Midnight in Paris

In den letzten
Jahren weckten die Woody Allen-Filme allzu oft den Eindruck, der
Regie-Altmeister setze lediglich altbekannte Versatzstücke neu zusammen.
Im 42. Spielfilm des New Yorker Regisseurs dürfte zwar
dem Kinobesucher Einiges ebenfalls bekannt vorkommen. Dennoch: Wie
zuletzt etwa in „Match Point“ (2005) ist es Woody Allen erneut gelungen,
daraus ein eigenständiges Kunstwerk zu schaffen. „Midnight in Paris“,
der die 64. Internationalen Filmfestspiele 2011 in Cannes eröffnete,
ist der beste Woody Allen-Film seit langem.
Bereits die Eröffnungssequenz erinnert stark an den Anfang von
„Manhattan“ (1979): Untermalt von George Gershwins „Rapsody in Blue“
bildete damals Woody Allen eine Schwarzweiß-Collage von Manhattan ab,
während die Hauptfigur verschiedene Fassungen des ersten Kapitels seines
Buchs diktiert, die in den Satz münden: „New York war seine Stadt und
würde es immer sein.“ Der Prolog zu „Midnight in Paris“ nimmt sich
ebenfalls wie eine Liebeserklärung an eine Stadt aus. Zwar ist die etwa
dreiminütige Bilderfolge in Farbe fotografiert, zwar bleibt die
Musikuntermalung – hätte Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ allzu
offensichtlich gewirkt? – aus. Die Hommage an Paris, freilich an das
Paris der (amerikanischen) Touristen, steht jedoch der Huldigung an
Manhattan in nichts nach. Ein weiteres Detail verstärkt sogar diesen
Eindruck: Die letzten Bilder zeigen Paris im Regen – Nie sei Paris
schöner. Der Regen, der in der Schlussszene von „Midnight in Paris“
wiederkehren wird, ermöglicht einen verklärenden Blick auf die Stadt.
Der „Amerikaner in Paris“ Gil Pender (Owen Wilson) weist ebenfalls Züge
einer typischen Woody Allen-Figur auf: Obwohl er offenbar recht
erfolgreich Hollywood-Drehbücher schreibt und damit nicht schlecht
verdient, füllt ihn die Traumfabrikarbeit nicht aus. Er möchte endlich
ein „richtiges“ Buch schreiben. Das Manuskript hat er nun im Gepäck, da
er mit seiner Verlobten Inez (Rachel McAdams) und deren Eltern die Stadt
besucht, in der er als Student bereits eine glückliche Zeit verbrachte.
Könnte er nicht einfach in Paris bleiben und sich wie seine Idole F.
Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Gertrude Stein in dieser
wunderbaren Stadt der Schriftstellerei widmen? Allzu gerne hätte der
hoffnungslose Romantiker und Stadtneurotiker im Paris der zwanziger
Jahre gelebt und sich bei seinen großen Vorbildern Rat geholt.
Damit bringt er seine Verlobte allerdings eher auf die Palme. Inez
möchte in Paris vor allem einkaufen, Restaurants besuchen und tanzen.
Dem Regen kann sie als echte Kalifornierin ohnehin nichts abgewinnen.
Statt mit Gil über die mitternächtlichen Straßen zu schlendern und einer
vergangenen Epoche nachhängen, hört sie lieber den besserwisserischen
Erklärungen des Kunst- und Weinkenners Paul (Michael Sheen) zu, der sich
– wieder eine typische Allen-Figur – als snobistischer
Pseudointellektueller entpuppt, der keine Gelegenheit auslässt, seine
Frau Carol (Nina Arianda) zu korrigieren.
Bereits in „Alle Sagen: I Love You“ (1996) war für Woody Allen in Paris
etwas Magie im Spiel, so etwa als Goldie Hawn beim Tanzen an der Seine
über der Luft schwebte – an genau derselben Stelle, in der im Filmplakat
zu „Midnight in Paris“ Gil spaziert. Durchbrach Woody Allen in „The
Purple Rose of Cairo“ (1985) die Scheidewand zwischen Realität und
filmischer Fiktion, indem sich eine Kinozuschauerin in eine von der
Leinwand herunter gestiegene Filmfigur verliebte, so verknallt sich Gil
in Adriana (Marion Cotillard), die Muse von Picasso, Braque und
Modigliani.
Die wunderbaren Bilder des Kameramanns Darius Khondji tauchen die in der
Vergangenheit angesiedelten Bilder in ein goldenes Licht, während in
den Einstellungen der Gegenwart naturalistische Töne vorherrschen. Sie
ordnen sich freilich einer zwischen spielerisch und verspielt
anzusiedelnden Inszenierung unter, die einem Drehbuch mit einem
wunderbaren Gefühl für Rhythmus entspringt. Wie kaum ein zweiter Woody
Allen-Film der letzten zwei Jahrzehnte setzt das Drehbuch die witzigen
Dialoge wohldosiert ein, weil es sie in den Dienst des
Handlungsfortgangs stellt. Die bei aller Wunderlichkeit doch noch
zurückgenommene Charakterzeichnung insbesondere der männlichen Figuren
verdankt sich einer Schauspielführung, die Owen Wilson und Michael Sheen
zu Höchstleistungen herausfordert.
Obwohl „Midnight in Paris“ ganz andere, weil durch und durch
komödiantische, Töne anschlägt als die melancholische Stimmung von „The
Purple Rose of Cairo“, loten beide Woody Allen-Filme das Verhältnis
zwischen Kunst und Leben aus. „Midnight in Paris“ variiert das „The
Purple of Cairo“-Bonmot „Die wirklichen Menschen wollen, dass ihr Leben
eine Fiktion ist, und die erfundenen, dass ihr Leben Realität wird“ auf
überaus originelle Weise. Den nostalgischen Blick auf ein vermeintliches
Goldenes Zeitalter stellt Allens durchaus moralische Erzählung als
Wirklichkeitsflucht bloß: Wer seine Gegenwart, sein Leben nicht
bewältigt, findet sich in keiner von ihm auch noch so verklärten
Vergangenheit zurecht.

Veröffentlicht am 18.08.2011

Jose Garcia

Vor mehr als einem halben Jahrhundert in Madrid geboren. Nach Geschichts-Studium und einigen beruflichen Umwegen seit etwa anderthalb Jahrzehnten hauptberuflicher Filmkritiker, insbesondere für die Tageszeitung „Die Tagespost“. Mehrere Buchveröffentlichungen sowie Beiträge in verschiedenen Sammelpublikationen. Besonderer Schwerpunkt: Kinderfilm, der Deutsche Film. Seit etlichen Jahren Jury-Mitglied für die Verleihung des „Preises der deutschen Filmkritik“. Die eigene Homepage textezumfilm.de feierte letztes Jahr zehnjähriges Bestehen.