Oh Girl!

(Vorspann) Das Münchner Filmfest zeigt sich in seiner Auswahl neuer deutscher Kino- und Fernsehfilme von experimentell bis staatstragend. Und über allem steht die Frage nach dem schönsten Filmsonderling: Welches ist der neue „Oh Boy“?

Cosima Lutz

Die Frage ist ja immer auch, ob der Sonderling der Sonderling bleiben darf oder geheilt werden soll von seinen sanften Perversionen. Das Kino liebt die Sonderlinge. Das Fernsehen kuriert oder bestraft sie. Das Kino lässt die Welt an den Außenseitern auflaufen, das Fernsehen fängt beide wieder ein. Das Kino kommt auch ohne Legitimationen des Seltsamen aus, das Fernsehen betont gerne die Leistungen und Gefühle, zu denen – seht her! – sogar die Schrägen und Ausgestoßenen fähig sind.

Diese These ist natürlich sehr in Schwarzweiß gehalten und wird von zahlreichen Ausnahmen torpediert, allein schon weil das deutsche Fördersystem für so manche Austauschbarkeit von Kino- und TV-Ästhetik sorgt; aber irgendwie muss man ja das disparate Schaulaufen brandaktueller Kino- und Fernsehproduktionen beim Münchner Filmfest fassen, das gerade zuende geht.

Ein klares Bekenntnis zum Seltsamen war schon die Tatsache, dass den beiden Leinwand-Unikaten Udo Kier und Klaus Lemke der rote Teppich ausgerollt beziehungsweise hingestellt worden war (harte Plastikplatten mit Kachelstruktur). Wer also als seltsamer Star oder normaler Besucher (oder umgekehrt) klackernd die Bauklötzchen-Auslegeware vor dem Gasteig überschritten hatte und anschließend die sowieso jeden Auftritts-Glamour zerstörende Rolltreppe hinauffuhr, konnte oben auf einem Bildschirm etwa sehen, wie Udo Kier in Hermann Vaskes „Arteholic“ am Strand auf ein gemaltes Kier-Porträt zugeht, ein Messer zückt und in aller Ruhe das eigene, gefeierte Konterfei zerschlitzt.

Kier wie Lemke haben längst genügend Merkwürdigkeitsnachweise beisammen, um unwiderlegbarer Kult zu sein. Kniffeliger ist da schon die Frage, ob und wie das zweitgrößte deutsche Filmfestival auch den Kult von morgen aus der Tasche zaubert. Hat sich München doch unter der neuen Führung von Diana Iljine seit 2012 zum Seismografen sogenannter Überraschungserfolge des deutschen Kinos entwickelt: „Oh Boy“ begann seine Karriere in München und läuft inzwischen auch in Amerika; letztes Jahr entzückte die Low-Budget-Produktion „Love Steaks“ Festivalgäste und Juroren und hatte dann ebenfalls ein stattliches Nachleben im regulären Kino. Solche Glücksgriffe haben dem Festival inzwischen den Ruf eingebracht, mit seiner Programmreihe „Neues Deutsches Kino“ Saarbrücken und Hof künstlerisch den Rang abzulaufen. Das weckt natürlich hohe Erwartungen.

Fabelhaft eingelöst wurden diese mit Ingo Haebs „Das Zimmermädchen Lynn“, der schönsten Merkwürdigkeits-Entdeckung dieses Festivals. Haeb ist zwar kein Neuling, er schrieb Drehbücher für einige Filme Lars Jessens („Am Tag als Bobby Ewing starb“). Doch mit „Lynn“, dieser wohl ungeschwätzigsten und intelligentesten Literaturverfilmung seit langem (nach Markus Orths’ Romanvorlage „Das Zimmermädchen“), empfiehlt er sich als Regie-Talent, das endlich das richtige Sujet gefunden hat: Es geht um eine junge Hotelangestellte mit ungewöhnlichem Putz-Eifer und einem Gesicht, von dem nie ganz klar wird, ob es still in sich vergnügt oder melancholisch abgeschottet ist (Vicky Krieps). Jeden Mittwoch legt sie sich unter ein anderes Hotelbett, Nasenspray und Kopfkissen hat sie dabei.

Aus der Teppichperspektive sieht sie erschöpfte Füße und belauscht zarte Telefonate. Sie hört bestellten Sex und rührende Selbstgespräche. Oder sie döst beglückt, während über ihr nichts stattfindet außer der Existenz eines Menschen. Einmal schaut sie unters eigene Bett, ob da nicht vielleicht auch endlich mal jemand liegt: Komödiantische Pointen entfalten sich hier in aller Stille. Auch die erotische Begegnung mit einer Hotelbekanntschaft behält ihr Geheimnis und ihren Humor: Sex kommt nicht als das schon immer Gewusste, Gewollte und routiniert-cineastisch Ausgeübte ins Spiel, vielmehr dient er Lynn als Mittel zu empathischer Erkenntnis.

