Interviewfeature: Maria Schrader und Anna Winger zur Miniserie „Unorthodox“

der FREITAG, Ausgabe 13/2020, von Thomas Abeltshauser

Weg vom Ufer

Serie „Unorthodox“ erzählt von einer jungen Jüdin aus den USA, die in Berlin ihre Utopie leben will

Ein sommerlicher Nachmittag am Strandbad Wannsee. Pärchen und Cliquen liegen dösend oder plaudernd auf Tüchern in der Sonne, Kinder spielen im Sand, als plötzlich eine junge Frau mit knöchellangem Rock, langärmeligem Oberteil und ausdrucksloser Miene gleichsam abwesend langsam ins Wasser schreitet. Immer weiter entfernt sie sich vom Ufer, das Wasser steht ihr bereits bis zu den Hüften, niemand beachtet sie, als sie langsam ihre Perücke vom Kopf zieht. Kurz geschorene Haare kommen darunter hervor, sie streift sich kurz drüber. Die Perücke fällt in den See und schwimmt auf der Oberfläche, während die junge Frau nun komplett in den Fluten verschwindet. Es ist das Ende von Esty. Zumindest ihres alten Lebens

Zugleich ist es ihre Wiedergeburt. Kurz darauf taucht sie wieder auf, lässt sich wie befreit auf dem Rücken im Wasser treiben. Esther Shapiro (Shira Haas), die junge Jüdin aus der ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn, ist nach Berlin geflohen, um alles hinter sich zu lassen, ihr religiöses Umfeld mit der rigiden Moral und den strengen Regeln und ihre arrangierte, unglückliche Ehe, um sich in Berlin selbst zu finden und ein selbstbestimmteres Leben zu führen.

Schon in dieser frühen Szene der Netflix-Miniserie Unorthodox ist angedeutet, dass dies nicht einfach werden wird, weil so viel mitschwingt an Geschichte, Gesellschaft und Gegenwart. Ausgerechnet hier am Wannsee, wo in einer Villa an der anderen Uferseite im Januar 1942 das nationalsozialistische Regime die Deportation und systematische Vernichtung der Juden organisierte. Wo Jahre später die innerdeutsche Grenze mitten durch den See verlief und flüchtende DDR-Dissidenten erschossen wurden. Wo heute, kurz bevor sie ins Wasser geht, Esty neben einem breitschultrigen Mann steht, auf dessen Rücken in Frakturschrift groß „Deutschland“ tätowiert ist. Und trotzdem hat sich die 19-Jährige gerade diese Stadt als Fluchtpunkt ausgesucht. Als Sehnsuchtsort, wie für so viele, in den letzten Jahren auch für junge Israelis und amerikanische Juden.

Bruch mit der Herkunft

Der Mehrteiler basiert auf dem 2012 erschienenen, autobiografischen Roman von Deborah Feldman, die in einer ultraorthodoxen Gemeinde von Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn aufgewachsen ist, dort früh verheiratet wurde und ein Kind bekam, bevor sie schließlich mit ihrer Herkunft brach und nach Berlin floh, wo sie seitdem als Schriftstellerin lebt. Adaptiert hat die Serie Anna Winger, ebenfalls jüdische US-Amerikanerin, die 2002 nach Deutschland ausgewandert ist und Berlin zu ihrer Wahlheimat erklärt hat, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann Jörg Winger die Serie Deutschland 83 entwickelte, die international für Furore sorgte.

Anna Winger hatte bereits an einer anderen Idee über eine jüdische Familie im heutigen Berlin gearbeitet, wie sie im Interview erzählt, und mit der Dokumentarfilmemacherin Alexa Karolinski viel darüber gesprochen, „was es für uns bedeutet, als Juden in Deutschland zu leben, über den Einfluss der Geschichte und die damit verbundenen Traumata“. Mit Deborah Feldman wiederum ist sie befreundet, weil ihre Kinder in dieselbe Schule gehen. „Auch wir redeten über alle möglichen Themen und natürlich auch darüber, wie es ist, als amerikanische jüdische Frauen in Berlin zu leben“, sagt Winger. Als Feldman ihr das Buch zur Adaption anbot, war ihr und Co-Autorin Alexa Karolinski schnell klar, dass die Geschichte am besten auf zwei Zeitebenen zu erzählen wäre. „Die Flashbacks über ihr Leben in der orthodoxen Gemeinde in Brooklyn sind aus dem Buch und die Gegenwart ab dem Zeitpunkt, als sie ihren Mann verlässt und ihr neues Leben beginnt, sind fiktional“, erklärt Winger. „Ich bin es gewohnt, Geschichten komplett neu zu entwickeln und Deborah gab Alexa und mir da enorme kreative Freiheit.“ Es sollte eben kein Biopic über Feldman werden, sondern „die Selbstfindung einer jungen Frau erzählen und den Fokus auf ihr neues Leben legen“. Anders als die Autorin Feldman, die mit ihrem kleinen Kind nach Berlin kam, ist Esther im Film Musikerin und schwanger, aber noch keine Mutter. „Eine Schriftstellerin allein an ihrem Computer schien uns rein filmisch weniger attraktiv“, erklärt Winger die Entscheidung, „so wird es dynamischer und unterscheidet sich zugleich stärker von der realen Deborah.“

