Der Wert des Menschen

Sven von Redens Text zu Stéphane BrizésDer Wert des Menschen ist die siebte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Der Wert des Menschen“

von Sven von Reden

 

Mit einem Blick auf ein Fabriktor begann die Filmgeschichte. Das Thema Arbeit hat sie in der Nachfolge dieser Geburtsstunde aber weitgehend aus dem Kameraauge verloren. Zumindest wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Mensch die Hälfte seines wachen Tages am Arbeitsplatz verbringt. Es gibt Ausnahmen: Michael Mann ist ein aktueller Hollywoodregisseur, der sich für das interessiert, womit seine Protagonisten ihren Lebensunterhalt verdienen. Und natürlich weiß das sozialrealistische europäische Autorenkino eines Ken Loach oder der Gebrüder Dardenne um die Bedeutung der Arbeit – und um die Folgen des Verlusts derselben.

Stéphane Brizés „Der Wert des Menschen“ erinnert aber überraschenderweise immer wieder an einen ganz anderen Filmemacher, der regelmäßig Arbeitswelten in den Blick genommen hat, aber in keiner dieser Traditionen steht: an Harun Farocki. Viele Szenen aus „Der Wert des Menschen“ wirken wie Spielfilmversionen von Szenen aus Dokumentar- und Essayfilmen des vorletztes Jahr verstorbenen Berliners. Brizé und Farocki verbindet außerdem ihr geradezu ethnologisches Interesse an den konkreten Mechanismen sozialer Hierarchisierungen.

 

Wenn der arbeitslose Thierry, der im Mittelpunkt von Brizés Film steht, in einem Bewerbungstraining lernen soll, sich besser zu verkaufen, könnte das etwa direkt aus Farockis Film „Die Bewerbung“ aus dem Jahr 1996 stammen. „Im Bewerbungsgespräch soll der ganze Mensch erscheinen“, hat Farocki selber über seinen Film geschrieben, „nicht nur seine messbare Eignung, die auf Papieren vorausgeschickt wird. Der ganze Mensch fühlt sich angenommen oder verworfen.“ Genau das zeigt „Der Wert des Menschen“: Der 51-jährige gelernte Maschinist Thierry wird von seinen wesentlich jüngeren Mitkursteilnehmern nach einem Übungs- Bewerbungsgespräch komplett auseinandergenommen: Seine Körperhaltung sei „zu schlaff“ gewesen, das Hemd habe offen gestanden, die Stimme sei zu leise und überhaupt wirke er wenig sympathisch. Der ganze Mensch wird verworfen. Das ist nur eine von vielen Demütigungen, die Thierry stoisch, ja fast demütig erträgt.

 

So wird er bei einem Skype-Bewerbungsgespräch dazu genötigt, freudig zu bestätigen, dass er zeitlich völlig flexibel sei und auch in einer niedrigeren Stellung für weniger Geld arbeiten würde – nur um am Ende zu hören, dass er eh so gut wie keine Chance auf den Job hat. Beim Arbeitsamt will sich keiner dafür verantwortlich fühlen, dass Thierry eine Fortbildung aufgeschwatzt wurde, die ihn zwar wertvolle Zeit gekostet, aber keine Perspektive auf einen neuen Job gebracht hat. Bei seiner Bank wird ihm nahegelegt, seine fast abbezahlte Wohnung zu verkaufen, um auch noch liquide zu sein, wenn seine Arbeitslosenunterstützung bald auf 500 Euro gekürzt wird. Und dann will ihm die Beraterin auch noch eine Lebensversicherung aufschwatzen. Denn was wird mit seiner Frau und seinem behinderten Kind, wenn er sterben sollte?

 

Diese Szenen wirken so aus dem Leben gegriffen, als seien sie aus einem Dokumentarfilm – wäre da nicht das bekannte Gesicht von Vincent Lindon, der für seine Leistung in „Der Wert des Menschen“ letztes Jahr in Cannes den Schauspielerpreis erhalten hat. Außer Lindon spielen aber tatsächlich nur Laien im Film mit: Er agiert also mit einer echten Bankangestellten, einem Arbeitsamtmitarbeiter und einem Jobtrainer.

 

Die Kamera von Eric Dumont unterstützt diesen dokumentarischen Gestus: Sie scheint sich nicht immer sicher zu sein, wer als nächstes sprechen wird und beobachtet das Geschehen meist mit Abstand von der Seite. Das breite Cinemascope-Format (1:2,35) ermöglicht es, dass bei Gesprächen nicht in der üblichen Schuss-Gegenschuss-Routine zwischen den Sprechenden Hin-und-Her geschnitten werden muss, sondern beide im Blickfeld der Kamera sind. Wenn Thierry allein im Bild zu sehen ist, wird er dagegen durch die geringe Tiefenschärfe der Bilder oftmals von seiner Umgebung isoliert.

 

Es gibt nur wenige Einstellungen, in denen Lindon nicht zu sehen ist. Auch wenn er eher reagiert, statt zu agieren, bleibt die Kamera meist auf ihn fixiert. Brizé begründet das in Interviews mit dem schönen Vergleich mit einem Boxkampf: Das Drama spielt sich nicht im Gesicht des Schlagenden ab, sondern in dem des Geschlagenen. Lindon muss nicht viel machen, um dieses Pathos zu erzeugen: Sein verwittertes Gesicht und die traurigen Augen erzählen genug von seinem inneren Kampf und seinen Verletzungen.

 

Trost spendet lediglich die Familie. Die wenigen Szenen, die Brizé seinen Protagonisten mit seiner Frau und seinem Sohn zeigt, bieten willkommene Gelegenheiten für „comic relief“. Eine der rührendsten Szenen spielt in einer Tanzschule, in die Thierry mit seiner Frau geht – man darf annehmen auf ihren Wunsch hin. Denn er erweist sich als eher ungeschmeidiger Tänzer. Er bewegt sich so hölzern, dass er irgendwann mit dem Tanzlehrer tanzen muss – was Thierry sichtlich unangenehm ist. Aber auch hier platzt ihm nie der Kragen. Thierrys Selbstbeherrschung wirkt bisweilen übermenschlich. Das ist der einzige Punkt, in dem „Der Wert des Menschen“ bisweilen droht, unglaubwürdig zu werden.

 

Erzählt die erste Hälfte des Films mit selten gesehener Genauigkeit und Systematik davon, was es bedeutet, als nicht mehr junger Familienvater arbeitslos zu werden, fokussiert sich Brizé in der zweiten Hälfte auf die moderne Arbeitswelt im Niedriglohnsektor. Denn Thierry bekommt schließlich doch noch einen Job – als Kaufhausdetektiv. Von einem Kontrollraum aus bedient er die Überwachungskameras und ist auch dabei, wenn die überführten Diebe zur Rede gestellt werden. Er steigt also in eine Welt ein, die nichts mit seiner früheren Arbeit als Maschinist zu tun hat. Und er muss schnell feststellen, dass sein neues Dasein nicht weniger grausam ist als das des Arbeitslosen. Er hat lediglich die Seiten gewechselt: Jetzt muss er die Drangsalieren, denen das Leben nicht gut mitgespielt hat oder die mit kleinen Gaunereien recht hilflos ein gerechteres Stück vom Kuchen ergattern wollen. Bald steht er vor der Frage, ob das Dasein ohne Arbeit nicht vielleicht ehrvoller war, als das mit solch einem Job.