Araf – Somewhere in between

Der Kreisschluss der Extreme: In Araf kann man sich nicht
sicher sein, ob hier harsche Wirklichkeit gezeigt wird oder
reißerische TV-Unterhaltung.

Nino Klingler

Ara kann vieles heißen im Türkischen: Abstand,
Zwischenraum, Kluft. Aber auch Pause. Und Beziehung. Es ist ein Wort
vager Zeiten und Räume, aufgetan zwischen Klarheiten. Für die
Regisseurin Ye?im Ustao?lu ist es der Bereich des gelebten Lebens,
der sich in verblassenden Farben, schattigem Zwielicht und
undeutlichen Gefühlen dort ablagert, wo man nur näherungsweise
durch die Beschreibung von Extremen hingelangen kann. Gleich die
ersten Szenen ihres 2012 gedrehten Filmes Araf reißen eine
metaphorische Schlucht auf, in der alles Folgende irgendwo vermutet
werden muss. Zuerst sehen wir gleißend flammende Schlacke, die sich
träge aus einem riesigen Kessel auf einen Erdwall ergießt, dann
zwei junge Männergesichter, die in der flirrenden Luft zu glühen
scheinen. Dann kommt der Schnitt, und wir blicken auf eine von
Schneegestöber überwehte Autobahn. Feuer und Eis. Danach zeigen die
von Andreas Dresens Hauskameramann Michael Hammon düster
unterbeleuchteten Bilder immer wieder beschlagene Scheiben, die
zwischen die Kälte draußen und den beheizten Innenräumen geschoben
sind: Material gewordene Schichten inmitten der Extreme.

Unglückliche Umstände im jungen türkischen Kino

Addiert man ein „f“ zu ara, dann ist man im
Purgatorium, dem Wartesaal auf das jüngste Gericht: Araf.
Bei Ustao?lu heißt das: Karabük in der Schwarzmeerprovinz, im
Winter; jene Gegend, in der gefühlt die Hälfte des jüngeren
türkischen Kinos gedreht wurde. Am Ortseingang wacht dampfend das
gigantische Stahlwerk, und die vielleicht zwanzigjährige Zehra
(Neslihan Atagül) will nur weg. Sie arbeitet schon an der Pforte
nach draußen, auf einem der gesichtslosen Rastplätze für Busreisen
kümmert sie sich um das Buffet. Häufig begegnet man im Kino des
Migrationslandes Türkei dieser Unzufriedenheit darüber, da zu sein,
wo man ist. Die Provinz mit ihren sexuellen Barrikaden drängt junge
Frauen zur Flucht, oder mindestens zum Träumen. Aber der Ruf fort
ist so verlockend wie furchteinflößend. Als Zehra auf einem
Hochzeitsfest, zu dem sie sich ohne Wissen ihrer Eltern gestohlen
hat, dem wortkargen Trucker Mahur (Özcan Deniz) begegnet, tritt ihr
die Verkörperung dieser widerstreitenden Empfindungen entgegen.
Schon beim Raki-befeuerten abendlichen Tanzen schließen sich seine
weit ausgestreckten Arme um sie, und man kann nicht sicher sein, ob
sie beschützen oder zerquetschen wollen.

Es lohnt sich, Araf zusammen mit Pelin Esmers
Watchtower
(2013) zu denken, nicht allein deshalb, weil beides jüngere
Filme starker türkischer Regisseurinnen sind. Ihre motivische Nähe
ist frappierend: Nicht nur liegen ihre eher provinziellen
Handlungsorte nicht weit voneinander entfernt, sie kreisen auch
jeweils um die Beobachtung des Lebens junger Frauen in unglücklichen
Umständen – die beide für die Transitwirtschaft der
Busunternehmen arbeiten. Vor allem aber zeigen die Filme als
klimatischen Höhepunkt und schauspielerische Tour de Force eine
einsame, verheimlichte Niederkunft. Nichts scheint die Frauen so sehr
an die Traditionen zu fesseln wie ihre biologische Verletzlichkeit,
die Möglichkeit schwanger zu werden. Wo jedoch in Watchtower
das eigentliche Drama zu Beginn schon passiert ist und alles unter
dem Zeichen der Traumabewältigung steht, da liefert Araf so
etwas wie eine alternative romantische Vorgeschichte.