Und weil sich in Sonderlingen wie Lynn das Kino ja ganz gerne selbst erkennt, verhökert Lynn bald sogar ihr Notebook, auf dem sie in ihrer aufgeräumten Einsamkeit immer so gern alte Filme sah: Statt vorm Rechner und unterm Bett sehen wir Lynn bald auf dem Bett und im Kino (dafür werden Filme gemacht). Die wenigen Dialoge, etwa beim Psychotherapeuten, lassen die Souveränität dieses weiblichen Sonderlings unangetastet: Ob sie in den Sitzungen die Wahrheit erzählt? Ob das Ziel überhaupt Heilung heißt? Lynn weiß jedenfalls, wie Oberflächen zu polieren sind, um den geforderten Eindruck zu hinterlassen; und das Schönste am Putzen ist ohnehin, „dass es immer wieder dreckig wird“.

Die Korruption erotischer Bildung und Weisheit zeigt dagegen Christoph Röhls Fernsehdrama „Die Auserwählten“. Es wagt die cinematografische Annäherung an einen gesellschaftlich lange gedeckten realen Wahnsinn: den Missbrauch an der Odenwaldschule. Dass sich der Regisseur das Thema bereits mit seiner Dokumentation „Und wir sind nicht die einzigen“ genau erarbeitet hat, schützt ihn davor, es in der Fiktion nun effekthascherisch auszubeuten. Der Kampf zwischen Ulrich Tukur als charismatischem Schulleiter und Julia Jentsch als idealistischer Lehrerin gehört schauspielerisch zum Besten, das in München zu sehen war.

Gerade weil „Die Auserwählten“ daran erinnert, mit welchen raffinierten und perfiden Machtmitteln jugendlicher (Körper-)Erkenntnisdrang zerstört wird, ist jeder Film eine Kostbarkeit, der sinnlicher Menschheitsforschung ihre Unschuld zurückgibt. Eine Seelenverwandte Lynns ist daher auch die dickliche Cindy in „Schönefeld Boulevard“: Sylke Enders („Kroko“) verknüpft die Atmosphäre einer ewig unfertigen Großflughafen-Baustelle mit dem Lebens- und Welthunger einer Pubertierenden (Julia Jendroßek): Die entdeckt den Reiz fremder Länder, indem sie sich mit Ingenieuren in deren Hotelzimmern trifft. Jugend, hier unbestraft, wird zum Vorort, zum Transitraum womöglich doch noch einlösbarer Versprechen. Oh Girl! Ohne Sonderlinge müsste man statt über die Besonderheit des Menschen dauernd nur über Verallgemeinerungen wie Generationen, Kulturen und Geschlechter nachdenken.

(leicht gekürzt erschienen in DIE WELT am 5. Juli 2014)

Cosima Lutz

Ich schreibe besonders gerne über Grenzbereiche des Kinos zu seinen immer mit eingeschriebenen Nachbar-Künsten: Kino und bildende Kunst, Kino und Literatur, Kino und Musik, Kino und Theater. Unaufgeregte Neuland-Erkundungen oder krachende Konstruiertheiten, egal ob im Dokumentarischen oder im Fiktionalen, ob sie nun dem ästhetischen Experiment oder dem allzu Gefälligen verpflichtet sind: Sie aufzuschließen und durch sie auch unsere Gegenwart lesbarer zu machen, darin sehe ich meine Aufgabe und mein Vergnügen.

Ich studierte Theater-, Medien- und Filmwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Politikwissenschaft in Erlangen und Wien, daneben arbeitete ich unter anderem für das NDR-Kulturjournal (Hamburg). 2001 bis 2002 absolvierte ich die Journalistenschule Axel Springer und volontierte bei der „Welt“ (Berlin).

2007 promovierte ich über „Aufess-Systeme: Jean Pauls Poetik des Verzehrs“ (Königshausen & Neumann, Würzburg 2007), danach war ich freie Redakteurin unter anderem bei „Vanity Fair“, „GQ“ und bei den „Prenzlauer Berg Nachrichten“. Über Film, Literatur und Kunst schreibe ich bis heute unter anderem für „Berliner Morgenpost“ und „Welt“.

Jurymitgliedschaften: Rosenthal-Nachwuchspreis für Schauspiel (Luisenburg-Festspiele Wunsiedel, 2005), Kurzfilmpreis der deutschen Filmkritik (2010), Preis der deutschen Filmkritik (2013, 2019).

Nach zwei Nominierungen 2016 und 2017 wurde ich 2018 mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik ausgezeichnet.