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Der Korridor einer Wohnung. Menschenleer. Zu hören ist eine Glockenspielmusik, die ihre simple Melodie ständig Wiederholt. Die Familie Mamiya ist gerade dabei zu frühstücken: der alte Shukichi, seine Frau, seine Tochter Noriko, sein Sohn und dessen Frau, sowie deren Kinder. Reges Treiben. Nacheinander brechen sie auf, zur Arbeit oder zur Schule. Noriko bindet sich die Schürze ab und geht in die Küche – wie an jedem anderen Morgen auch – und verläßt dann ebenfalls das Haus. Aktionen in halbbewußtem Zustand des Alltags. Jeden Morgen dieselbe Routine und – vermutlich dieselbe Glockenspielmusik, die nicht aufhört, ihre alberne kleine Melodie zu wiederholen.
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Die letzte Szene im Hause der Mamiya: Wieder die gleiche Einstellung des menschenleeren Korridors. Dann ist wieder die kleine, nur allzu vertraute Glockenspielmusik zu hören. Es ist später Abend. Die Familie versammelt sich ein letztes Mal zum gemeinsamen Abendessen. Noriko wird mit ihrem Mann fortziehen, ihr Bruder Koichi hat sich in ein weit entferntes Krankenhaus versetzen lassen. Die beiden Alten werden zum Großonkel aufs Land ziehen. Einstellungen, die denen der Eröffnungsszene ähneln. Die Spieluhr klingt harmlos und anheimelnd wie immer, wie jeden Morgen oder jeden Abend, wenn sich die Familie zusammenfindet. Wieder geht Noriko in die Küche. Aber diesmal räumt sie kein Geschirr fort, serviert keinem etwas zu essen und bindet sich auch nicht die Schürze ab. Sie geht in ihr Zimmer und weint. Das plötzlich aufkommende Bewußtsein, daß etwas Vertrautes, immer wiederkehrend Alltägliches unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Nichts wird mehr so sein wie es bisher war.
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Zwei Szenen wie zwei mögliche Stationen auf einer Strecke. Zwei Blöcke in diesem Film, ein Angebot zur Konstruktion von Sinn. Eine nicht mehr vollzogene alltägliche Geste am Ende ist wie eine Ahnung der Präzision Ozus, die mit Einfachheit allein unzureichend umschrieben wäre.
Dazwischen, scheinbar beiläufige Episoden und Anekdoten, deren zärtlich-ironische Aufmerksamkeit den globalen Zusammenhang der einzelnen Szenen und die Verknüpfung des ganzen Films verschleiern, wie in jenen Fotoalben, in denen unzählige, mit den Bildern verknüpfte Geschichten ihre seltsam ungreifbare Einzigartigkeit behalten, bei allem Eifer einer ordnenden Chronologie. Ein Handlungsstrang wie ein sich in alle Himmelsrichtungen verzweigendes dichtes Schienennetz. Kleine Filme in einem großen, die miteinander verknüpft sind, wie selbstständig arbeitende Organe in einem Körper. Ozus Filme in Inhaltsgaben zusammenzufassen, war immer schwierig. In „Bakushu“ ist es unmöglich. Dieser Film erzählt keine Geschichte, oder was auf das gleiche herauskommt, er bietet Variationen von vielen möglichen.
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Koichi im Zug, der ihn zu seinem Arbeitsplatz bringt. Mit seinem Sitznachbarn teilt er sich eine Zeitung. Sie wechseln dabei kein Wort. Vermutlich findet dieses Ritual jeden Morgen statt. Noriko auf dem Bahnsteig wartend. Ein Nachbar, mit dem sie ein paar freundliche Worte wechselt. Dann scheinbar unmotiviert, eine Musik, die sanft anschwillt. Der harte Rhythmus der Montage bekommt für einen Moment etwas Schwebendes, Gleitendes. Der vermeintlich unscheinbare Augenblick bekommt etwas Feierliches. Dann verflüchtigt sich die Musik scheinbar ebenso unvermittelt. Auch diese Momente, wie sie jeden Tag stattfinden, wiederholen sich nicht bis in die Unendlichkeit.