Hände, die streicheln und ersticken können

Der mit der Fernsehserie Asmal? Konak berühmt gewordene
Deniz ist in der Türkei so etwas wie ein Posterboy für den harten,
groben Chauvi. In Araf sagt er so gut wie kein Wort, er ist
pure körperliche Präsenz. Was gut passt, denn seine Figur
funktioniert ohnehin als reine Projektionsfläche für Zehras Wunsch
nach Flucht und die darin eingegrabenen Ängste. Ustao?lu schafft es
mit stockfinsteren Bildern und teils extremen Close-Ups auf Glieder
und Augen, zwischen den beiden eine kaum aushaltbare Spannung zu
erzeugen. Wenn etwa Mahurs Pranken groß ins Bild drängen und
quälend lange über der schlafenden Zehra verharren, fragt man sich:
Wird er sie streicheln oder ersticken? Dann verfolgt er sie mit
seinem roten, runtergerockten LKW auf dem Heimweg: Einerseits stellt
er ihr nach und sie ist geschmeichelt. Andererseits aber wirkt die
Situation beklemmend, die riesige fauchende Maschine im Rücken fühlt
sich nach Duell (Steven Spielberg, 1971) mit romantischen
Obertönen an.

Die Attraktivität des im klassischen Sinne männlichen
Mannes – stark, verschlossen, wortkarg, unrasiert, vereinsamt –
ist immer zu gleichen Teilen bedrohlich und verlockend. Atagül
spielt die damit verwobenen Reaktionen vollendet aus, blickt immer
halb lüstern, halb angstvoll auf Mahur. Sie weiß, dass ihre
Anziehung ein Spiel mit hohem Einsatz ist: Sie begibt sich
willentlich in Gefahr, um (hoffentlich) verschont zu werden. Aber als
sie ungewollt schwanger wird, verschwindet Mahur einfach aus dem
Film, auf Nimmerwiedersehen. Flucht und Lockruf der Straße: Keine
Heimat haben, keine Verpflichtungen akzeptieren.

Lastwagenfahrer und die türkischen Medien

Dass diese Beziehung ganz ohne Worte inszeniert wird, ist
einerseits konsequent, andererseits unbefriedigend, weil damit die
haarsträubende Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens zutage
tritt. Denn wenige Berufsgruppen sind in der türkischen Gesellschaft
(und im Kino) so schlecht beleumundet wie Lastwagenfahrer. Ihre
Brutalität gegenüber Frauen ist eine wiederkehrende Trope. In Ertem
E?ilmez’ rabenschwarzer Komödie Arabesk (1989) wird eine
Braut von einem Trucker aufgesammelt, vergewaltigt, und dann in einem
nur von Männern besuchten Teehaus abgeladen, wo sich alle auf sie
stürzen. Dieses Motiv kehrte 2008 auf tragische Weise wieder, als
die italienische Künstlerin Giuseppina
Pasqualino di Marineo
, die im Brautkleid durch die Türkei
trampte, von einem Lastwagenfahrer sexuell missbraucht und
stranguliert wurde.

Aber Araf weiß um seine plakative, melodramatische
Konstruiertheit. In der Figur des Provinzmachos Olgun (Bar??
Hac?han), der auch um Zehra buhlt, wird das explizit. Seine
Fluchtfantasien sind von anderer Art, sie zielen ins Imaginäre.
Zwanghaft will er in eine der unzähligen reißerischen TV-Shows
kommen, mit der die massenmedial korrumpierte Türkei immer wieder
ihre eigenen krassen sozialen Ungerechtigkeiten ausbeutet. Ücüncü
Sayfa
– Seite-3-Nachrichten –, so nennt man solche
Geschichten von Ehrenmorden, Amokläufen, Vergewaltigungen. In Araf
ist der Mediendiskurs stets anwesend, wenn – wie in den Filmen von
Zeki
Demirkubuz
 – andauernd ein Fernseher in der Szenerie
herumblökt. Am Ende finden die Binnenhandlung von Araf und
seine impliziten Kommentare zum Massenmedium Fernsehen auf ziemlich
geniale Weise zueinander. Selten hat man einen Film gesehen, der sich
so spät so radikal selbst infrage stellt. Da beginnt man zu grübeln,
wo denn nun eigentlich das purgatorische ara liegt: inmitten
der widerstreitenden menschlichen Gefühlsextreme, oder irgendwo
zwischen dem tristen Alltag und seiner medialen Überhöhung?

(Erstveröffentlichung: critic.de am 28.04.2014 )
 

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung
Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält
der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von
Filmkritiken.