Foto © Deutsche Welle
von Josef Lederle
Der langjährige Film- und Kulturredakteur der Deutschen Welle, Jochen Kürten, ist im Alter von 58 Jahren gestorben. Mit seiner ruhigen, besonnenen Art und seinem hanseatischen Charme prägte er das Ressort durch alle medialen Umbrüche hindurch und machte es zu einem Ort echter Kultur- und Cinephilie.
Der elegante Schürmann-Bau am östlichen Ende von Bonn passte zu Jochen Kürten, der als Film- und Kulturredakteur der Deutschen Welle hier den Großteil seines beruflichen Lebens verbrachte. Das lichte, ganz in weiß gehaltene Gebäude erstreckt sich auf mehreren weitläufigen Ebenen entlang des nahen Rheins, durch die Kürten einem entgegenkam, wenn er einen Gast für seine Radiosendungen an der Pforte abholte. Durch die Glaswände sah man ihn schon von weitem, wie er freundlich-gelassen durch die Gänge ging, leichten Schritts, ohne Stress, so, als träfe man sich zu einem unbeschwerten Spaziergang in der Rheinaue. Das änderte sich auch im Studio nicht, wo nur ein Blatt Papier vor ihm lag, auf dem er die Anmoderation notiert hatte. Das diente meist nur als Einstieg, weil sich schnell ein Hin und Her entwickelte, das Kürten durch aufmerksame Nachfragen und Anstöße lenkte.
Auf einen Espresso in der Cafeteria
Auch nach der Aufnahme begleitete Jochen Kürten einen oft zum Ausgang und nahm sich die Zeit für mehr als einen netten Smalltalk. Wenn man öfters in seine Sendungen kam, entstand daraus bald ein Vertrauen, das über Film und Kultur hinaus auch Persönliches miteinbezog, Urlaub, Reisen, Lektüren, Familiäres. Gelegentlich reichte es für einen Espresso in der Cafeteria, wo er auch auf seine Gesundheit zur sprechen kam, dass er sich viel bewegen und gesund ernähren müsse. Es fiel ihm nicht schwer, diesen Rat zu beherzigen; alles an ihm schien dafür prädestiniert; die schlanke Gestalt, das ausgeglichene norddeutsche Wesen, eine innere Ruhe und eine tiefe berufliche Erfüllung als Film- und später auch als Kulturredakteur. Er reduzierte sogar seine Stunden, führte seinen Hund aus, trieb ausdauernd Sport.
Auch deshalb kann man die traurige Nachricht von seinem plötzlichen Tod im Alter von 58 Jahren noch immer nicht so recht verstehen. Man muss an Rilke denken, dass wir uns mitten im Leben meinen, lachenden Munds, um den Riss zu markieren, die plötzliche Leere, und den Verlust, den Kürtens Tod nicht nur in der Deutschen Welle hinterlässt. Bei dem Auslandssender der ARD hatte Kürten 1993 als Volontär begonnen und war 1997 zum Redakteur im Ressort Film & Kino aufgestiegen, eine Position, die er mit viel Herzblut, Sachverstand und großer Leidenschaft ausfüllte. Er war ein Radio-Mann, der Interviews über alles schätzte, sich nach dem Umbau der Deutschen Welle von einem Sender in ein Internet-Portal im Jahr 2009 aber auch schnell mit den Netz-Formaten anfreundete und darin eine enorme Produktivität entwickelte. Man kann die meisten seiner mit leichter Hand, kurzweilig und unterhaltsam geschriebenen, aber sehr präzise recherchierten Texte online nachlesen; über 2000 Beiträge findet man im Archiv der Deutschen Welle.