Für die Regie fiel die Wahl schon früh auf Maria Schrader, die Winger bereits bei der Serie Deutschland 83 und den Fortsetzungen Deutschland 86/89 als Hauptdarstellerin besetzt hatte. „Ich gab ihr das Buch zu lesen, weil ich ihren Stefan-Zweig-Film Vor der Morgenröte so liebte“, erinnert sich Winger, „und wir heuerten dann bald auch einen Großteil des Morgenröte-Teams an, allen voran Kameramann Wolfgang Thaler und Szenenbildnerin Silke Fischer. Sie prägen den Look des Mehrteilers.“

Für Maria Schrader war „sofort klar, dass ich das machen will. Es ist ein sensibles Thema, weil Deborahs Geschichte in einer streng orthodoxen Gemeinschaft spielt, die mit dem Medium Film auf keinen Fall in Berührung kommen will und sich vom Rest der Welt abschottet. Aber Deborah hat ihre Stimme erhoben und ein Buch veröffentlicht, das virulente Themen behandelt und ein Weltbestseller geworden ist. Es war klar, dass wir in der Community, aus der sie geflohen ist, auf Ablehnung und Widerstand stoßen könnten, alleine das unterscheidet Unorthodox von den meisten anderen Projekten. Aber es kommt immer auf die gleiche Frage an: Wie macht man es? Wie nähert man sich?“

Neben der Buchvorlage waren die Recherchen vor Ort in Williamsburg entscheidend, um diese den meisten Außenstehenden fremde Welt authentisch darzustellen. „Natürlich sind wir auf den Straßen des orthodoxen Viertels sofort aufgefallen als eine Gruppe von Leuten, die da offenkundig nicht hingehört“, erinnert sich Schrader. „Wir haben viele Tage in diesen Gegenden verbracht, die traditionellen Geschäfte, Restaurants und koscheren Supermärkte besucht. Wir haben Eindrücke gesammelt und standen auch selbst unter Beobachtung, das war deutlich. Aber wie überall sind die Menschen unterschiedlich, manche begegneten uns verschlossen und skeptisch, mit anderen, vor allem Frauen, kamen wir erstaunlich leicht ins Gespräch. Wir wurden auch vom Zufall beschenkt und Alexa und ich konnten eine große Hochzeitsfeier miterleben.“

Ihr wichtigster Berater war dabei Eli Rosen, der in dieser Community lange gelebt hat und heute am New Yiddish Rep Theater in Manhattan arbeitet. Durch ihn traf Schrader „großartige Schauspieler, die entweder mit Jiddisch aufgewachsen waren oder sich die Sprache für die Bühne angeeignet hatten“. Rosen hat die Dialoge ins Jiddische übersetzt und mit den Schauspielern den richtigen Dialekt trainiert und schließlich selbst die Rolle des Rabbis übernommen. „Am Set war er immer an meiner Seite“, sagt Schrader, „zu jedem Thema konnten wir uns rückversichern oder fragen. Ist das Bett der Frau breiter, weil der Mann zu ihr kommt? Wo steht es? Wann schaut man seinem Gegenüber in die Augen? Wie begegnet man der Schwiegermutter? Für all das gibt es ja Vorschriften und Regeln, und wir wollten, dass es stimmt.“Getragen wird die Serie vor allem von der jungen Israelin Shira Haas, die Esty verkörpert. Ein Glücksgriff, wie Winger sagt: „Wir haben sehr, sehr lange gesucht, hatten Castings in London, Zürich, Deutschland und mit vielen Schauspielern in Israel. Als wir Shira fanden, waren wir uns sofort einig: Sie ist es!“ Maria Schrader nennt sie „ein Ausnahmetalent. Alleine die Szene, in der ihre eigenen langen Haare abrasiert werden, was sich da alles abwechselnd in ihrem Gesicht abspielt, das ist so groß und gleichzeitig nie zu viel, man kann nicht aufhören, ihr zuzusehen.“

