Lass mich in Ruhe, lass dich selbst in Ruhe: Buzzard will nicht gemocht werden, aber man sollte ihn lieben.
Nino Klingler
„I’m just a temp“ – das Sprüchlein sagt Marty (Joshua Burge) andauernd, um sich aus der Affäre zu ziehen. Ich bin nur die Aushilfe. Ich bin nur auf Zeitvertrag hier, kurz angeheuert, bald gefeuert. Das ist nur ein Scheißjob, er definiert mich nicht. Drei Stunden Pause machen – „I’m just a temp.“ Geklautes Büromaterial verhökern – „I’m just a temp.“ Marty zahlt zurück, was er bekommt: Der Betrieb will sich nicht verpflichten, warum sollte ich mir also den Arsch aufreißen?
Regisseur Joel Potrykus stellt Marty dem Publikum gegenüber, als Hindernis für simple Identifikationsreflexe und als Sollbruchstelle wirtschaftshöriger Voreinstellungen. Ständig hält er in Buzzard die Kamera lange und direkt in Joshua Burges leicht angewidert dreinschauendes Gesicht, erzeugt Konfrontation – und bittet doch klammheimlich um Liebe oder zumindest um Solidarität. Stecken wir nicht allesamt in dieser ausbeuterischen, trennenden Welt fest? In jedem Angestellten schlummert ein Marty.
System ist nicht gleich Gesellschaft
Marty ist ein Betrüger und Protiftgeier, der alle halbe Jahre ein Konto schließt und ein neues öffnet, um 50 Dollar Prämie abzustauben. Der zwei Tiefkühlpizzen übereinanderstapelt und sich danach, weil’s eklig schmeckt, bei der Hotline beschwert und Ersatz fordert. Der die heuchlerischen Vertrauens- und Treuegesten der Dienstleister gnadenlos ausnutzt. „You’re just trying to cheat the system“, konstatiert ein geradezu schockierter Angestellter. „Absolutely“, sagt Marty grinsend. Was er nicht versteht: Warum fühlt sich der Mitarbeiter stellvertretend für die Firma betrogen? Ein System kann man nicht austricksen, nur Menschen. Das Problem ist, dass Menschen das System mit der Gesellschaft verwechseln und darüber gefühlig werden. Der Spießbürger in mir grummelt: Und wenn sich alle bedienen würden?
Dabei ist Marty vieles, nur kein cleverer con artist. Er schwindelt allein für den eigenen Vorteil, ohne Kreativität, ohne Lust am Betrug. Eigentlich muss der Betrüger ja besser über die Kniffe und Tricks des Systems Bescheid wissen als die, die es aufrechterhalten. Marty aber bekommt ein paar hundert Dollar in nicht eingelösten Schecks auf den Schreibtisch, sieht die schnelle Chance und ist dann perplex, dass es Computer gibt, die Transaktionen speichern. Ab dann geht es abwärts, die Paranoia packt ihn, er flüchtet erst zu seinem kauzigen Arbeitskollegen Derek (Joel Potrykus selbst) und dann weiter nach Detroit. Marty hat auch keinerlei Straßenqualitäten: Als er selbst einem Betrüger auf den Leim geht, kann er nur erst um Mitleid heischen („I’m just a regular guy“) und dann physisch aggressiv werden. Die Spirale ist nach unten offen, und hinten raus wird’s blutig.
Es war einmal im Jetzt
Es ist großartig, wie Potrykus offensichtliche budgetäre Beschränkungen zur Stilistik umdeutet. Spartanisch ist das Ambiente, kontrolliert die Bildgestaltung, ruhig die Erzählrhythmik: Der ganze Film ist mit cooler Haltung inszeniert und nicht selten auf seine minimalistische Weise sehr schlau. Unvergesslich beispielsweise eine Szene, in der durch clevere Kadrierung ein Laufband zu einem seitwärts scrollenden Videospielkurs umfunktioniert wird. Die Sets sind leer und billig, unattraktiv und abgenutzt. Wie die Welt, die sie entwerfen.
Buzzard mummelt sich so in einem hochgradig verengten Parallelkosmos des amerikanischen Kleinstadtnirgendwo und -nirgendwann ein. Es gibt keine Smartphones, dafür wird noch NES gezockt. Es wird zünftig roher Metalcore gehört, an den Wänden hängen trashige Horrorposter aus den 1980ern, zum Beispiel von A Nightmare on Elm Street (Wes Craven, 1984). Freddy Krueger ist übrigens Martys Held und Vorbild, gerne wäre er wohl ein veritabler Bürgerschreck.
Buzzard ist prekärer Chic, echte DIY-Ästhetik, mit offenen Nähten und Ösen. Hier passt absichtlich nicht alles zusammen, damit die Reibung stärker wird. Deutlich gibt es Reminiszenzen an älteres amerikanisches Indiekino, vor allem an Jim Jarmusch zu Stranger than Paradise-Zeiten (durchdacht getimte Erzählvignetten, Martys wunderbar unhipper Slacker-Style) und den Harmony Korine von Gummo (die punkige Attitüde, das leerlaufende Leben in der amerikanischen Provinz, die dumpfe Metalmusik). Auf der anderen Seite des Atlantiks haben sich die Franzosen Kervern und Delépine an einer ähnlich schwarzhumorigen Punk-Haltung geübt.
Kein Grund zu jammern
Buzzard ist im Herzen keine Komödie. Zu stark ist der Film (wie auch dessen noch weit weniger ausformulierter Vorgänger Ape, 2012) getränkt vom Gefühl allergrößter Einsamkeit – ohne jede Sentimentalität, versteht sich. Marty ist eine eremitische Figur. Selten sehen wir ihn mit anderen Menschen in einem Bild. Nur mit seinem hypermotivierten „work friend“ Derek, den er aber als seinen Gegenentwurf hasst und den er ausnutzt, hat er intensiveren Austausch. Eigentlich ist Marty jemand, der sich unentwegt abschottet. Und Buzzard ist ein Film, der ihn dabei alleine lässt.
Marty appelliert also nicht an unser Verständnis oder unsere Sympathie, sondern an unsere Abneigung. In diesem Gegenüber wird er zu einer wichtigen, weil sozial lesbaren Figur. Er ist nicht Symptom, sondern bereits Diagnose einer auf gegenseitige Ausbeutung und strengen Individualismus ausgerichteten Gesellschaftsform. Aber zugleich ist er nie eine Konstruktion, sondern immer eine verquere Type, genauer gesagt ein Arschloch. Er ist wie dieser eine alte Kumpel, der sich allen Freundschaftsofferten durch seine Egofixiertheit konsequent entzieht, den man aber als Unwucht im Bekanntenkreis nicht missen will. Weil er die krassesten Geschichten erlebt. Weil er den anderen, Angepassteren, unfreiwillig Sicherheit gibt. Weil ihm das Normalste so wunderbar schwerfällt.
(Erstveröffentlichung: critic.de am 19.12.2014 )
Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.