Kommt nicht an und geht nicht unter

Für den Berlinale-Forumsbeitrag „Havarie“ zerdehnt Regisseur Philip Scheffner ein kurzes YouTube-Video über ein Flüchtlingsboot auf 90 Minuten. Bericht über eine Extremerfahrung

Von Cosima Lutz

Ich sitze ziemlich weit hinten, und vor mir zeichnen sich ein paar Gestalten ab. Wie Schatten sehen sie aus vor der großen blaugrauen Fläche: Einer reckt mal kurz die Arme hoch, aber die meisten starren regungslos nach vorn. Da ist nichts, was sie hält, da sind nur Himmel, Wasser und ein Boot. Aber es könnte ja etwas kommen, eine Gewissheit, ein Zeichen. Uferlos. Durchhalten.

Nach etwa 40 Minuten verschwinden die ersten. Bis zur Hälfte von Philip Scheffners 90-minütigem Dokumentarfilm „Havarie“ verlässt ein gutes Dutzend Filmkritiker den Kinosaal im Berliner „Arsenal“. Zu diesem Zeitpunkt schaukelt das Boot mit seinen 13 Passagieren noch immer unverändert auf dem Mittelmeer und kommt nicht an und geht nicht unter. Eines von beidem, ein Ankommen oder ein Untergehen, wäre offenbar irgendwie wünschenswert, im Kino. Ein Drama, etwas Spannendes, ein tragisches Ereignis. Erlösung.

Stattdessen: Sekundenweise, wie im Takt einer Uhr und überwölbt von einem vielstimmigen, multiperspektivischen Text aus dem Off, erscheint Einzelbild für Einzelbild nur dieses Gummiboot. Grausam entschleunigt treibt es auf dem Meer, und der Film wird hypnotisch, die dunklen Gestalten ähneln einer Fata Morgana, mal ist das Bild unscharf, mal erscheinen geisterhafte Spiegelungen. Das akustische Geflecht, ein hochkomplexes Hörspiel aus dem Jenseits der Bilder, spannt den uferlosen Raum nur noch weiter auf: Man hört Funksprüche, Telefonate zwischen algerischen Eheleuten (sie lebt in Frankreich, er muss noch übers Meer), das Einschenken von Kaffee, die Stimme eines irischen Sicherheitsmitarbeiters namens Terry Diamond, der an einem Septembertag des Jahres 2012 als Tourist auf dem Kreuzfahrtschiff „Adventure of the Seas“ an Bord war. Man hört Schumanns „Träumerei“ und ein maschinenhaftes Pochen, kommt es aus einem Schiffsrumpf oder einem anderen Innenraum?

Besagter Diamond filmte auf seiner Kreuzfahrt ein dreieinhalbminütiges Video von einem Flüchtlingsboot mit Motorschaden. Diesen Clip zerdehnen Scheffner und seine Drehbuchautorin Merle Kröger (die übrigens für ihre gleichnamige Romanfassung kürzlich den Deutschen Krimipreis gewann) gnadenlos auf volle Spielfilmlänge. 90 Minuten: So lange sollen sich Schiff und Boot auch real gegenübergestanden haben.

Im Spiel mit der auf unterschiedliche Art realen Zeit geraten die Wirklichkeiten in einen Taumel. Und lassen den Zuschauer mit seinen Assoziationen allein. Flüchtlingsthema: Da ist damit zu rechnen, politisch bevormundet oder in Angst und Empörung versetzt zu werden. Hier aber sind keine toten Kinder zu sehen. Keine Politiker, keine erschöpften Helfer, keine Demonstranten. Nur ein unspektakulärer Clip, der außer dem Boot und einem farbexplosiven Schwenk auf den Betrachter-Standpunkt, das Kreuzfahrtschiff (ha! erst nach Minute 40), nichts sichtbar zu machen scheint.

Aber in diesem Meer aus Zeit taucht dauernd etwas auf und geht etwas unter, und zwar im eigenen Kopf. Muss mich das Schicksal dieser Gestalten interessieren? Was kaufe ich heute eigentlich ein? Dauert das noch lange? Darf man fliehende Kulturjournalisten in Sehnot mit Flüchtlingen in Seenot vergleichen, obwohl die Kollegen ja nur für ein paar sesselwarme Minuten eine radikal reduzierte Situation hätten aushalten sollen?

Dieses relativierende Abstumpfen und Ermüden, bei dem ich mich hier wunderbar selbst beobachten kann, ist der wahre Abgrund, über dem jenes Boot schwankt, das eigene Desinteresse ist die eigentliche Uferlosigkeit jener Überfahrt, die gleichmütige Trance der eigentliche Untergang. Sich selbst beim Abschweifen zuschauen: Kann das der Anfang politischen Denkens sein?

