The New World von Terrence Malick, USA: 2005 (Wettbewerb, ausser Konkurrenz)

Ich schreibe über den Film als Erinnerung an meine denkwürdigste Kinoerfahrung der Berlinale 2006.

Der Film zeigt das, was Nordamerika einmal war, ein unendlich weites, nahezu unberührtes und schönes Land. Der Film wird zeigen, wie rasch es sich verändert hat, als die Fremden, die Engländer, es entdecken und sich aneignen. Mit dem ersten Baum, der gefällt wird, und mit dem ersten Ureinwohner (die sie „Naturals“ nennen), der von ihnen getötet wird, beginnt die Veränderung.
Die Engländer, die aus einer Landschaft kommen, die schon zum grossen Teil von Menschenhand verändert und geformt ist, verstehen dieses wilde schöne Land nicht und noch weniger dessen Bewohner, die mit dieser naturgeformten Landschaft im Einklang leben.

„Come spirit, help us sing the song of our land“, hört man Pocahontas, die Tochter eines Indianerkönigs, gleich zu Beginn an einem Fluss beten.
Dieses Gebet ist der Ausgangspunkt des Films.
Terrence Malick, ein Amerikaner, kann die Geschichte dieses Volkes nicht erzählen und gibt auch an keiner Stelle des Films vor, es tun zu wollen.
Aber was er versucht, ist, sich über die Einbildungskraft, manifestiert in diesem realisierten Traum von Amerika, einen Zugang zu verschaffen zu einer zeitlich entrückten Epoche und einer heute nur noch marginal existierenden Kultur.

Das Virginia des 17. Jahrhunderts rekonstruiert Malick für einen Film mit technischen Mitteln, die das 21. Jahrhundert ihm bietet. Andererseits verzichtet er so weit wie möglich auf technische Mittel, die heute fast selbstverständlich geworden sind, etwa computeranimierte visuelle Effekte und künstliches Licht.
Ezählt wird die legendäre, historisch lückenhaft überlieferte Liebesgeschichte zwischen dem Engländer Smith und Pocahontas.
So ist der Film zu einem Teil rekonstruiert und zum anderen Teil interpretiert.

Wie sich hier Menschen in Räumen oder in der offenen Landschaft bewegen, an ihnen bekannten oder unbekannten Orten, gibt eine Idee von dem Reichtum dieses Films.
Wie die Engländer zum ersten Mal das neu entdeckte Land betreten, wo die Natur noch fast unberührt ist, oder wie Pocahontas und ein Mann aus ihrem Stamm zum ersten Mal der menschgemachten Landschaft englischer Städte begegnen – bringt der Film eines seiner zentralen Themen auf den Punkt. Engländer wie Indianer sind verwirrt von jeweils fremden Orten, die ihre gewohnte Orientierung durcheinanderbringen. Durch ein banales und körperlich nachvollziehbares Raumgefühl schafft es Malick, uns in eine 400 Jahre zurückliegende Zeit zu versetzen. Diese realisierte Idee ist eines der Wunder, die dieser Film bietet.

Die wenigen Schlachtszenen zwischen Engländern und Eingeborenen sind in Handkamerabewegungen gefilmt. Sie bringen die Zuschauerorientierung durcheinander. Man ist wirklich mitten im Geschehen, aber auf eine beängstigende und verstörende Weise. Jede Bewegung bringt Ungewissheit. Angst und das hässliche Handwerk des Tötens ist alles, was man sieht.
Man ist gewohnt, durch computeranimierte Schlachtszenen wie in The Lord of the Rings oder Troya auch die schlimmste Schlachterei noch als Spektakel hinzunehmen.
Die kurzen Szenen der Gewalt sind bei Malick ähnlich wie in Kubricks Barry Lyndon, plötzliche Interventionen des Terrors in einem Film, der zumeist mit meditativer Langsamkeit abläuft – und sie sind zugleich schon Ahnungen von der Gewalt, die diesen Kontinent später in grossem Masse heimsuchen sollte.

Da der Film mit einem Gebet Pocahontas beginnt, erscheinen mir die eingewobenen Landschaftsbilder selbst wie visuelle Gebete: Landschaften, Wasser, Pflanzen und Schwärme von Vögeln, die nichts mit der Handlung zu tun haben scheinen und die Natur nahezu völlig unbeeinflusst von menschlichem Wirken zeigen. Das ist wie die Heraufbeschwörung einer paradisischen Landschaft, vergleichbar der in Kurosawas Dersu Uzala. Die Bilder von ihr sind gerade dadurch erschütternd, weil wir bereits um ihren Verlust wissen.

