Die schöne Frau, die schöne Dinge tat

Jeanne Moreau verkörperte das Autorenkino wie keine andere. Berühmt wurde sie durch Filme wie „Fahrstuhl zum Schafott“ oder „Jules und Jim“. Die Jahrhundertschauspielerin ist nun mit 89 gestorben.

Von Cosima Lutz

Fast hätten sie ihr Kind, das am 23. Januar 1928 geboren wurde und leider kein Junge war, Pierrette genannt. Doch die Eltern hatten es mit einer sehr resoluten Pariser Standesbeamtin zu tun. Pierrette! Das sei ja wohl kein geeigneter Mädchenname. Marie oder Jeanne, das schon eher. Anatole Désiré Moreau, Gastronom aus Südfrankreich, und die englische Revuetänzerin Kathleen Buckley gaben nach, „glücklicherweise“, wie ihre berühmte Tochter später sagen wird. „Und so wurde ich Jeanne. Jeanne Moreau. Voilà“. Als gäbe es nichts Einfacheres, als eben jene Ikone geworden zu sein, der man schon bald mit Artikelüberschrift-Ringkämpfen wie „Die asymmetrische Frau“, „Terroristin der Liebe“, „Seelenschwester Don Quixotes“ oder „Ein offenes Buch mit sieben Siegeln“ beizukommen versuchte!

Jeanne Moreaus Gesichtszüge konnten vielleicht deshalb eine so beunruhigende Wirkung entfalten, weil sie einfach immer Recht hatten. Jedenfalls in dem, was man an Widersprüchlichem in sie hineinzulegen pflegte. Ihr leicht schiefer Mund, dessen nach unten verlaufende Winkel und vorspringende Oberlippe als schmollend zu bezeichnen eine unstatthafte Verniedlichung wäre, die Schatten unter ihren Augen, diese abgeklärte, nie bloß laszive Müdigkeit: Fast unheimlich perfekt passt dieses Gesicht ins 20. und ins 21. Jahrhundert, in eine Zeit, die besonders in Geschlechterfragen vor allem eines war und ist: anstrengend. In ihren Rollen lächelt Moreau stets eine wohldosierte Sekunde zu kurz, als dass man auf allgemeine Heiterkeit würde hoffen dürfen.

Auf den frühen Porträts aus den Fünfziger Jahren sieht man das alles freilich noch nicht. Die Regisseure betreiben einen beachtlichen Aufwand, um mehr Lieblichkeit und Ordnung in dieses herausfordernd unaufgeräumte Gesicht zu malen und zu leuchten. Am Theater, wo sie begann (und sie hatte in ihren Anfängen als Schauspielerin dank eines väterlichen Kino-Verbots keine Ahnung vom Film), erwies sich die zielstrebige junge Frau noch als einigermaßen retuschierbar. Bei den großen Produktionsfirmen von Pathé bis Gaumont teilte man ihr dann aber mit, dass sie für eine Kinokarriere nicht fotogen genug sei. Schluss mit der verhassten Schminkerei war erst bei Louis Malle. Er, sagte sie später, „hat mich gewaschen“. Und so wurde sie in Artikeln die „Leinwandgöttin ohne Lippenstift“.

Malle, Mitte der Fünfziger Jahre noch ein unbekannter Dokumentarfilmer, hatte Moreau in Peter Brooks’ Inszenierung der „Katze auf dem heißen Blechdach“ von Tennessee Williams gesehen. Als er sie fragte, ob sie eine Rolle in seinem ersten Spielfilm übernehmen würde, sagt sie zu, obwohl ihr Agent ihr dringend davon abriet. Schon damals war sie mehr als nur die zu entdeckende oder entdeckte Muse; immer auch umgekehrt Entdeckerin, ja Mit-Autorin, die bei der Auswahl der Stoffe und auch der Regisseure bald ein gewichtiges Wort mitzureden hatte.

Für Moreau wie auch für Malle brachte die Begegnung die entscheidende Wende: Der „Fahrstuhl zum Schafott“ (Originaltitel „Ascenseur pour l’Échafaud“) kam 1958 in die französischen Kinos, Jeanne Moreau war da bereits fast dreißig. Der Film mit dem berühmten driftenden Nachtspaziergang samt Miles-Davis-Soundtrack wurde ein so durchschlagender Erfolg, dass er die zwanzig vorherigen Leinwandauftritte „fast vergessen“ machte, wie der Filmpublizist Klaus Hoeppner schreibt. Unter den fast Vergessenen waren da immerhin bereits Rollen neben Stars wie Jean Gabin und Lino Ventura, etwa die Cabaret-Tänzerin Josy in „Wenn es Nacht wird in Paris“ („Touchez pas au Grisbi“) von Jacques Becker.

