Wenn du nicht weiterweißt, bau dir einen Wal

Miguel Gomes’ sechsstündiges Seh-Ungeheuer „1001 Nacht“

Von Cosima Lutz

Wie anfangen mit dieser sandigen, dunstigen Superdupergeschichte, dieser überbordenden, unsäglich eitlen, nervenden, poetischen, wunderhübsch gescheiterten Filmtrilogie? So heftig das sechsstündige Mammutwerk (dessen drei Teile jetzt in die Kinos kommen) auf Festivals gefeiert wurde, so scheint andererseits irgendetwas daran faul zu sein: Schuf der portugiesische Regisseur Miguel Gomes ein „Anti-Meisterwerk“, wie die New York Times ein bisschen die Nase rümpft? Ein Rätsel, dem offenbar nur mit Fragen beizukommen ist, wie es Georg Seeßlen in der „Zeit“ fast den ganzen Artikel hindurch macht? Oder ist „1001 Nacht“ nichts als ein schreckliches „Gegockel“, das aber irgendwie (bloß wie?) Verteidigung verdient habe (wie eine Kritikerrunde in einem Podcast auf critic.de meint)?

Es ist nämlich so. Ja, es gibt Fragen. Jedenfalls wenn man, warum auch immer, von einem Film ein ordentliches Bedeutungsgefüge erwartet. Was hat der Gesundheitscheck eines Gewerkschaftsführers im Inneren eines Wals verloren? Wo liegt der Zusammenhang zwischen einer schließenden Werft und einer Wespeninvasion? Was hat es mit den Buchfinken-Fängern auf sich, die in einer Art Pokémon Go 1.0 Vögel fangen, sie trainieren und dann gegeneinander ansingen lassen? Und wo genau liegt der Link zwischen einer flirtenden Scheherazade und der EU-Austeritätspolitik?

Die drei Filme sind schon in ihrem Making-Of eine Kapitulation vor der Fülle und Synchronizität der Ereignisse. Ein Burnout. Auftritt Regisseur im ersten Teil („Der Ruhelose“), hängender Kopf: Die Geschehnisse in der Werft und die Wespeninvasion hätten zur selben Zeit stattgefunden, sagt er müde, aber er sehe den Zusammenhang nicht, vielleicht sei der ja metaphorisch, er habe keine Ahnung, „weil ich dumm bin und Abstraktion mich schwindelig macht“. Dann flieht er. Geräusch der Flucht; hineinverschwunden in den Film, sagt er noch, er habe das Gefühl, zugleich in einer Sackgasse und in einem Sturm zu leben.

Damit lässt sich doch etwas anfangen in diesem vor abstrakten Zahlen und Gefahren und realen Fluchten geprägten Krisenjahrzehnt, oder nicht? „Chaos Is My Life“ lautet einer der Songs, die Gomes leitmotivisch in „Der Ruhelose“, „Der Verzweifelte“ und „Der Entzückte“ eingeflochten hat. Das Punkige daran erinnert allerdings bloß noch als nostalgische Geste an jene Null-Bock-Haltung, die vielleicht mal in den Achtzigern als Ausrede für alle möglichen Verweigerungen taugte, hier aber ironischerweise gerade nicht von dem Punkmädchen verkörpert wird. Das „Stacheltier“ tut nämlich etwas halbwegs Sinnvolles, organisiert ein Neujahrsschwimmen für Arbeitslose, die zuvor ausführlich von ihren Depressionen, schlechter Suppe und der Liebe erzählen.

Was herrscht, ist die Krise der Prioritäten. Was erschöpft, ist die Suche nach Sinn. Die wahren Null-Bock-Kandidaten sind hier zum einen EU-Politiker samt EZB-Chef, die sich von einem afrikanischen Medizinmann zuerst eine Dauerrektion beschaffen lassen und dann auch darauf keinen Bock mehr haben: Gegen viel Geld herrscht wieder normale Flaute.

Zum anderen hat der „impotente“ (wie er es nennt) Regisseur selbst keinen Bock, am allerwenigsten auf einen rein politischen Film. Ein Epos über den gegenwärtigen Zustand seines verarmten Heimatlandes zu drehen, jammert er, müsse ja scheitern, denn wie ließen sich politischer Anspruch und „schöne“ Geschichte miteinander vereinbaren? Er könnte es natürlich mit darin keineswegs gescheiterten Stilrichtungen versuchen, mit magischem Realismus, Neorealismus oder Fantasy, was er in Anklängen denn auch tun wird. Aber erst einmal macht er sich vor laufender Kamera aus dem Staub.

