Fragments of Kubelka (DVD)

Immer wieder Jetzt: Ein eigentlich recht konventioneller Film zum
einmaligen Kinotheoretiker und Querdenker Peter Kubelka bietet die
Möglichkeit, die ganze Welt neu zu sehen.

Nino Klingler

Anstelle einer gewöhnlichen Untertitelwahl bietet die DVD zu
Martina Kudlá?eks Fragments of Kubelka nur eine dreisprachige
Infotafel namens „Über Untertitel“. Dort ist eines der
zahlreichen Gebote Peter Kubelkas zu lesen: „Einen Film kann man
auf verschiedene Weisen vernichten. Man zerschneidet ihn, man
verbrennt ihn oder man untertitelt ihn.“ Bei seinen
hochkomprimierten, rhythmisch verflixt ausgeklügelten Filmen mag
diese Verteufelung der Kontamination des Bildes mit Text Sinn
ergeben, aber im Falle eines nahezu vierstündigen Dokumentarfilms
mit endlos viel Monolog wirkt diese sakrosankte Haltung vielleicht
etwas verbissen, um nicht zu sagen lächerlich. Keine Frage: Der
österreichische Avantgarde-Cinéast diktiert selbst, wie er
porträtiert werden will.

232 Minuten Performance-Lecture: Ein Glück

Das geht dann gleich in der ersten Szene so weiter, in der Kubelka
festlegt, wie alles Folgende zu inszenieren sei. Die Kamera dürfe
nicht versteckt werden, kein Versuch unverpfuschter
Wirklichkeitsabbildung. Stattdessen (da ist sein langjähriger Freund
und Weggefährte Jonas Mekas nicht weit) solle Kudlá?ek ihre
Kameragesten wie eine Handschrift verwenden (der berühmte caméra
stylo), solle sich einfühlen in die Situation, improvisieren. Wie
bei den allermeisten Künstler-Porträts (Matthew Akers’ Marina
Abramovi?: The Artist is Present (2012) ist ein abschreckendes
Beispiel) gibt es in Fragments of Kubelka keine kritische Reibung,
keine Gegenposition der Filmemacherin, keine Widerrede. Stattdessen:
knapp vier Stunden Kubelka beim Quatschen.

Aber das ist alles andere als schlimm, was wiederum viel mit
Kubelkas leutseliger, unverfänglicher Art zu tun hat. Er ist ein
einnehmender, nein, ein virtuoser Entertainer, ein
Begeisterungsentfacher, mit Gedanken und Worten, die er und nur er
sagen, mit Sinn füllen kann. Am besten schaut man den Film daher als
eine der legendären Kubelka-Performance-Lectures, als 232 minütige
Take-Away-Show. Was ein Grund zur Freude ist bei jemandem, der in
seiner Antrittsvorlesung im Fach Film und Kochen als Kunstgattung an
der Städelschule in Frankfurt am Main für 250 Menschen an vier im
Raum verteilten Kochstellen gleichzeitig Leckereien kreierte.

Der Lebemann in seiner Wunderkammer

Was sofort gefangen nimmt, ist Kubelkas nachdrückliche, ständig
andächtig drängende Redeweise, seine ganz spezielle Wiener Variante
des Alexander-Kluge-Sprechs, bei dem immer spürbar ist, wie
fasziniert er selbst von jedem angeschnittenen Thema, von jedem
aufflackernden Gedanken ist. Auch an Werner Herzog muss man denken,
angesichts der groben Verletzungen, die Kubelka der englischen
Sprache zufügt und die natürlich die Intensität von allem nur umso
mehr verstärkt. Mit Platon gesprochen ist Kubelka wahrscheinlich der
paradigmatische Philosoph: „Denn dies ist der Zustand eines gar
sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen
andern Anfang der Philosophie als diesen.“ Und so fuhrwerkt der
Weisheitsliebhaber in seiner heimischen Wunderkammer (eine alte
Habsburger Tradition) voller profaner und magischer Gegenstände
herum, vergleicht Mineralformen mit filmischen Strukturen, fährt mit
den Fingern an antiken Holzschnitzereien herum und spricht von ihrer
metaphorischen Macht. Dabei wohnt seiner Ekstase auch immer eine
gewisse Naivität inne, und manches könnte aus dem Blickwinkel
kritischer Theorien durchaus anstößig sein.