Wo Rekonstruktion durch lückenhafte historisch nachprüfbare Aufzeichnungen ihre Grenzen hat, beginnt Malick regelrecht in Bildern zu träumen.
Er kann nicht wissen, wie Pocahontas gedacht oder gefühlt hat.
Er kann sich Bilder von ihr machen – oder, wie mir scheint, sie aus den Tiefen der vergangenen Zeit herbeiträumen.
Mit der zufälligen Entdeckung der zur Zeit der Dreharbeiten nicht einmal 15 Jahre alten Q´Orianka Kilcher ist ihm ganz unerwartet die Wirklichkeit zur Hilfe bekommen. Das ungeschminkte Gesicht der Protagonistin, deren innere Wandlungen der Film sichtbar macht, ist mindestens so eindrucksvoll wie das der Renée Falconetti in Dreyers La Passion de Jeanne d´Arc. Die überlieferten (und von Smith kommentierten) Eigenschaften wie Intelligenz und Sanftmut haben hier ihre grandiose Verkörperung erfahren.
Die Art, wie sie sich bewegt und vor allem die Bewegung ihrer Blicke, ihre alles erfassenden Augen, scheinen in einen seltsamen Wettstreit zu treten mit der eindrucksvollen Handkamera, die trotz ihrer technischen Vollkommenheit als etwas Reproduzierendes spürbar bleibt. Pocahontas wird nicht nur gesehen (von uns, den Engländern und vom Kamerablick), sie reagiert auch sofort mit Blicken und erscheint von der ersten Sekunde ihrer Präsenz genauso als wahrnehmende wie als wahrgenommene Person. Das Bild, das Malick von Pocahontas/Kilcher zeichnet, ist dadurch so beeindruckend, dass ihre Präsenz immer mehr ist als nur ein Bild von ihr.

Der Einsatz des „Adagio“ aus Mozarts 23. Klavierkonzert als „Liebesthema“ von Pocahontas und Smith erscheint beim ersten Moment fast wie ein wagemutiger Anachronismus. Diese Musik mit einem fast singenden Klavier, den Mozart/Da Ponte-Opern verwandt, scheint darauf gewartet haben, für diesen Film verwendet zu werden. Bekannt ist, wie Mozart (besonders in seinen Opern) alle erdenklichen menschlichen Empfindungen in Musik umgesetzt hat. Und auch hier ist der Einsatz von Mozart Malicks Interpretation. Diese seltsame Gleichzeitigkeit von graziöser Leichtigkeit und tiefer Melancholie geht eine Verbindung ein mit Malicks Pocahontas-Interpretation. Diese Musik wird dreimal eingesetzt, die ersten beiden Male über noch wenig getrübte Momente des Glücks und das dritte Mal beim letzten Wiedersehen zwischen Pocahontas und Smith, wo eben dieses Glück nur noch eine Erinnerung ist. Doch auch bei diesen ersten Momenten des Glücks erscheint die Musik wie eine Ahnung des Zweifels. Man wird sich erinnern an diese Momente und an Mozarts Musik, wenn Pocahontas von ihrem Stamm verstossen, ihrer Wurzeln beraubt oder an ihrer unglücklichen Liebe zu Smith fast wahnsinnig wird. Wenn sie am Ende als noch sehr junge Frau stirbt, wird man diese Musik nicht mehr hören.

Es gäbe noch viel mehr über diesen Film zu sagen, unter anderem über die von Malick seit The Thin Red Line verwendeten voice over-Monologe einzelner Personen oder über die meistens leisen, fast geflüsterten Dialoge, die fast im Halbschlaf gesprochen zu sein scheinen. Auch das trägt zu dem traumartigen Charakter des Films bei.

Unter anderem ist The New World auch eine Elegie auf den amerikanischen Traum, den Traum der ersten, meistens bitterarmen Siedler aus Europa von einer neuen Welt, den bald darauf folgenden Alptraum des Völkermords an den Ureinwohnern – aber auch die Eroberungsträume expandierender Grossmächte des alten Europa und ihre aggressive Aneignung des gerade entdeckten Kontinents.
In La Vie sur Terre, dem Film des Mauretaniers Abderrahmane Sissako, heisst es an einer Stelle in einem Malick-ähnlichen voice over-Kommentar, dass nicht die Begegnung Europas mit Afrika an und für sich eine Tragödie war, sondern der Zeitpunkt dieser Begegnung. Das ist eine Haltung, die ich mir auch von Terrence Malick vorstellen kann.

Gerüchte besagen, Malick plane, zumindest als DVD-Edition, die Veröffentlichung einer dreistündigen Fassung des Films. Bis es soweit ist, dass das Gerücht sich bewahrheiten sollte, gebe ich mich gerne mit der vorliegenden 135 Minuten langen Fassung zufrieden.

Rüdiger Tomczak (shomingeki Nummer 18, Oktober 2006)

Rüdiger Tomczak

Redakteur und herausgeber der Filmzeitschrift shomingeki

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Des weiteren gibt es zur Zeit 2 Blogs der Filmzeitschrift shomingeki:
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Ab der Nummer 25 meiner zeitschrift shomingeki wird die Zeitschrift nur noch ONLINE erscheinen und zwar unter der Adresse:
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