Gedreht wurde die Serie schließlich größtenteils in Berlin, von den knapp 50 Drehtagen waren nur die letzten vier in New York, wie Maria Schrader erklärt. „Dort haben wir uns auf die Außenaufnahmen konzentriert, alles andere ist in Berlin entstanden.“ Auch die New Yorker Innenräume, die im Studio nachgebaut wurden. Der größere Erzählstrang spielt in Berlin, gezeigt durch den Blick der neu ankommenden Esty. Selbst Maria Schrader, die seit den 1980ern hier lebt, hat durch die Serie neue Seiten an der Stadt entdeckt. „Berlin ist ja wie ein gutes Buch, jeder liest was anderes darin. Die Stadt hat Tausend verschiedene Gesichter. Wir haben an Orten gedreht, an denen ich vorher noch nie war“, sagt sie. „Wir wollten Berlin als eine Stadt zeigen, die Raum für Utopien bietet, unhierarchisch, demokratisch, zugänglich.“ Das spiegelt sich in der Filmarchitektur wider, die weggeht von den üblichen Gründerzeitbauten und das Leichte, Schwebende der Moderne Mitte des 20. Jahrhunderts betont wie etwa das Kulturforum, dessen Musikinstrumenten-Museum als Konservatorium zentraler Handlungsort der Serie wurde.

Auch Winger sieht Berlin als Sehnsuchtsort und erblickt in Estys Entdeckungsreise gar etwas Märchenhaftes und Parallelen etwa zu Alice im Wunderland. Nirgendwo zeigt sich das im Laufe der Serie mehr als bei der Musikhochschule, an der sich Esty bewirbt. Dem echten Vorbild der von Daniel Barenboim gegründeten Barenboim-Said-Akademie nachempfunden, an der Stipendiaten aus dem gesamten Nahen Osten studieren können, musizieren auch in der Serie junge Israelis und Araber gemeinsam und spielen dabei nicht selten Stücke deutscher Komponisten wie Beethoven oder Schubert. Auch das ist Deutschland 2020. Nicht utopisch, sondern sehr real.

Diese Sicht hat nicht zuletzt mit Wingers Liebe zur Stadt zu tun, in der sie seit 2002 lebt. „Ich bin mit einem Deutschen verheiratet, meine Kinder sind hier geboren, ich habe Berlin zu meiner Heimat gemacht“, sagt sie und findet die Stadt „einzigartig, auch in ihrem Charakter, in ihrer Resilienz und eigenartigen Mischung aus Grantigkeit und Offenheit. Ein sehr entspanntes Gefühl von Freiheit, das Gegenteil von New York, woher ich komme.“ Auch Berlins Geschichte fasziniert sie, das ist der Serie anzusehen, in der die Vergangenheit immer mitschwingt, auch wenn sie vom Leben und Alltag heute erzählt.

Unorthodox startet nun gleichzeitig in weit mehr als Hundert Ländern. Die Macherinnen gehen mit den Erwartungen unterschiedlich um. Winger gibt zu, sich darüber kaum Gedanken gemacht zu haben. „Man muss an das glauben, was man tut, sich mit Leidenschaft hineinstürzen. Wenn ich schon vorher überlegen würde, wie es ankommt, könnte ich es nicht machen.“ Für sie ist es „mit Abstand das jüdischste Projekt, an dem ich bisher gearbeitet habe. In den USA ist es sehr viel normaler, aber hier in Deutschland ist es noch immer die absolute Ausnahme, wenn man eine Geschichte aus der Binnenperspektive und nicht mit dem Blick von außen erzählt. Die ‚globale Nische‘ ist zusammengenommen größer, als man denkt!“

Für Schrader spielt die Geschichte zwar in einer Welt, die den meisten Zuschauern fremd ist, „aber was sie erzählt, ist universell verständlich. Die Erwartungen, die an Frauen gestellt werden, dass sie Ehefrau und Mutter werden müssen, die Konflikte, die daraus entstehen, die Verzweiflung und Abhängigkeit existieren nicht nur in der jüdisch-orthodoxen Community, sondern an vielen, sehr unterschiedlichen Orten auf der Welt.“ Sie hofft, dass „die unterschiedlichsten Menschen mit Interesse zuschauen. Vielleicht schöpfen einige den Mut, ihr Leben zu überdenken.“

Thomas Abeltshauser

freier Journalist, Filmkritiker und Kurator in Berlin, veröffentlicht in zahlreichen Tageszeitungen und Magazinen Kritiken und Interviews zu aktuellen Kinostarts und berichtet von internationalen Filmfestivals. Mitarbeit bei European Film Awards, Jüdisches Filmfestivals Berlin Brandenburg. Magister in Filmwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Mitglied im Verband der deutschen Filmkritik, Fipresci und Galeca.

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