Schon früh verschafft sie sich das Image, keine Getriebene zu sein, die nur darauf warten würde, nach der Idee Anderer zum Idol gemodelt zu werden: „Ich unterwerfe mich gern, aber ich suche mir aus, bei wem“. Und so wurde das unbehagliche, aber irritierend schön anzusehende Kenntlichmachen einer an sozialen Asymmetrien kränkelnden Gesellschaft ihre Spezialität: Anlässlich ihrer Darstellung in dem Skandal-Film „Die Liebenden“ (1958), ebenfalls von Louis Malle, prophezeite der Kritiker Friedrich Luft in der „Welt“: „Sie hat, auch wenn ihr Heikelstes aufgetragen wird, eine heimliche, keusche Intensität des Herzens, die noch das Schwierigste vertretbar, das Heimlichste zeigbar macht“. Sie leiste „ein Stück erfüllter Schauspielerei, dessen man gedenken wird“. Unsterblichkeit erlangte sie natürlich auch in Malles burleskem Revolutions-Schwank „Viva Maria“ an der Seite Brigitte Bardots – übrigens der Lieblingsfilm Rudi Dutschkes.

Dem ihr oft angehängten Titel einer „Femme Fatale“ konnte Moreau indes nie etwas abgewinnen. Man(n) wusste die selbstbestimmte Erotik, die sie ausstrahlte, dadurch umso weniger zu fassen: Ihr zweiter Ehemann, der amerikanische Regisseur William Friedkin, nannte sie einmal einen großen kalten Raum, in dem jeder Mann nur kurzzeitig ein Feuer entfachen könne. Vornehm gelassen verzichtete Moreau auf Schlammschlachten in der Klatschpresse. Aus ihrer ersten Ehe mit dem Schauspieler Jean-Louis Richard stammt ihr Sohn Jérôme, der Künstler wurde; lange Jahre war sie mit dem Designer Pierre Cardin liiert, zur großen Liebe aber wurde ihr der deutsche Schriftsteller Peter Handke.

Ihren künstlerischer Wagemut und ihre Freiheitsliebe erklärt sie auch aus ihrer Abscheu gegen einen Satz, der ihr noch aus dem elterlichen Hotel nachhallte: „Der Kunde hat immer Recht“. Jenes Etablissement wurde hauptsächlich von Prostituierten und deren Freiern frequentiert. Zu gefallen um den Preis der Selbstaufgabe, das konnte ihre Sache nicht sein. Das ging so weit, dass sie in den Siebzigerjahren die Rolle der Helena ausschlug, die ihr Klaus Michael Grüber in seiner „Faust“-Inszenierung anbot. Sinnvoll wäre einzig der Mephisto, fand sie.

1982 engagierte sie Rainer Fassbinder für seinen, wie man heute sagen würde, queeren Film „Querelle – Ein Pakt mit dem Teufel“ nach einer Romanvorlage von Jean Genet, sie trat darin als stolze, melancholisch abgewirtschaftete Bordellchefin auf. Fassbinders einzige Regieanweisung an die Bewunderte war eine Liebeserklärung: „Just be great“, seien Sie einfach großartig. Für sie wurde es eine der beflügelndsten Arbeiten überhaupt.

„Wenn ich spiele“, begründet sie einmal ihr scheinbar unberechenbares Zusagen, Ablehnen und Vorschlagen, „dann nicht, um einen Schritt in meiner Karriere voranzukommen, sondern um einen Schritt mehr ins Leben zu setzen.“ So wurde sie Geburtshelferin und Schutzheilige der gesamten Riege des europäischen Autorenkinos: Buñuel, Godard, Angelopoulos, Truffaut, Antonioni, Welles, später auch Wenders. Im Alter stand sie etwa für François Ozon („Le temps qui reste“, auf deutsch: „Die Zeit, die bleibt“, 2006) und Amos Gitai („Lullaby to My Father“, 2012) vor der Kamera. Bei ihrer sprühend herben Präsenz brauchte es noch nicht einmal eine Hauptrolle, um einem Film Klassizität zu geben. Bis heute wird man mit ihr nie ganz fertig, weil sie das wesentliche Kino-Credo jener Zeit – „schöne Frauen schöne Dinge tun lassen“ – zugleich bestätigt und aufbricht.

Der einzige, der sie dazu ermutigte, selbst Regie zu führen (was sie dann auch tat: „Lumière“, 1976, und „L’Adolescente“ 1979), war Orson Welles, einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Truffaut hingegen hatte Angst, sie würde ihre „Weiblichkeit“ einbüßen, sobald sie einen Dreh organisieren und Schauspieler führen müsste. Durch sie habe Truffaut eine Menge über Frauen gelernt, stellte Moreau mit ihrem ausgeprägten Sinn für Asymmetrien fest, „und ich lernte durch ihn eine Menge über Film“.

