einzieht. Episodisch erzählt „High-Rise“ davon, wie von da an die Ordnung nach und nach erodiert. Die Haltung bleibt dabei ironisch distanziert, vor allem in den per Voice-over zu hörenden inneren Monologen von Laing, die oftmals wörtlich aus Ballards Buch übernommen wurden. Zusammen mit dem kontrapunktischen, kommentierenden Einsatz von Musik erinnert das bisweilen an die Filme von Stanley Kubrick. Die Montage von Amy Jump, die neben dem Schnitt auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, lassen dagegen eher an Nicolas Roeg denken – der in den späten siebziger Jahren schon einmal im Gespräch war, „High-Rise“ zu verfilmen. Berg und Wheatley ziehen die Tonspur häufig stark vor, komprimieren Ereignisse in Montagesequenzen und Parallelmontagen, verunsichern die Zeitwahrnehmung zusätzlich durch Zeitlupen. Die Stimmung, die durch diese Kombination erzeugt wird, ist zugleich traumartig und distanziert – zwei sich widersprechende Erzählregister, die aber gut zu Ballards Prosa passen.
Ebenfalls widersprüchlich ist die Funktion und Darstellung der Architektur – allerdings auf eine Weise, die wenig mit dem 2009 verstorbenen Schriftsteller zu tun hat, aber viel mit unserer Gegenwart. Das Hochhaus, das Szenenbildner Mark Tildesley („28 Days Later“) für „High Rise“ entworfen hat, gehört mit seiner massiven Betonbauweise in die Tradition des Brutalismus, einem modernistischen Baustil für den unter anderem die Betonbauten von Le Corbusier richtungsweisend waren, der aber gerade im sozialen Wohnungsbau schnell als menschenfeindlich in Verruf geriet. Doch der Zeitgeist hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Vielleicht als Gegenbewegung zum ewigen Revival des eleganten „Mid-century Modernism“ gilt der klobige Brutalismus mittlerweile als Speerspitze der Hipness – es gibt etwa eine Facebook-Gruppe mit dem Titel „Brutalism Appreciation Society“ („Brutalismus Wertschätzungs-Gesellschaft“), die 40.000 Mitglieder zählt.
Wheatley und seinem Setdesigner ist das sicher bewusst, das zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Inszenierung der Architektur oftmals in malerischem Sonnenuntergangslicht. Dementsprechend wirkt das Hochhaus weniger bedrohlich als ziemlich hip und glamourös – dass der potentielle zukünftige Bond-Darsteller Tom Hiddleston die Hauptrolle spielt und das ehemalige „It-Girl“ Sienna Miller eine wichtige Nebenrolle trägt zudem dazu bei.
Sicher, auch das ist bekannt aus der Filmgeschichte: Dass die Bösewichte in Glas-, Stahl- oder Betonburgen hausten, hinderte Filmemacher nie daran, die Architektur gewissermaßen als spektakulären „visuellen Effekt“ auszubeuten. Man denke nur an die fantastischen Bauten von Ken Adam für die Schurken der Bond-Filme. In „High-Rise“ wird das allerdings zum Problem: Wheatley kann nur bedingt auf eine sinistre Kraft der Architektur bauen, die seine Protagonisten formt. Stattdessen führt er in letzter Sekunde einen anderen und wesentlich konventionelleren Bösewicht ein: den neoliberalen Kapitalismus, in Gestalt eines Zitats von Margret Thatcher. Sie sorgt für eine Botschaft mit der Holzhammermethode, die dem ansonsten so faszinierend schillernden Film einen faden Abgang verleiht.