Scheffners Kino dreht von jeher den Projektionsapparat Kino um, richtet die Aufmerksamkeit auf die (sich selbst) Wahrnehmenden. Akribisch bis zum Äußersten forscht er nach den Umständen des Sehens, Hörens und Dokumentierens, nach den vergangenen ebenso wie nach den augenblicklichen. In aller kompositorischen Strenge und Kühle des Zugriffs entfesselt er dabei Spukgestalten: Die geistern herum zwischen den Schichten der Zeit, als stille Speicher von Geschichten über Gewalt, die Menschen mal hierhin, mal dorthin verschlägt.

Das gilt auch für Scheffners zweiten, auf ganz andere Art glanzvollen Beitrag im diesjährigen Berlinale-Forum: Für „And-Ek Ghes“ drückte er seiner Hauptfigur, dem ebenso muskelbepackten wie zart musischen Familienvater Colorado Velcu, die Kamera in die Hand und überließ ihm als Co-Regisseur die Souveränität über dessen Umzugsgeschichte von Rumänien nach Berlin: ein lebenspraller, bollywoodtaumeliger, melancholischer Dokumentarfilm übers Migranten-Dasein, der nichts, aber auch gar nichts mit den Mitleidsverrührungen vieler TV-Reportagen gemein hat.

„Havarie“ dagegen markiert fast so etwas wie Scheffners/Krögers Schwarzes Quadrat. Auf den Spuren jener, die es durch die Zeiten und Orte verschlägt, bewegten sich die beiden bereits 2007 mit „The Halfmoon Files“, einer beinah ins Magische ausgreifenden Reise auf den Spuren von Kolonialsoldaten, die in einem Lager nahe Berlin während des Ersten Weltkriegs ein paar Sätze in einen Phonographentrichter gesprochen hatten. In „Der Tag des Spatzen“ (2010) ging ornithologisches Beobachten in Kasernennähe mit dem Anhören von Soldatengeschichten aus Afghanistan einher. Und „Revision“ (2012) rollte den ungeklärten „Jagdunfall“ um zwei erschossene Rumänen aus dem Jahr 1992 an der deutsch-polnischen Grenze auf. Virtuos gebaute, ungeschwätzige Kino-Archäologien.

Doch nichts davon ist so pur und so extrem wie „Havarie“: Dieses schneidend fiese Kunstwerk entfaltet mehr politische Dringlichkeit als jede verfilmte Meinungsäußerung zur „Flüchtlingskrise“, die vielleicht längst eine Krise der Wahrnehmung ist. Während die letzten Einzelbilder über die Leinwand tickern, taucht noch so ein blöder Gedanke auf: Hinschauen, das kann ja jeder, so als Bürger, der gelobt wird, wenn er „nicht wegsieht“, aber was nutzt es, wenn in den eigenen Sinnen etwas untergegangen ist, wenn das Boot plötzlich verschwindet? Ununterbrochen habe ich hingesehen, aber es ist nicht einmal klar, wann genau das passiert sein könnte.

(erschienen am 12.02.2016 in der „Welt“)

https://www.welt.de/kultur/kino/article152183604/Das-sinkende-Floss-trifft-auf-ein-Kreuzfahrtschiff.html

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Cosima Lutz

Ich schreibe besonders gerne über Grenzbereiche des Kinos zu seinen immer mit eingeschriebenen Nachbar-Künsten: Kino und bildende Kunst, Kino und Literatur, Kino und Musik, Kino und Theater. Unaufgeregte Neuland-Erkundungen oder krachende Konstruiertheiten, egal ob im Dokumentarischen oder im Fiktionalen, ob sie nun dem ästhetischen Experiment oder dem allzu Gefälligen verpflichtet sind: Sie aufzuschließen und durch sie auch unsere Gegenwart lesbarer zu machen, darin sehe ich meine Aufgabe und mein Vergnügen.

Ich studierte Theater-, Medien- und Filmwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Politikwissenschaft in Erlangen und Wien, daneben arbeitete ich unter anderem für das NDR-Kulturjournal (Hamburg). 2001 bis 2002 absolvierte ich die Journalistenschule Axel Springer und volontierte bei der „Welt“ (Berlin).

2007 promovierte ich über „Aufess-Systeme: Jean Pauls Poetik des Verzehrs“ (Königshausen & Neumann, Würzburg 2007), danach war ich freie Redakteurin unter anderem bei „Vanity Fair“, „GQ“ und bei den „Prenzlauer Berg Nachrichten“. Über Film, Literatur und Kunst schreibe ich bis heute unter anderem für „Berliner Morgenpost“ und „Welt“.

Jurymitgliedschaften: Rosenthal-Nachwuchspreis für Schauspiel (Luisenburg-Festspiele Wunsiedel, 2005), Kurzfilmpreis der deutschen Filmkritik (2010), Preis der deutschen Filmkritik (2013, 2019).

Nach zwei Nominierungen 2016 und 2017 wurde ich 2018 mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik ausgezeichnet.