Einer anderen Jahrhundertfrau schuf Moreau mit ihrer legendären Verkörperung der Catherine in Truffauts „Jules et Jim“ ein Denkmal: dem breitschultrigen Wirbelwind Helen Hessel (1886-1982), Frau des Schriftstellers Franz Hessel und Mutter des späteren Widerstandskämpfers Stéphane. Als Hessel, die „echte“ Catherine, den Film sah, fühlte sie sich von ihrem burschikos schönen Leinwand-Double geschmeichelt und bestätigt: „Dort bin ich gestorben und noch lebe ich!“ Offenbar trafen sich hier zwei Temperamente: in einer unbedingten, die Zeitläufte umarmenden Lebenslust. Nicht zufällig trägt das letzte Chanson auf Moreaus Album „Jeanne cante Jeanne“ (1970) den trotzigen Titel „Le Vrai Scandale C’est la Mort“.

Später wollte Jeanne Moreau gerne den Lear spielen, „wie Laurence Olivier, mit achtzig“: In diesem Alter, verkündete sie, sei es „nicht einmal mehr wichtig, ob man ein Mann oder eine Frau ist“. Rückblickend über sich selbst in jungen Jahren sagte sie, sie möge zwar diese „andere“ Frau, sie liebe sie, wie man ein Kind liebe. Aber sie ziehe die heutige Jeanne Moreau der damaligen vor.

Nicht zuletzt gab es auch die politische Moreau, wenngleich sie diesen Begriff nicht mochte: „Ich kann mich nicht für Politik interessieren. Ich kann nicht“. Dass sie etwa das Manifest für die Freigabe der Abtreibung unterzeichnete, habe sie getan, nicht weil es um Politik gegangen sei, „sondern um Leben.“ Als Symbolfigur des europäischen Autorenkinos und als Europäerin von Geburt, die England liebte, „wie man seine Mutter liebt, mit Zärtlichkeit, Hochachtung und einer gewissen Gereiztheit“, fand sie bis zuletzt Anlässe, energisch auf die ermüdende Tristesse im menschlichen Miteinander hinzuweisen: Für Pussy Riot trat sie ebenso entschlossen ein wie gegen die rassistischen Angriffe auf die französische Justizministerin Christiane Taubira im Jahr 2013.

Als 1995 die alte Dame ihrer jungen Kollegin Vanessa Paradis die Hand küsste, nachdem diese mit ihr im Duett das berühmte Liedchen „Le Tourbillon“ („Wirbelwind“) aus „Jules et Jim“ gesungen hatte, da konnte man ahnen, dass in Moreaus schönem Blick auf die schöne Frau vielleicht schon immer mehr lag als nur Solidarität. Es war die tiefe, neidlose Bewunderung einer besänftigten Narzisstin. Nun ist Jeanne Moreau, missmutige Königin, schöne Komplizin und alter Kumpel der ewig jungen Nouvelle Vague, im Alter von 89 Jahren in Paris gestorben.

(erschienen am 31.07./01.08. in der „Welt“)

https://www.welt.de/kultur/kino/article167202132/Die-schoene-Frau-die-schoene-Dinge-tat.html

Cosima Lutz

Ich schreibe besonders gerne über Grenzbereiche des Kinos zu seinen immer mit eingeschriebenen Nachbar-Künsten: Kino und bildende Kunst, Kino und Literatur, Kino und Musik, Kino und Theater. Unaufgeregte Neuland-Erkundungen oder krachende Konstruiertheiten, egal ob im Dokumentarischen oder im Fiktionalen, ob sie nun dem ästhetischen Experiment oder dem allzu Gefälligen verpflichtet sind: Sie aufzuschließen und durch sie auch unsere Gegenwart lesbarer zu machen, darin sehe ich meine Aufgabe und mein Vergnügen.

Ich studierte Theater-, Medien- und Filmwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Politikwissenschaft in Erlangen und Wien, daneben arbeitete ich unter anderem für das NDR-Kulturjournal (Hamburg). 2001 bis 2002 absolvierte ich die Journalistenschule Axel Springer und volontierte bei der „Welt“ (Berlin).

2007 promovierte ich über „Aufess-Systeme: Jean Pauls Poetik des Verzehrs“ (Königshausen & Neumann, Würzburg 2007), danach war ich freie Redakteurin unter anderem bei „Vanity Fair“, „GQ“ und bei den „Prenzlauer Berg Nachrichten“. Über Film, Literatur und Kunst schreibe ich bis heute unter anderem für „Berliner Morgenpost“ und „Welt“.

Jurymitgliedschaften: Rosenthal-Nachwuchspreis für Schauspiel (Luisenburg-Festspiele Wunsiedel, 2005), Kurzfilmpreis der deutschen Filmkritik (2010), Preis der deutschen Filmkritik (2013, 2019).

Nach zwei Nominierungen 2016 und 2017 wurde ich 2018 mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik ausgezeichnet.