Der steht ihm kurz darauf bis zum Hals: Tief eingebuddelt in den Sand wie ein Steinigungskandidat, zur Rede gestellt von seiner Filmcrew, die nun zur Jury über Leben und Tod oder über Kunst und Mist wird, bittet er um Gnade: Wenn es ihm doch noch gelänge, eine spannende Geschichte zu erzählen, würde sie dann ihr Urteil über ihn revidieren?

Er selbst wird also zu Scheherazade, die um ihr Leben erzählt, doch das ist nur ein Trick, eine Ausflucht. Gomes erklärt es in Inserts überdeutlich (überhaupt hat man viel zu lesen, besonders im dritten Teil): Nicht die Märcheninhalte wolle er adaptieren, sondern nur die Struktur von „1001 Nacht“ übernehmen, also das in viele Episoden zersplitternde Erzählprinzip. Künstlerischer Anspruch wird damit zugleich behauptet und seine Nichteinlösung entschuldigt. Das ist ganz schön ausgefuchst. Überhaupt trickst und kokettiert er gerne prinzessinnenhaft herum. „Ich verlange, dass man einen Wal baut“, schreibt er in seinem Logbuch zu den Dreharbeiten. „Ich empfehle jedem Regisseur, der in Schwierigkeiten steckt, einen Wal bauen zu lassen. Damit la?sst sich ein wenig Zeit gewinnen.“

Um eine Erzähl-List geht es ja auch in der Original-Scheherazade, die so unfassbar spannende Storys samt Cliffhanger zu erzählen weiß, dass der Tyrann zum Serienjunkie wird und sein schönes neues Nachtprogramm gnädigerweise doch nicht ausschaltet. Scheherazade rettet damit nicht nur sich selbst, sondern beendet einen Femizid (alle Jungfrauen hätten getötet werden sollen).

Nun sind Gomes’ Erzählungen vieles, aber bestimmt keine Cliffhanger. Die Ähnlichkeiten stecken anderswo: So wie Scheherazade (im Film dargestellt von Crista Alfaiate) ihre Erzählungen keineswegs alle selbst erfindet, sondern den versteckten Jungfrauen auf einer Insel ablauscht (wie in einer besonders schönen Szene gezeigt), so wird auch Gomes zum kollektiven Erzähler, schickt monatelang Journalisten ins Land, um Geschichten von arbeitslosen „Prächtigen“, depressiven Hundehaltern und gestressten Feuerwehrleuten zu sammeln. Vor jedem der drei Teile ist das Mantra zu lesen, die Regierung habe keinen Sinn für soziale Gerechtigkeit und die Bevölkerung in Armut gestürzt. Gomes scheint jenen eine Stimme geben zu wollen, die sonst ungehört sind, so wie Scheherazade nicht nur um ihretwillen fabuliert.

Im textlastigen ersten Teil könnte man das leicht für Agitprop-Filmemacherei halten. Ein Kino der Eindeutigkeiten. Wären da nicht diese seltsamen Verschiebungen, das Auseinanderdriften von Bild- und Tonebene, überhaupt die großartigen unaufgeregten Bildsequenzen, die größtenteils von Sayombhu Mudeeprom geschaffen wurden, dem Stamm-Kameramann des thailändischen Cannes-Gewinners Apichatpong Weerasethakul. Doch gerade im ersten Teil verlieren hypnotische Bilder wie die eines Funken sprühenden Baumes ihre Selbstgenügsamkeit und unendliche poetische Offenheit, wenn ständig das Mantra der ungerechten Regierung bemüht wird.

Wer die beiden anderen Teile sieht, den viel ungeschwätzigeren zweiten und den Fantasy und Buchfinkenfänger-Doku vereinenden dritten Teil mit seinen vielen Schrifttafeln; wer etwa der betörenden Gerichtsszene in einem nächtlichen Amphitheater folgt, in der die Frage nach einem Möbelklau zu einer endlosen Kette weiterer Schuldeingeständnisse führt, wobei schaurig anzusehende Fabelwesen gestehen, Ampeln geklaut zu haben, eine Kuh aus Pappmaché und einige Chinesinnen auftreten; und wer von dort aus noch einmal zum ersten Teil zurückkehrt, dürfte mehr Geduld und viel mehr Genuss am Ganzen finden. Weil das Spielzeug dann vertraut ist.

Gomes spielt nämlich bloß. Und wirkt dabei wohl auch recht eitel, aber das haben portugiesische Wunderkinder in Männerkörpern (siehe Ronaldo) offenbar derzeit so an sich. Bei Gomes liegt Portugal am Meer, genauso wie der tote Wal, der am Strand explodiert und eine glibberige Meerjungfrau (die zuvor als Ärztin im Inneren hantierte) aus seinem Gedärm schleudert. Bagdad liegt aber auch am Meer, die Antike an der Gegenwart und der Orient im Westen. Hier wissen Scheherazades Erzählungen von heutigen Politikern und vom Leben im Plattenbau.