Wer sich ein bisschen Gedanken zu postkolonialen Diskursen gemacht
hat, mag die Augen rollen angesichts von Holzboxen, in denen
verschiedenste afrikanische Fetische und Kultgegenstände wahllos
(nach Größe? Form? Funktion?) zusammengeworfen werden. In einer
ziemlich schrägen Situation betatscht Kubelka, der immer die
haptisch-sinnlichen Qualitäten jeder Kunsterfahrung betont, die
lebensgroße Statue einer „beautiful black woman“, die wohl
einmal die Funktion einer Grabesbeilage erfüllt hat und auf die
Kubelkas erste Ehefrau regelrecht eifersüchtig gewesen sei. Hier
irritiert die einspruchsfreie Darstellung Kudlá?eks dann doch
einmal, weil es eben Felder gibt, in denen Staunen und Verwunderung
nicht die rechten Wege zur Weisheit sind.

„Jetzt.“ „Jetzt.“ „Jetzt.“ ­– Kubelka und das
Kino

Wenn es dann um die eigentliche Filme geht, greift ein weiteres
Kubelka-Diktum: „Thou shalt not transfer one medium into the other
medium“. Heißt: Der Meister wünscht keine digitalen Versionen
seiner hyperanalogen Werke. Doch findet Kudlá?ek hier eine
eigenständige Weise, dieses Gebot zugleich zu befolgen und zu
umgehen: Sie entblättert bei den Szenen der Filmscreenings jedes Mal
die Aufführungssituation, zeigt den Projektor, zeigt das Flackern
des Saals, zeigt die Silhouette Kubelkas vor der Leinwand, filmt den
kleinen Bildschirm seines Steenbeck-Schneidetisches. So sehen wir ein
paar Schnipsel der Werke selbst, ohne dass ihre performative Aura
wirklich angetastet würde. Denn die Kinoerfahrung, in der sie
eigentlich erscheinen sollen, bleibt beständig mit thematisiert.

Was von all den in verschiedenen Kombinationen immer
wiederkehrenden Gedanken Kubelkas zu Rhythmus, Metaphern, der Kunst
des Kochens etc. am allermeisten fasziniert, ist, wie absolut er das
Kino als eine Kunst der Gegenwart, des Jetzt-Moments, der momentanen
Ekstase versteht. Er ist, philosophisch gesprochen, ein Anhänger des
Ereignis-Begriffs. Keine vergangenheitsversessenen, todesverliebten
Bilddiskurse hier, wie sie aus der Fototheorie ins Kino
herübergeschwappt sind. Für Kubelka ist Kino 24mal pro Sekunde
„Jetzt“. Jedes gleichzeitige Auftreten von Bild und Ton ist ein –
da schlägt seine fromme Erziehung durch – religiöses
„Synch-Event“. Jedesmal explodiert aus der erlebten
Gleichzeitigkeit zweier Sinneseindrücke ein Konvult aus Zeit und
Raum, das uns in der Welt verortet. Und so kann Kubelka auf die
Wasserspiele im Flüsschen seiner Heimatstadt schauen und Kino sehen:
Millionen und Abermillionen von Ereignissen, von kleinsten
Erzählungen. Kino ist keine technische Apparatur für ihn, sondern
eine geschärfte Wahrnehmungsweise. Der Ort „Kino“ dient
vornehmlich dem Training derselben, indem er ihre Logik explizit
macht.

Und diese Anbetung der Myriaden von Details, der Mini-Events, sie
greift auch oder vielleicht gerade in Bezug auf einen oftmals
angenehm ungeschliffenen, spontan improvisierten, mit
Digi-Handheld-Kamera gedrehten Porträtfilm. Und so schließt sich
der Kreis zur eingangs bemäkelten Verunmöglichung der
Untertitelwahl: Wenn nur etwas von Kubelkas Begeisterung für all die
staunenswerten Kleinigkeiten des alltäglichen audiovisuellen
(Er-)Lebens auf die Zuschauer überspringt, dann hat er sie
überzeugt. Weil jeder bewusst erfahrene Moment auch immer Kino ist.
Gut also, dass man nicht abgelenkt wurde.

 

 

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 11.05.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.