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Der Großonkel vom Lande ist zu Besuch gekommen. Man sieht, wie die beiden Kinder den vermeintlich tauben Alten necken, und er sich dabei noch mehr amüsiert als die Kinder. Bei einer Kabuki- Vorführung sitzt er, die eine Hand als Trichter hinter dem Ohr geformt. Sein altes verwittertes Gesicht folgt angestrengt und aufmerksam der Darbietung. Er, Ozu oder vielleicht auch ich machen keinen Versuch, ihn als wichtigen Handlungsträger zu legitimieren. Wichtig ist nur, daß er da ist. Seine Präsenz und das Empfinden dafür als lustvolle Erfahrung.
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Einer der vielen kleinen Filme, aus denen dieser eine besteht und der an Ozus Stummfilm Umarate wa mita keredo erinnert: Die beiden Kinder, Isamu und Minoru, wünschen sich von ihrem Vater nichts sehnlicher als eine Modell-eisenbahn. Als der Vater eines Abends mit einem Paket nach Hause kommt, identifizieren es die Kinder voreilig als die ersehnte Eisenbahn. Als sie aber erregt das Paket auspacken, finden sie nur ein Brot, das sie wütend auf den Boden werfen. Dafür werden sie von ihrem Vater geschlagen und reißen danach empört aus. Sie gehen eine Straße entlang, bei der keiner weiß, wo sie hinführt. Vielleicht ist sie der Pfad, der sie für eine Zeit aus dem Zentrum des Films herausführen wird, und den alle Personen ständig betreten und wieder verlassen. Eine dieser kleinen Szenen, die sich für eine Weile in den Vordergrund rücken, um sich in der folgenden Episode wieder aufzulösen, wie die Musik, die sich wie ein feiner Dunst über die Alltagsgeräusche senkt, um sich dort unmerklich aufzulösen. Vielleicht gibt es ein Bild für die Faszination dieses Films. Jemand betrachtet ein Foto einer toten, geliebten Person und erinnert sich. Die Präsenz der Menschen und der Dinge, die nach dem nächsten Schnitt bereits Erinnerungen sind. Es ist schon vorbei, ein rhythmisch wiederkehrendes Motiv in Bakushu.
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Im Radio, so erzählt eine Nachbarin der Mamiyas, hätte man von der Heimkehr verschollen geglaubter Soldaten berichtet. Sofort erwähnt die alte Mutter ihren Sohn Shoji, dessen wahrscheinlicher Tod immer noch nicht bestätigt ist. Dabei fällt ihr der Ehemann ins Wort, um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Eine Einstellung auf das Gesicht der alten Shige, dessen Ausdruck man vage als geistige Abwesenheit, beschreiben würde. Dann der Sommerhimmel, in dem Windbojen flattern. Was bleibt, ist die Ahnung einer ergreifenden undefinierbaren Sehnsucht. Das Auslassen einer sichtbaren emotionalen Reaktion , die man im Imaginären umso stärker wird spüren können.
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Noriko mit Freunden bei einem nächtlichen Kuchenessen. Eines der Kinder kommt plötzlich schlaftrunken ins Zimmer. Schnell wird der Kuchen unter dem Tisch versteckt, den der Kleine auch mißtrauisch mustert. Das Kind bleibt einen Augenblick stehen und verläßt dann ebenso überraschend den Raum. Dann der Korridor, in dem das Kind auf eine bestimmte Tür zugeht. Es hatte schließlich nur auf die Toilette gehen wollen. Ein kleiner, komisch dramatischer Moment, der wie zufällig erscheint, ohne dramaturgische „Funktion“, aber in sich von einer Haltung zeugt, von der lustvollen Aufmerksamkeit, die dem Nebensächlichen gilt.
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Die Kamera, die durch ein menschenleeres Kabuki-Theater fährt, ein Ballon, der im Sommerhimmel schwebt, der Großvater, der seinem Enkel die Zehennägel schneidet. Das Kind, das mit der Hand das Kinn eines Greises berührt, zwei Freundinnen, die sich über die Ehe mokieren und dabei diverse japanische Dialekte imitieren. Ein Nachtfalter der um eine Lampe schwirrt.