Diese Geflechte aus angedeuteten Motiven und breit angelegten Metaphern, uralt oder, wie eine Texttafel immer wieder sagt, „zwischen 2013 und 2014 in Portugal zugetragen“, schleppen sich, sie zittern, werden brüchig, reißen und fügen sich plötzlich wieder, manchmal wie ein göttlicher oder deftiger Witz. Aus der Zeit gefallen sind diese drei Filme und doch aus der Gegenwart herausgepult.

„1001 Nacht“ ist also vielerlei und etwas Großes, unter anderem aber eine Parabel über das Verhältnis von Stimme und Erschöpfung. In der burlesken Sequenz über „Die Männer mit dem Steifen“ wird der EZB-Chef ja nicht nur von seinem Erektionsproblem geheilt, sondern zugleich von seiner Unfähigkeit, etwas zu sagen. Eine Rückblende (in eine deutsche Schulklasse der Sechziger- oder Siebzigerjahre) lässt etwas von einem eher harmlosen Kindheits-Trauma des Funktionärs anklingen, aber auch das wird nicht auserzählt.

Die große Erzählung, Binsenweisheit, gibt es ja nicht mehr. Sie splittert auf, und Menschen mit serienerprobter Aufmerksamkeitsspanne sollten die sechs Stunden (nach dem Kinobesuch natürlich) noch einmal wie eine Serie auf DVD ansehen, sobald das möglich ist, immer eine Anekdote von 40 Minuten, oder auch mal zwei, dann ein Bier holen, den Hund ausführen, in der Augmented Reality komische Viecher fangen. Die Einzelteile, mal notdürftig, mal bezwingend schön gefügt, liegen herum wie die Einzelteile Europas, möge sich doch jeder selbst einen Zusammenhang zwischen Ausgaben und Verausgabung, Schuld und Schulden, politischem Willen und schöner Mär zusammenklauben. Muss man Gomes vorwerfen, es sich damit zu einfach zu machen? Oder liegt darin nicht vielmehr der größte Realismus?

Wie sagt die Besitzerin eines weissagenden Hahns, der sich wegen Lärmbelästigung vor Gericht verantworten muss und womöglich in der Pfanne landet: „Wir sollten sprechen dürfen und singen dürfen, bis wir keine Stimme mehr haben.“ Vielleicht, das zumindest bietet Gomes’ Erzählwunderhalde an, ist das Schlimmste an der ganzen europäischen Krise ja nicht, dass die Politik impotent geworden ist. Sondern stumm.

(erschienen in der „Welt“ am 11. August 2016)

https://www.welt.de/kultur/kino/article157612694/Darum-reden-alle-ueber-diesen-Sechs-Stunden-Film.html

Cosima Lutz

Ich schreibe besonders gerne über Grenzbereiche des Kinos zu seinen immer mit eingeschriebenen Nachbar-Künsten: Kino und bildende Kunst, Kino und Literatur, Kino und Musik, Kino und Theater. Unaufgeregte Neuland-Erkundungen oder krachende Konstruiertheiten, egal ob im Dokumentarischen oder im Fiktionalen, ob sie nun dem ästhetischen Experiment oder dem allzu Gefälligen verpflichtet sind: Sie aufzuschließen und durch sie auch unsere Gegenwart lesbarer zu machen, darin sehe ich meine Aufgabe und mein Vergnügen.

Ich studierte Theater-, Medien- und Filmwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Politikwissenschaft in Erlangen und Wien, daneben arbeitete ich unter anderem für das NDR-Kulturjournal (Hamburg). 2001 bis 2002 absolvierte ich die Journalistenschule Axel Springer und volontierte bei der „Welt“ (Berlin).

2007 promovierte ich über „Aufess-Systeme: Jean Pauls Poetik des Verzehrs“ (Königshausen & Neumann, Würzburg 2007), danach war ich freie Redakteurin unter anderem bei „Vanity Fair“, „GQ“ und bei den „Prenzlauer Berg Nachrichten“. Über Film, Literatur und Kunst schreibe ich bis heute unter anderem für „Berliner Morgenpost“ und „Welt“.

Jurymitgliedschaften: Rosenthal-Nachwuchspreis für Schauspiel (Luisenburg-Festspiele Wunsiedel, 2005), Kurzfilmpreis der deutschen Filmkritik (2010), Preis der deutschen Filmkritik (2013, 2019).

Nach zwei Nominierungen 2016 und 2017 wurde ich 2018 mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik ausgezeichnet.