Das Thema Familie wird derzeit allerorten groß geschrieben. Von haarsträubenden „Herdprämien" oder anderweitigen finanziellen Anreizen zur Steigerung der Geburtenrate will das französische Kino zum Glück jedoch nichts wissen. So zeigten zumindest die 24. Französischen Filmtage in Tübingen eine Vielzahl von Beiträgen, die sich problembewusst, souverän und ungeschönt familiären Krisen und Generationskonflikten widmen.
In Nue propriété (Privatangelegenheit), einem beklemmenden Drama des Belgiers Joachim Lafosse, verkörpert etwa Isabelle Huppert eine überforderte Mutter, die lange genug für ihre mittlerweile erwachsenen Zwillinge Entbehrungen auf sich genommen hat und nun gerne wieder mehr Zeit und Spielräume für sich selbst herbeisehnt. Die unselbstständig gebliebenen Nesthocker denken jedoch nicht daran, freiwillig das „Hotel Mama" zu räumen, spielen sich vielmehr als Haustyrannen auf und vereinnahmen ihre Mutter auf geradezu aggressive Weise. Wie die Huppert unverwechselbar mit scheinbar gleichgültiger, unverletzbarer Miene alle Frechheiten an sich abprallen lässt, aber nicht die Kraft findet, sich bei ihren Söhnen Respekt zu verschaffen, ist schwer zu ertragen aber nah dran an der Realität.
Von dem genau umgekehrten Fall einer Belastung, in dem ein an Alzheimer erkrankter Vater zur Dauerbelastung seines Sohnes wird, schildert der nur 60-minütige belgische Wettbewerbsbeitrag Comme à Ostende (So wie in Ostende). Das leise, präzise gezeichnete Kammerspiel vermittelt sehr einfühlsam den Erschöpfungszustand eines nervlich stets angespannten Mannes, dem alle Verpflichtungen über den Kopf wachsen. In einer der stärksten Szenen läuft er vollständig angezogen ins Meer. Der Zuschauer sieht Léos dramatischen Lebenskampf aus der Perspektive seiner Freundin, die wie paralysiert im flacheren Wasser verharrt und ihn wieder und wieder verzweifelt ruft. Wie er, der irgendwann wieder aus den Wellen auftaucht und ins Leben zurückkehrt, schmerzt es auch die französische Schauspielerin Sandrine Bonnaire, dass sie einem nahe stehenden Angehörigen nicht so helfen kann, wie sie es gerne würde: Elle s'appelle Sabine (Sie heißt Sabine) ist ein sehr persönliches Porträt ihrer autistischen Lieblingsschwester, eine Dokumentation, in der die französische Schauspielerin erstmals auch Regie führt. Es ist die Geschichte eines erschütternden Persönlichkeitswandels. Weil ihre Mutter und ihre Schwestern ihren aggressiven Schüben nicht gewachsen fühlten, bedurfte Sabine schon vor vielen Jahren einer fremden Betreuung. Eine falsche, leidvolle Behandlung in einer psychiatrischen Klinik brachte jedoch einen tragischen Wandel mit sich. Alte Fotos und Amateurfilme, die Sabine als ein bildhübsches, apartes, scheinbar gar unbeschwertes Mädchen zeigen, kontrastieren erschreckend mit Bildern einer schwer beleibten, debil wirkenden Frau, die sich nur mühsam artikulieren kann, schnell die Beherrschung verliert und Sandrine gebetsmühlenartig nur noch mit der einzigen flehentlichen Frage löchert, ob und wann sie wieder zu Besuch kommt.
Der schönste Wettbewerbsbeitrag aber, La naissance des pieuvres (Wasserlilien) – ausgezeichnet mit dem Preis der deutschen Filmkritik und dem mit 5000 Euro dotierten Preis der deutsch-französischen Jugendjury – ist das sensible Porträt dreier unterschiedlicher Mädchen in der Pubertät. Wie Marie, Floriane und Anne zwischen Schwimmbecken, Dusche und Umkleidekabine ihre sexuelle Identität suchen und sich dabei sowohl dem anderen wie auch dem eigenen Geschlecht behutsam nähern, inszeniert die 27-jährige Regisseurin Céline Sciamma glaubwürdig, gefühlvoll und mit künstlerischem Gespür. Auf die Idee, virtuos choreografierte Wasserballett-Sequenzen zum Motor eines solchen „Pas de Trois" zu machen, muss man erst einmal kommen.
© Kirsten Liese