Der Film, der sich im Gedächtnis zu Einzelmomenten abbaut, so wie komplexe Eiweißketten bei der Verdauung wieder zu Aminosäuren zerlegt werden, um dann erneut vom Körper zu Proteinen aufgebaut zu werden. Die Montage beim Sehen, die etwas von der Lust eines Kindes beim Variieren von Bauklötzchen hat. Die Faszination eines Gebäudes, in dem jeder Raum mit den anderen verbunden zu sein scheint und in dem es viele mögliche Verbindungen von einem Raum zum anderen gibt.
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Bei einem Spaziergang will der Großvater ein Bahngleis überqueren. Eine Schranke wird heruntergelassen. Er setzt sich auf einen Stein und seufzt leise. Ein Zug fährt vorbei. Bewegung und Innehalten. Die Bewegung des Zuges, geradeaus und unaufhaltsam, wie die Bewegung des Filmstreifens durch den Projektor. Dieser Augenblick erscheint mir wie das Sichtbarwerden von zwei wichtigen Elementen des Kinematographen: Die Aktion und das Betrachten ihrer Bewegung. Ein vorbeifahrender Zug hat etwas Ultimatives, Anfang und Ende. Das ist der Augenblick, in dem der Film ebenso flüchtig erscheint, wie die Menschen und die Dinge, die er präsentiert.
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Eine Meeresdüne, auf welche die Kamera zufährt. Dahinter der Strand, vor dem zwei Frauen mit dem Rücken zur Kamera stehen. Sie tragen fast die gleiche Kleidung und haben Frisuren nach westlicher Mode. In der nächsten Einstellung erkennt man Noriko und ihre Schwägerin Fumiko. Ein vertrauliches Gespräch vor dem Hintergrund der natürlichen Schönheit einer Meereslandschaft, die keine Bedeutung hervorruft, sondern einfach nur da ist. Zwei Frauen, deren Gesten Vertrautheit zeigen. Die eine wird bald heiraten und in eine unbestimmte Zukunft gehen. Die andere ist seit Jahren verheiratet und um ein paar Illusionen ärmer. Dann zieht Noriko die Schuhe aus und watet durch den feuchten Sand. Die Schwägerin zögert einen Moment, folgt dann dem Beispiel. Nebeneinander gehend, drehen sie der Kamera wieder den Rücken zu. Eine innige Vertrautheit zwischen den beiden Frauen teilt sich mit, die sich nicht erklärt, an der man nur teilhaben kann, wie ein Besucher beim Betrachten eines fremden Fotoalbums.
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Am letzten Tag vor der Hochzeit Norikos und vor der endgültigen Auflösung der Familie werden Fotos gemacht. Zuerst ein Gruppenfoto, dann ein Bild von dem alten Paar. Das ist alles, was von der Familie als Einheit bleiben wird. Die Geschichten dieser Familie werden zu sich verflüchtigenden, kaum noch global erfaßbaren Erinnerungen werden, wie sie einem ins Gedächtnis kommen, wenn man ein altes Fotoalbum aufschlägt. Der vergebliche Versuch des Bewahrens, der umso stärker das Verrinnen der (Film-) Zeit spürbar macht. Die Menschen, die versuchen, ihre eigene Geschichte festzuhalten. Der Film, der bereits beim Sehen beginnt, sich für die Weiterexistenz im Gedächtnis des Betrachters vorzubereiten.
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Am Ende sitzen die Großeltern bei dem greisen Großonkel in einem Landhaus. Draußen wird eine Bauernhochzeit gefeiert. Sie erinnern sich noch einmal an ihre Tochter Noriko, die inzwischen verheiratet ist. Dann schweigen sie, und die Titelmusik leitet zu einer Einstellung von einem reifen Weizenfeld über, an dem die Kamera in einer langsamen Fahrt vorbeigleitet. Bakushu , einer der schönsten Filme von Yasujiro Ozu, ist über 40 Jahre alt. Ein herzzerreißender Kontrast: Das Aufleuchten von Menschen, Dingen, Orten in diesen Bildern, das sie aus der Zeit nehmen, bewahren soll, bringt mit sich bereits die Spuren einer Auflösung als verfallende Substanz der Filmkopie. Manchmal erscheint der Film wie das intakte Gedächtnis in einem alternden Organismus, der irgendwann sterben muß.
Rüdiger Tomczak (shomingeki Nummer 3, November 1996)