Der Chronist des deutschen Films
Auffällig ist dabei, dass er sich in gewisser Weise als Chronist des deutschen Films verstand. Mit großem Interesse hat er die Entwicklungen des deutschen Filmschaffens verfolgt, die einschlägigen Festivals besucht, Filmpolitik und Filmbranche mit wachem Urteil kommentiert. Ein besonderes Augenmerk galt dabei der „Berlinale“, die er mehrere Jahrzehnte lang begleitet hat. Immer wieder steuerte er auch filmhistorische Texte bei, insbesondere zur deutschen Filmgeschichte, vom Expressionismus der Weimarer Zeit über die Jahre des Exils und ihrer Spuren im Filmschaffen von Hollywood bis zur Frage der Vergangenheitsbewältigung. Bezeichnenderweise widmete sich auch sein letzter Beitrag ebenfalls der NS-Zeit in Gestalt der sogenannten „Überläufer“-Filme.
Seine Kollegen von der Deutschen Welle schätzten an Jochen Kürten den Teamplayer und den umfassend gebildeten, auch extrem belesenen Kulturjournalisten, der sich nicht nur im Kino und im Fernsehen, sondern auch in der Literatur und der Bildenden Kunst bestens auskannte. „Mit seiner ruhigen Gelassenheit und seinem sicheren journalistischen Urteil war er ein Ruhepol in der quirligen Kulturredaktion. Stets hatte er ein offenes Ohr. Sein Urteil und seine Einschätzungen wurden wertgeschätzt. Für ihn war Kultur kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit“, heißt es in einem Schreiben.
Das Eintauchen in die Welten auf der Leinwand
In Erinnerung bleiben wird seine Art, mit Filmen umzugehen. Er ging gerne und oft ins Kino und litt unter dem Lockdown der Corona-Zeit, obwohl er journalistisch schnell umschaltete und in hoher Taktung kurzweilige DVD- und Filmtipps präsentierte. Er liebte das Eintauchen in die auf der großen Leinwand ausgebreiteten Welten, sogar noch mehr als die journalistische Reflexion des Gesehenen. Dagegen mied er es, sich unmittelbar im Anschluss an einen Film sogleich in Diskussionen zu verstricken; Filme brauchten für Kürten Zeit, um sich zu entfalten und nachzuwirken; seine große Wertschätzung den einzelnen Werken gegenüber spürt man in den vielen Nuancen seiner Texte, den feinen Beobachtungen und der wohldosierten Kritik. Er hatte einen sicheren Blick für Qualität, einen ausgeprägten Sinn für Außenseiter, aber hohe Qualitätsmaßstäbe, was den von ihm verantworteten Filmjournalismus betraf. Die zahllosen Reformen und Veränderungen der Deutschen Welle hat er gelassen hingenommen und sich gleichzeitig eine Unabhängigkeit bewahrt. Er wurde „nie müde, das zu tun, was er gerne und gut tat“, haben seine Kollegen notiert.
Jochen Kürten 1961-2020 (Foto © DW/P. Henriksen)
Auch für den „Filmdienst“ hat Jochen Kürten gelegentlich Texte beigesteuert, Festivalnotizen und Interviews in der Rundfunk-Ära der Deutschen Welle, später dann Buchrezensionen. Eine Weile kooperierten „Filmdienst“ und Deutsche Welle, die keinen Steinwurf voneinander entfernt liegen, um neue DVDs vorzustellen, doch dieses Projekt war ab 2009 dann auch obsolet. Ein anderes Lieblingsprojekt von Jochen Kürten bleibt hingegen unrealisiert: Eine Sammlung der 100 wichtigsten deutschen Filme, die er analog zu der Zusammenstellung „100 gute Bücher“ in Angriff nehmen wollte. Das wäre eine feine, erlesene Reihe geworden, sein eigener Kanon, für ein weltweites Publikum, fast eine Art Vermächtnis. Auch das bleibt durch den plötzlichen Tod unvollendet.
Erstveröffentlichung im Filmdienst. Für die Genehmigung der Nachveröffentlichung herzlichen Dank an Josef Lederle & Filmdienst.